Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.
Das kleine Dummerle und andere Erzählungen
(Agnes Sapper, 1904, empfohlenes Alter: 7 - 14 Jahre)
Bei der Patin
<p style="text-align: center;">I.</p>
<p>»Heinrich, schläfst du schon?« fragte leise eine Stimme.</p>
<p>»Nein, ich kann nicht einschlafen,« antwortete ebenso leise eine zweite. In dem Schlafzimmer, in das nur durch die Straßenlaterne ein schwacher Lichtschimmer fiel, standen zwei Betten. Aus jedem tauchte jetzt ein Knabenkopf auf. »Komm zu mir, aber leise,« sprach die erste Stimme wieder und sofort huschte eine kleine Gestalt durchs Zimmer und Heinrich schlupfte zu seinem Bruder Konrad ins Bett. Sonst schliefen die beiden, sie waren zwölf und dreizehn Jahre alt, wohl fest um diese Zeit; aber heute, wo man ihre Mutter begraben hatte, die Mutter, die ihnen alles gewesen war seit des Vaters Tod, heute ließ der Jammer sie nicht einschlafen. Und zum Jammer kamen auch noch die ersten Sorgen.</p>
<p>»Mir ist’s gar nicht recht, daß der Vormund uns zu Bett geschickt hat,« sagte Heinrich.</p>
<p>»Mir auch nicht, ich hätte so gern gehört, ob er mit der Tante und mit Fräulein Stahlhammer über unsere Zukunft spricht. Mir ist alles recht, wenn sie uns nur beisammen lassen,« sagte Konrad.</p>
<p>»Das müssen sie doch! Sie können uns doch nicht aus dem Haus vertreiben!«</p>
<p>»Ich glaube nicht, daß wir dableiben dürfen, wer soll denn die Haushaltung führen?«</p>
<p>»Ach, das kann doch die Rike; wir zwei sind fast immer in der Schule und das Klärchen macht nicht viele Mühe.« Klärchen war das einzige Schwesterchen, fünf Jahre alt.</p>
<p>»Ich glaube nicht, daß sie uns hier lassen. Sie werden sagen: es geht nicht,« meinte Konrad. »Ja,« sagte Heinrich ärgerlich, »immer heißt es gleich: es geht nicht, wenn einmal etwas anders ist als gewöhnlich. Wo meinst du denn, daß sie uns hintun wollen?«</p>
<p>»Zu irgend welchen Verwandten.«</p>
<p>»Da bleibe ich noch am liebsten hier, bei Onkel und Tante Kuhn.«</p>
<p>»Ich auch.«</p>
<p>»Ich wollte, der Onkel wäre unser Vormund, ihn habe ich tausendmal lieber als den Herrn Rat Stahlhammer als Vormund, warum haben wir doch den und nicht Onkel Kuhn?«</p>
<p>»Der Onkel war ja doch nicht hier, wie der Vater starb, und Herr Rat Stahlhammer war hier und war ein Freund des Vaters, darum hat ihn nach des Vaters Tod die Mutter gebeten, unser Vormund zu sein. Seine Schwester ist ja auch die Patin von Klärchen.«</p>
<p>»Die Patin ist gerade so steif und unheimlich groß wie der Herr Rat selbst; wie sie heute zur Beerdigung hereingekommen ist, hat sich Klärchen ordentlich vor ihr gefürchtet. Da ist doch die Tante ganz anders, die erinnert mich so an die Mutter!«</p>
<p>»Ja, bei ihr wäre gewiß auch Klärchen am liebsten.«</p>
<p>»Also, wenn über uns beschlossen wird, sagen wir: Am liebsten bleiben wir, wo wir sind, und wenn das nicht geht, möchten wir zu Onkel und Tante Kuhn hinaus in die Vorstadt; jedenfalls aber wollen wir drei beisammen bleiben.«</p>
<p>»Ja,« sagte Heinrich, »und das müssen sie uns erlauben.«</p>
<p>Es schlug zwölf Uhr.</p>
<p>»So spät schon,« sagte Konrad.</p>
<p>»Ich gehe,« sagte Heinrich; mit einem Satz war er wieder in seinem Bereich und nach kurzer Zeit wurde es still im Schlafzimmer, beide Brüder schliefen.</p>
<p>Während die Brüder im Schlafzimmer Beratung hielten, wurde ohne daß sie es wußten, in ihres verstorbenen Vaters Zimmer schon über ihr Schicksal entschieden. Drei Personen saßen da zur Beratung beisammen: der Vormund, Rat Stahlhammer; seine Schwester, Fräulein Stahlhammer, und Frau Professor Kuhn, die Schwester der eben verstorbenen Mutter. Diese hatte sich, auch im Namen ihres Mannes, bereit erklärt, die beiden Knaben zu sich zu nehmen und mit ihren eigenen Kindern und Kostgängern zu erziehen. Gerne hätte sie auch die kleine Schwester dazu genommen, doch war es neben der großen Knabenschar nicht möglich.</p>
<p>Der Vormund hatte mit verbindlichem Dank das Anerbieten für die zwei Knaben angenommen und die Überzeugung ausgesprochen, daß seine Schwester, Fräulein Stahlhammer, die in dem nahen Städtchen Waldeck ein Häuschen besaß und die Patin der Kleinen war, diese mit Vergnügen aufnehmen würde. Aber Fräulein Stahlhammer, eine große, stattliche Gestalt von ernstem Aussehen, erklärte zu des Bruders Erstaunen, daß sie seinen Wunsch nicht erfüllen könne. Das kam dem Vormund sehr unbequem. »Ich kann nicht begreifen,« sprach er zu seiner Schwester, »warum du dich weigerst, dein Patenkind zu dir zu nehmen. Du lebst ganz allein mit deinem Dienstmädchen, du kannst frei über deine Zeit verfügen, du hast Platz im Hause; Ausgaben würde das Kind dir nicht machen, denn seine Eltern haben ja genug hinterlassen ...«</p>
<p>»Ach wegen des Geldes wäre es mir ja nicht,« antwortete Fräulein Stahlhammer.</p>
<p>»Weswegen willst du das Kind dann nicht zu dir nehmen?« sagte Herr Stahlhammer etwas ungeduldig. »Jedermann kann es von dir erwarten.«</p>
<p>»Es ist ein herzig liebes Ding,« warf die Tante dazwischen.</p>
<p>»Bei allen möglichen Vereinen und wohltätigen Anstalten bist du, da tust du Gutes, und hier, wo du die Nächste dazu wärst, willst du nicht. Was ist der Grund?«</p>
<p>»Bruder, du weißt es doch. Ich habe schon einmal eine traurige Erfahrung gemacht mit zwei Waisenkindern, die ich bei mir hatte; ich habe genug darunter gelitten und will nicht noch einmal solch bittere Enttäuschung erleben.«</p>
<p>»Das ist nun viele Jahre her, inzwischen bist du erfahrener geworden und wirst die Sache geschickter anstellen als damals,« sagte der Rat. Aber seine Schwester wollte nicht nachgeben. »Nicht jedermann versteht es mit Kindern,« sagte sie, »ich habe sie lieb, aber sie schließen sich nicht an mich an.«</p>
<p>»Unsinn, darauf kommt’s nicht an; du hattest damals solch törichte Gedanken, daß du vor allem ihre Liebe gewinnen wolltest und dergleichen. Hättest du sie mit gehöriger Strenge von Anfang an behandelt, so wären sie nicht so nichtsnutzig geworden. Übrigens werde ich als Vormund meine Pflicht nicht versäumen. Ich werde so oft als möglich zu dir hinausfahren, nachsehen und der kleinen Person den Kopf zurechtsetzen, und es wäre doch lächerlich, wenn wir zwei Leute, die größten weit und breit, mit dem kleinen Ding nicht zurecht kämen. Und sage selbst, wer soll denn das Kind nehmen? Du kannst es doch mir, dem einsamen Junggesellen, nicht zumuten?«</p>
<p>Eine lange Pause entstand. Fräulein Stahlhammer schien wankend zu werden. »Wenn du sie mir auf Probe geben willst,« sagte sie endlich, »dann will ich mich dazu verstehen, sie auf ein halbes Jahr zu mir zu nehmen, für mehr verpflichte ich mich nicht.«</p>
<p>»Freilich, freilich, wenn du sie nur zunächst einmal nimmst, dann kann man ja später weiter sehen,« rief Herr Stahlhammer sichtlich erleichtert. Noch hatte er einen kleinen Kampf zu bestehen, denn die Schwester erklärte, daß sie am nächsten Morgen mit dem ersten Zug heimreisen müsse; nach einigen Tagen wollte sie wiederkommen, um das Kind abzuholen. Diesem Vorschlag stimmte auch die Tante der Kinder bei, aber der Vormund war der Meinung, daß das Kind gleich am nächsten Tag zu seiner Patin reisen sollte.</p>
<p>Schließlich fügte sich die Schwester auch in diesem Punkt und so wurde beschlossen, daß der Vormund am nächsten Morgen das Kind abholen und es ihr an die Bahn bringen sollte. Er gab selbst noch dem Dienstmädchen die nötigen Aufträge und dann verließen alle drei das Trauerhaus.</p>
<p>Herr Stahlhammer und seine Schwester, die heute sein Gast war, verabschiedeten sich von Frau Professor Kuhn. Diese sah den großen Gestalten, die sich ernst und schweigend miteinander entfernten, nach, und leise sprach sie vor sich hin: »Armes Klärchen, könnte ich dich doch bei uns aufnehmen!«</p>
<p>Der Vormund war sehr befriedigt von den Besprechungen des Abends, die Sorge für seine drei Mündel war ihm nun abgenommen. Und seine Schwester?</p>
<p>Während sie schweigend in nächtlicher Stunde neben dem Bruder durch die Straßen schritt, dachte sie zurück an eine bittere Stunde ihres Lebens, wo der Waisenhausvater gekommen war, ihre zwei Waisenkinder wieder abzuholen, weil sie auf schlimme Wege geraten waren, und sie hörte wieder die Worte, die er ihr gesagt: »Nicht jedermann versteht es mit Kindern!«</p>
<p style="text-align: center;">II.</p>
<p>»Wach’ auf, Klärchen, Herzchen, hörst du mich nicht? Wach’ auf, wach’ auf, ich sage dir etwas.«</p>
<p>Mit diesen Worten bemühte sich am nächsten Morgen in aller Frühe Rike, das Dienstmädchen, Klärchen zu wecken. Das Kind schlug endlich die Augen auf und sah erstaunt auf Rike, die neben ihrem Bett stand und ihr schon die Strümpfe herreichte. Klärchen ging noch nicht in die Schule und so hatte sie bisher ausschlafen dürfen, und es war für sie etwas ganz Ungewohntes, geweckt zu werden. Sie war noch recht kindlich für ihr Alter, ein herziges Mädchen, der Liebling von allen im Haus und selbst voll Liebe für alle, die sie umgaben. »Warum weckst du mich, Rike?« fragte die Kleine ganz neugierig.</p>
<p>»Steh’ nur geschwind auf, ich sag’ dir’s schon, Herzenskind. Aber wir müssen schnell machen,« und nun half Rike dem Kind, das bald ganz munter war, beim Waschen und Ankleiden.</p>
<p>»Aber jetzt sag’ mir doch, Rike, was es gibt?« fragte Klärchen.</p>
<p>»Gestern abend hat der Herr Vormund gesagt, ich soll dich wecken, du sollst mit seiner Schwester abreisen.«</p>
<p>»Mit meiner Patin?«</p>
<p>»Ja.«</p>
<p>»Warum denn?«</p>
<p>»Weil die Mama gestorben ist.«</p>
<p>»Wie lange soll ich bei der Patin bleiben?«</p>
<p>Hatte Rike die Frage überhört? Sie gab keine Antwort darauf, sie knüpfte eifrig Klärchens Stiefelchen zu und beugte sich so darüber, daß Klärchen ihr Gesicht nicht sehen konnte. Plötzlich aber fiel ein Tropfen herunter auf die Stiefel und Rike wischte die Augen. Da blickte Klärchen sie teilnehmend an, strich ihr schmeichelnd mit ihren runden Kinderhändchen über die Backen und sagte: »Gelt, Rike, du bist traurig wegen der Mama.«</p>
<p>Rike konnte nur nicken, griff nach Klärchens schwarzem Kleid, ließ sie hineinschlupfen und sagte dann: »Komm nur schnell, ich habe dir schon dein Frühstück gerichtet, du hast gar nicht mehr lange Zeit.«</p>
<p>»Wo ist der Konrad und der Heinrich?«</p>
<p>»Die schlafen noch.«</p>
<p>»Gehen sie denn nicht mit mir?«</p>
<p>Rike konnte wieder nur mit dem Kopfe schütteln.</p>
<p>In diesem Augenblick klingelte es unten an der Haustüre. Rike sah hinunter. »Wahrhaftig, das ist schon der Herr Vormund. Du sollst herunter kommen, es sei höchste Zeit. Schnell deinen Mantel, so, und deinen Hut!«</p>
<p>»Aber ich soll doch mit der Patin?«</p>
<p>»Die wird am Bahnhof auf dich warten.«</p>
<p>Jetzt war Klärchen fertig und Rike wollte mit ihr hinunter.</p>
<p>»Ich muß aber doch Konrad und Heinrich lebwohl sagen.«</p>
<p>»Du hast keine Zeit mehr, mein Herzchen.«</p>
<p>»O nur einen Augenblick,« rief die Kleine und sprang hinüber in das Schlafzimmer, wo die beiden Brüder, die nachts so spät eingeschlafen waren, noch schliefen. »Lebwohl, Konrad, lebwohl, Heinrich, ich muß zur Patin,« rief sie, aber noch ehe die Brüder recht wach waren, tönte die Hausglocke noch einmal so heftig und laut, daß die Kleine erschreckt hinaussprang und schnell mit Rike die Treppe hinunter eilte.</p>
<p>Der Herr Rat schien sehr ungeduldig, zeigte ein böses Gesicht, und als Rike vollends das Kind noch an sich drückte und ihm unter lautem Schluchzen lebewohl sagte, rief er: »Sie alberne Gans, muß sie dem Kind das Herz noch schwer machen?« Ungeduldig zog er das Kind von ihr weg und führte es in großen, eiligen Schritten nach der Bahn.</p>
<p>Als Rike wieder hinaufkam, wurde sie von Konrad und Heinrich mit Fragen bestürmt. »Wo ist Klärchen hingekommen? Mit wem ist sie gegangen? Warum hat man uns das nicht vorher gesagt? Warum hast du uns nicht früher geweckt?«</p>
<p>Da sie nun hörten, daß der Vormund ausdrücklich befohlen habe, sie nicht zu wecken, geriet Heinrich in eine wahre Wut, wollte der kleinen Schwester nacheilen und sie mit Gewalt zurückholen. Nur mit Mühe konnten Rike und Konrad ihn überzeugen, daß das vergeblich wäre. Wie ein Balsam war es für die aufgeregten Gemüter, als ganz unerwartet in aller Frühe die Tante, Frau Professor Kuhn, eintrat. Sie war die Schwester der verstorbenen Mutter und ihr sehr nahe gestanden. Sie sah sogleich, wie es stand: daß Konrad kaum seinen tiefen Schmerz bemeistern konnte, und Heinrich sich ganz dem Zorn hingab. »Ich habe mir’s gedacht, wie es euch ums Herz sein wird, liebe Kinder, darum bin ich so frühe schon zu euch gekommen. Ich hätte so gerne gestern abend den Vormund bestimmt, daß er die Sache anders einrichte, aber er hielt es so fürs Beste und da konnte ich nichts machen.«</p>
<p>»Das ist einfach grausam und abscheulich vom Vormund,« fuhr Heinrich auf, »uns heimlich so die Schwester wegzunehmen ohne Abschied!«</p>
<p>»Der Kleinen ist’s vielleicht wirklich so am leichtesten geworden,« begütigte die Tante, »sie war gewiß nicht so traurig, als wenn sie euren Schmerz gesehen hätte.«</p>
<p>»Ja, das ist wahr,« sagte Rike, »gar nicht geweint hat sie und so gutwillig hat sie sich fortführen lassen wie ein Lämmlein zur Schlachtbank.«</p>
<p>»Der Vergleich paßt nun doch gottlob nicht,« sagte lächelnd die Tante, »mit der Schlachtbank wollen wir das Haus der Patin nicht vergleichen.« Dabei legte sie den Hut ab, setzte sich zu den Kindern, trank ein Täßchen Kaffee mit ihnen und war so liebreich, daß die Brüder sich allmählich beruhigten.</p>
<p>»Was ist wegen uns beiden beschlossen worden, Tante?« fragte Konrad; »können wir im Haus bleiben?«</p>
<p>»Nein, das nicht, ihr würdet gar bald selbst einsehen, daß ihr in einer Haushaltung ohne Vater und Mutter nicht versorgt wäret. Wenn ihr aber gern zu uns kommt, so nehmen wir euch ganz als Kinder auf, der Onkel und ich. Am liebsten hätten wir freilich euch alle drei mitgenommen, aber wir können es mit dem besten Willen nicht machen. Es wird schon jetzt das Haus fast zu eng sein, aber wir wollen uns gerne behelfen, und meine drei Buben und auch die vier Kostgänger freuen sich auf euch.«</p>
<p>Konrad stand auf, küßte die Tante tief bewegt und dankte ihr für ihre Güte und auch Heinrich war wieder getrost, ohne die Mutter und Klärchen wäre es doch nicht mehr schön gewesen im Haus. Die Tante hatte aber noch einen Trost. »Die Patin wohnt ja in Waldeck, das wißt ihr; es ist nur ein halbes Stündchen mit der Bahn oder ein paar Stunden zu Fuß; da könnt ihr Sonntags Klärchen besuchen.«</p>
<p>»Das ist fein, Tante,« sagte Heinrich. »Wenn nur die Patin so wäre wie du oder die Mutter, dann wäre ich ganz getrost wegen Klärchen. Aber sie ist so ganz anders, ich glaube, Klärchen wird sich fürchten vor ihr.«</p>
<p>»Es soll aber ein vortreffliches Fräulein sein, die Patin; sie tut sehr viel für Arme und Vereine, da muß sie doch ein gutes Herz haben, und Klärchen wird das schon herausfühlen.«</p>
<p>»Wann dürfen wir zu euch übersiedeln, Tante?«</p>
<p>»Sowie ich daheim alles für euch gerüstet habe und hier die Haushaltung aufgelöst ist, holt euch der Onkel. Bis dahin haltet euch still und lieb bei eurer Rike.«</p>
<p>Die Tante ging und die Knaben blieben in dem Haus zurück, das ihnen ganz verändert schien. Seit dem Tod der Mutter und der Abreise des Schwesterchens war jeder Sonnenschein daraus gewichen und sie mußten sich selbst sagen: Es wäre nicht schön, so fortzuleben.</p>
<p style="text-align: center;">III.</p>
<p>Am Nachmittag stand Mine, das Dienstmädchen von Fräulein Stahlhammer, unter der Haustüre und plauderte mit dem Mädchen des Nachbarhauses. »Ist’s wahr, daß dein Fräulein heute ein Waisenkind mit heimgebracht hat, das ganz bei euch bleiben soll?«</p>
<p>»Es ist schon so, wenigstens für ein halbes Jahr auf Probe; ein kleines nettes Dingchen ist es, das einen ganz treuherzig anblickt. In seinem schwarzen Trauerkleidchen sieht es ganz ernsthaft aus und tut einem leid, so früh verwaist.«</p>
<p>»Nun, es wird’s gut bekommen bei euch, und bald wieder lustig sein.« Aber Mine schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht brauchen, es muß mir wieder fort aus dem Haus.«</p>
<p>»Wie du redest! Das wird dein Ernst nicht sein!«</p>
<p>»Freilich ist’s mein Ernst. Kann ich ein Kind brauchen? Kann ich wie bisher abends ausgehen, wenn das Fräulein im Verein oder in der Ausschußsitzung ist und das Kind daheim läßt? Kann ich Sonntags hin, wo ich will, wenn das Fräulein im Mägdehaus zum Vorlesen ist und mir das Kind übergibt?«</p>
<p>»Es ist wahr, so gut hast du’s dann nimmer wie bisher, aber du wirst’s nicht ändern können.« – »Das wollen wir erst sehen! Es waren schon einmal zwei Waisenkinder da, aber nicht lange, dafür habe ich gesorgt!«</p>
<p>»Du wirst doch dem unschuldigen Kind nichts tun?«</p>
<p>»Behüt’ mich Gott, da würde ich mich der Sünde fürchten! Im Gegenteil, ich tue ja dem armen Würmchen nur Gutes, wenn ich sorge, daß es anderswohin kommt, wo es lustiger zugeht. Das wird ganz schlau gemacht, du wirst sehen, es bleibt kein halbes Jahr. Aber ich muß hinauf, mein Fräulein hat schon zweimal gerufen; sonst braucht sie nie etwas um diese Zeit, so ist’s eben, wenn ein Kind da ist, fort muß es!«</p>
<p>Oben in dem großen Wohnzimmer saß Fräulein Stahlhammer und ihr gegenüber das Kind. Ihm kam es so unheimlich vor in dem fremden Raum bei der Patin, die sie kaum kannte. Noch nie war die Kleine von zu Hause fort gewesen, und nun überkam sie ein schmerzliches Heimweh, und anstatt die Milch zu trinken, die vor ihr stand, fing sie ganz bitterlich an zu schluchzen. »So war es damals auch,« dachte Fräulein Stahlhammer, »als die zwei Waisenkinder den ersten Tag bei mir zubrachten; es ist Kindern unheimlich bei mir, und wenn die größeren sich nicht bei mir eingewöhnten, wie sollte es das kleine Geschöpfchen fertig bringen?« Ihr Herz trieb sie, Klärchen zu trösten, aber sie wollte dieses Kind nicht auch mit Liebe verwöhnen, sie hielt sich zurück und sagte: »Du wirst wohl müde sein, weil du früh aufgestanden bist; ich will Mine rufen, daß sie dein Bett richtet, dann schläfst du ein Stündchen.« Als das Bett gerichtet war und Fräulein Stahlhammer das weinende Kind ins Schlafzimmer führen wollte, ergriff Mine rasch die kleine Gestalt, hob sie auf den Arm und sagte: »Es wird besser sein, wenn ich sie das erstemal lege, sie fürchtet sich wohl noch vor der großen Patin,« und Fräulein Stahlhammer ließ es zu. Beim Auskleiden sagte Mine zu der Kleinen: »Weinen darfst du nicht, sonst wird die Patin böse, darfst auch nicht merken lassen, daß du nach deiner Mama Heimweh hast. Wenn du Heimweh hast, dann sag’ du’s nur immer mir, vor der Patin sei ganz still.«</p>
<p>Bald hatte Klärchen sich in den Schlaf geweint und Mine verließ das Zimmer. »Ich will schon für das Kind sorgen, wenn es aufwacht, solange Sie in Ihrem Verein sind,« sagte Mine zu Fräulein Stahlhammer und diese dachte: »Wie froh bin ich, daß Mine die Kinder gern hat und besser versteht als ich.« Ehe sie aber in den Verein ging, schlich sie leise in das Schlafzimmer, saß lange an dem Kinderbett, sah auf das liebliche, unschuldige Gesichtchen und flüsterte endlich: »O, wie müßte es so köstlich sein, wenn das kleine Wesen mich lieb haben könnte!«</p>
<p>Klärchen gehörte nicht zu den Kindern, die sich schnell an neue Verhältnisse gewöhnen. In den nächsten Tagen schlich sie gar trübselig umher, die Sehnsucht nach der Mutter und den Brüdern erfüllte ihr ganzes Herz. Es dauerte nicht lange, so machte der Vormund seinen ersten Besuch, denn es lag ihm sehr daran, daß seine Schwester gut zurecht käme mit dem aufgedrungenen Pflegekind. Er traf die Kleine bei dem Mädchen, Fräulein Stahlhammer war nicht zu Hause. »Nun, wie geht es mit dem Kind?« fragte er die ihm wohlbekannte Dienerin. »O, nicht gut, Herr Rat,« antwortete diese, »das Kind gewöhnt sich nicht an seine Patin, es mag sie nicht.« Klärchen stand dabei und sah ängstlich und erschrocken auf, als sie diese Worte hörte und bemerkte, wie sich die Züge des Vormunds verfinsterten. »So etwas sollten Sie gar nicht vor dem Kinde sagen,« sprach er verweisend zu dem Mädchen, nahm Klärchen an der Hand und führte sie in das Zimmer. Er wollte das Kind gehörig ausschelten und ihm den Kopf zurechtsetzen, wie er es seiner Schwester versprochen hatte. Als er aber das kleine Wesen zitternd vor sich stehen sah, so recht wie ein hilfsbedürftiges Geschöpfchen, da kam doch etwas wie Mitleid über den großen, starken Mann. »Ich tue dir nichts,« sagte er, »du brauchst nicht so vor mir zu zittern. Aber höre, was ich dir sage: Dein Vater ist gestorben und deine Mutter ist gestorben, und die Brüder sind fort und euer Haus ist leer. Es ist gar niemand da, der für dich sorgen mag außer deiner Patin; du mußt ihr gehorchen, ihr dankbar sein und sie lieb haben wie deine Mama; sonst bist du ein ganz undankbares Kind, verstehst du das?«</p>
<p>»Ja,« antwortete leise die Kleine.</p>
<p>»Versprich mir, daß du nicht undankbar sein willst.«</p>
<p>»Ich will nicht undankbar sein,« wiederholte Klärchen und sah dabei ganz ernsthaft aus; denn sie hatte die Rede des Vormunds wohl verstanden und fing an zu begreifen, daß die Patin ihr etwas Gutes tun wollte, indem sie sie zu sich nahm, und in ihrem guten Herzen regte sich sofort etwas wie Liebe und Dankbarkeit.</p>
<p>»Mine,« sagte sie später zu dem Mädchen, »ich muß die Patin lieb haben wie meine Mama, sonst bin ich undankbar.«</p>
<p>»Das kann man nicht von dir verlangen,« sagte Mine, »kein Kind hat die Patin so lieb wie seine Mutter, und sie ist ja auch gar keine Mutter und hat dich nicht so lieb wie ihr Kind.«</p>
<p>»Aber gelt, ein bißchen lieb hat sie mich doch, sie hat mich ja auch zu sich genommen.«</p>
<p>»Aber nicht aus Liebe, bloß weil es der Vormund verlangt hat,« sagte Mine. Da fiel ein trüber Schatten über das Gesichtchen der Kleinen und die erwachende Liebe erlosch bei den kalten Worten: »Bloß weil es der Vormund verlangt hat.«</p>
<p style="text-align: center;">IV.</p>
<p>Leicht hatten sich inzwischen die Brüder bei Onkel und Tante eingewöhnt. Aber je mehr sie sich einlebten in der neuen Umgebung, um so sehnlicher wünschten sie auch ihre Schwester herbei und täglich wurde der Kleinen, von der sie gar keine Nachrichten hatten, in Liebe gedacht. Der Vormund hatte bestimmt, daß in den ersten vier Wochen die Geschwister sich nicht besuchen sollten, damit beide Teile vor dem ersten Wiedersehen den Trennungsschmerz schon überwunden und sich in die neuen Verhältnisse eingewöhnt hätten. Klärchen wußte davon nichts; die Brüder hingegen erwarteten mit Ungeduld den vierten Sonntag, für den ihnen der Besuch in dem Städtchen Waldeck versprochen war, und fast ebensosehr sehnte sich die treue Tante danach, durch die Brüder Nachricht von der kleinen Nichte zu erhalten.</p>
<p>Es war ein trüber Novembertag. Die Knaben machten sich gleich nach Tisch auf den Weg und kamen nach einem tüchtigen Marsch in dem Städtchen an. Die Patin vermutete den Besuch wohl, doch wollte sie Klärchen nichts vorher davon sagen; sie freute sich auf die Überraschung des Kindes und gab nur heimlich dem Mädchen den Auftrag, etwas für den Empfang der jungen Wanderer bereit zu stellen. Als Mine erfuhr, was für Gäste erwartet wurden, spähte sie fleißig zum Fenster hinaus; denn sie wollte die Brüder sprechen, ehe dieselben heraufkamen. Es dauerte nicht lange, so sah sie zwei fremde Knaben des Wegs kommen; sie hatten Trauerflor an den Hüten und Mine konnte nicht zweifeln, daß es die Erwarteten seien. Rasch ergriff sie Klärchen, die im Vorplatz mit ihrem Puppenwagen spielte und flüsterte ihr zu: »Komm mit, ich weiß etwas, das dich freut,« und dann eilte sie mit dem Kind die Treppe hinunter. Die Brüder waren inzwischen schon in die Nähe des Hauses gekommen, Klärchen erkannte sie auf den ersten Blick und stürzte ihnen laut aufjubelnd entgegen. Aber im Übermaß der unerwarteten Freude und in Erinnerung ihrer schmerzlichen Sehnsucht ging der Jubel gleich in Tränen über, zur großen Bestürzung der Knaben, die sich die helle Freude des Kindes auf dem ganzen Wege ausgemalt hatten. »Sie dürfen sich nicht wundern, daß das Kind weint,« sprach nun Mine, »es hat so Heimweh nach Ihnen, und es ist ja auch kein Wunder, wenn man so klein schon unter fremde Leute kommt!«</p>
<p>»Hat sie sich noch gar nicht eingewöhnt?« fragte Konrad bekümmert.</p>
<p>»Nein, nein, und sie wird sich auch nicht eingewöhnen. Ein Kind gehört zu Kindern, da kann es sich vergessen, aber nicht bei einem einsamen Fräulein, die überdies halbe Tage lang gar nicht zu Hause ist.«</p>
<p>»Aber die Patin wird doch gut mit ihr sein?« rief Heinrich und bemerkte in seiner Erregtheit nicht, wie der ältere Bruder ihm zu bedeuten suchte, daß es nicht passend sei, weiter das Dienstmädchen auszufragen. »Ich will nichts sagen, es schickt sich auch nicht für mich,« antwortete Mine, »aber das Kind ist kreuzunglücklich, und wenn das noch lange dauert, so wird es noch krank werden.«</p>
<p>Besorgt sahen die Brüder in das Gesichtchen der Kleinen. Freilich, so frisch und blühend wie früher sah es in diesem Augenblick nicht aus, und jetzt hatte sie einen ihr sonst ganz fremden, ernsthaften Ausdruck; denn zum erstenmal kam sich das sonst so bescheidene Kind gar wichtig vor: es hatte erfahren, daß es unglücklich und zu bedauern sei.</p>
<p>Als die beiden Knaben nun mit der Schwester die Treppe hinaufkamen, waren sie in ganz anderer Stimmung als noch vor wenigen Minuten; sie bedauerten die Schwester und grollten der Patin. So traten die drei Geschwister in das Zimmer zu Fräulein Stahlhammer. Diese hatte sich gefreut auf das Wiedersehen der Kinder und nun war sie ganz um ihre Freude gekommen. Etwas betroffen trat sie ihnen entgegen; denn ein Blick auf Klärchen zeigte ihr, daß diese geweint hatte. Auch klammerte sie sich fest an den Arm ihres großen Bruders, und die ganze Gruppe sah eher feindselig als zutraulich aus. Konrad aber machte sich nun los von der Kleinen, begrüßte Fräulein Stahlhammer artig, richtete ihr Empfehlungen der Tante aus und erinnerte dadurch auch Heinrich an das, was sich schickte; doch behielt dieser einen etwas ingrimmigen Blick bei, und den ganzen Nachmittag verlor sich eine gewisse Befangenheit nicht. Klärchen hätte im Glück über das Wiedersehen mit den Brüdern wohl alles andere bald vergessen, aber Mine hatte die Gelegenheit wahrgenommen, ihr zuzuflüstern: »Mußt recht traurig und still sein, dann nehmen dich die Brüder vielleicht ganz mit heim,« und so war die ganze liebliche Unbefangenheit der Kleinen dahin; den Brüdern kam sie gar sonderbar verändert vor und mit schwerem Herzen verabschiedeten sie sich abends von der kleinen Schwester.</p>
<p>Zu Hause angekommen, wurden sie von allen Seiten mit teilnehmenden Fragen empfangen. Konrad gab nur kurzen Bescheid, es war ihm so traurig zumute, daß er fürchtete, seine Fassung zu verlieren. Aber Heinrich hatte um so mehr das Bedürfnis, sich auszusprechen. Onkel und Tante sollten es nur wissen, wie unglücklich sein Schwesterchen sei. Er schilderte das Wiedersehen auf der Straße, die Tränen der Kleinen, ihr verändertes Aussehen, den Bericht des Dienstmädchens und die große, ernste Gestalt der Patin, vor der er sich selbst gefürchtet hätte, und nannte es eine Grausamkeit, ihr das zarte Kind zu lassen.</p>
<p>»Heinrich, du machst es schlimmer als es ist,« warf Konrad dazwischen, »sie hat eigentlich kein unfreundliches Wort gesagt.«</p>
<p>»Natürlich nicht, wenn wir zwei dabei sind als Beschützer unserer Schwester; aber wenn sie allein mit Klärchen ist, wer weiß, was sie ihr da tut!«</p>
<p>»Nicht zu viel sagen,« wehrte der Onkel und auch die Tante versicherte: »Sie ist gewiß nicht schlimm, eure Mutter hat ja so viel auf sie gehalten.« Und nun mischten sich die Kinder des Hauses ins Gespräch: alle waren voll Mitleid und urteilten hart über die Patin, bis die Tante sie auf andere Gedanken brachte, indem sie sagte: »Nun kommt ja bald Weihnachten, da wollen wir die Kleine auf längere Zeit zu uns einladen und ihr recht viel Freude machen.« Damit waren nun alle einverstanden und es begann sofort eine lebhafte Beratung, was Klärchen zu Weihnachten bekommen sollte. Da sagte Konrad, der sich bisher noch nicht ins Gespräch gemischt hatte: »Ich weiß, was ihr die Mutter zu Weihnachten machen wollte; wenn du ihr das geben würdest, Tante, dann wäre ihr Herzenswunsch erfüllt.«</p>
<p>»Ja, was ist’s?«</p>
<p>»Sie hat eine Puppe, die hat sie lieb – ich glaube wirklich so lieb wie uns; und für die möchte sie so ein Wickelkissen, wie’s die ganz kleinen Kinder haben. Mit solch einem Wickelkind wäre sie glückselig.«</p>
<p>»Das mache ich ihr,« sagte die Tante eifrig, »ihr bringt mir einmal das Längenmaß der Puppe, dann soll’s ein echtes Wickelkind werden.«</p>
<p>Durch die Aussicht auf eine Weihnachtsfreude für Klärchen beruhigten sich die erregten Gemüter, das hatte die Tante gewollt und erreicht; sie kannte sich aus bei ihrer jungen Schar.</p>
<p style="text-align: center;">V.</p>
<p>Nicht nur in der Familie des Professors plante man allerlei Weihnachtsfreuden, auch in dem kleinen Häuschen in Waldeck waren die Gedanken bei dem herannahenden Fest. Fräulein Stahlhammer hatte in dieser Zeit alle Hände voll zu tun; denn sie war Vorstandsdame bei dem Verein, der den armen Schulkindern bescherte; außerdem hatte sie jedes Jahr die Bescherung der armen Leute im Spital zu besorgen, am heiligen Abend, wo Hausfrauen sich nicht vom eigenen Haus los machen konnten. Nun hätte Fräulein Stahlhammer in diesem Jahr gerne diese Aufgabe anderen übertragen – hatte sie nun doch auch ein Kind zu Hause –, aber es fand sich niemand bereit, und so sagte sie sich, daß Klärchen wohl ebenso glücklich wäre, wenn ihr erst am Weihnachtsfest selbst beschert würde; sie kam ja mit andern Kindern nicht zusammen und war noch zu klein, um den Kalender selbst zu studieren. So wollte ihr Fräulein Stahlhammer am Christfest bescheren und sie ging nie an den Läden des Städtchens vorbei, ohne sich zu überlegen, womit sie das Kind erfreuen könnte.</p>
<p>Auch Mine hatte ihre Pläne. Sie wollte sich in den Feiertagen mit ihren Bekannten vergnügen und hätte es gar zu gern gesehen, wenn die Kleine aus dem Wege gewesen wäre, damit sie wie in früheren Jahren ihre Freiheit hätte.</p>
<p>Klärchen stand mit der geliebten Puppe im Arm träumend am Fenster; sah hinaus, wie die Schneeflocken herunterwirbelten, und dachte daran, daß voriges Jahr ihre Mama gesagt hatte: »Wenn’s schneit, ist Weihnachten nahe!« Sie hätte gerne die Patin gefragt, ob wohl hier das Christkind auch zu ihr käme. Aber sie wagte es nicht recht und nahm sich vor, zuerst mit Mine zu sprechen. Heute nun war die Patin ausgegangen, und Mine putzte die Fenster in der Küche. Klärchen machte sich an sie heran.</p>
<p>»Mine,« fragte sie, »wie ist’s denn hier an Weihnachten?«</p>
<p>»An Weihnachten? Da beschert die Patin in der Schule.«</p>
<p>»Und dann?«</p>
<p>»Und dann im Spital.«</p>
<p>»Und dann?«</p>
<p>»Und dann? Ist das noch nicht genug?« Ein Weilchen war Klärchen still. Sie hatte ihre Puppe im Arm und nun fing sie an nach ihrer Gewohnheit zu dem Puppenkind zu reden: »Gelt Rosa,« sagte sie zur Puppe, »das schöne Kleid hast du an Weihnachten bekommen und die neuen Locken auch, da bist du unter dem Christbaum gesessen und die Mama hat zu mir gesagt: ›Herzkind, kennst du denn deine Puppe noch?‹ Aber jetzt haben wir keine Mama mehr und sie kann nicht mehr sagen ›Herzkind‹ und sie kann dir keine Kleider mehr machen; aber du darfst nicht weinen, sonst bist du undankbar.« Und dabei schluckte die Kleine tapfer die Tränen hinunter und wischte die weg, die über das Puppengesicht gerollt waren.</p>
<p>Mine merkte wohl, wie es dem kleinen Wesen ums Herz war. »Klärchen,« sagte sie, »bitte doch die Patin, daß sie dich an Weihnachten zu den Brüdern läßt. Bei denen gibt es eine Mama, die beschert, und auch einen Christbaum; aber bei uns hat es noch nie einen gegeben; dort geht es lustig zu, aber hier ist’s langweilig. Möchtest du nicht zu den Brüdern an Weihnachten?«</p>
<p>»Ich möchte schon, aber ich kann doch die Patin nicht bitten; du hast doch immer gesagt, ich soll sie nichts bitten, sonst wird sie böse!«</p>
<p>»Freilich, aber das ist nun etwas anderes, das darfst du schon sagen.«</p>
<p>»Sagst du’s nicht für mich, Mine?« fragte Klärchen ängstlich. »Meinetwegen, ich will davon anfangen, aber du mußt dann auch recht schön bitten; denke nur, wie traurig es hier für dich wäre ohne Christbaum!« Mine sagte wohl die Wahrheit, wenn sie behauptete, daß Fräulein Stahlhammer nie einen Christbaum hatte; aber konnte sie sich nicht denken, daß es in diesem Jahr dem Kinde zu lieb anders gemacht würde, oder wollte sie nichts davon wissen? Als Fräulein Stahlhammer den Christbaum für die Armen im Spital besorgt hatte, da hatte sie dem Waldschützen zugleich gesagt: »Und besorgen Sie auch für mich ein recht nettes, grünes Bäumchen.«</p>
<p>An diesem Tage kam ein Brief von der Tante, in dem sie ihre kleine Nichte freundlich einlud, über Weihnachten zu kommen, damit die drei verwaisten Geschwister dies erste Christfest beisammen feiern könnten. Fräulein Stahlhammer kämpfte mit sich selbst. Allerdings würden die Kinder vergnügt beisammen sein, und Klärchen hätte ein fröhliches Fest in dem kinderreichen Haus; aber doch hatte sie gerade von einem schönen Weihnachtsabend gehofft, daß er ihr das Kinderherz näher bringen würde; sie wollte eine Puppenküche anschaffen und mit der Kleinen kochen. Der gestrenge Vormund konnte nichts dagegen sagen: an Weihnachten, wo allen Kindern Liebe erwiesen wird, durfte auch sie ihr Pflegekind ein wenig verwöhnen. Nun kam ihr recht unerwünscht diese Aufforderung. Nach gewissenhaftem Überlegen dankte sie freundlich für die Einladung; sagte, daß sie dem Kinde gern im eigenen Haus bescheren würde, und versprach, die Kleine über Neujahr zu schicken. Den Brief ließ sie Klärchen in den nahen Briefkasten einwerfen. Das Kind ahnte nicht, was er enthielt, und gerade als sie vom Schalter zurückkam ins Zimmer, wo Mine ihrem Fräulein half, Stöße von Hemden zusammen zu packen, die für die Schulbescherung bereit lagen, gerade da sagte Mine: »Klärchen, hast du denn der Patin schon gesagt, um was du schön bitten möchtest? Nicht? Muß ich es wieder für dich sagen? Fräulein Stahlhammer, das Kind hat bloß den einen Wunsch, daß es an Weihnachten zu den Brüdern darf, gelt Klärchen?«</p>
<p>»Ja,« sagte Klärchen, und obgleich das ihre ganze Antwort war, sah sie doch so gespannt auf die Patin, daß diese wohl die Bitte von den stummen Lippen ablesen konnte. »Wie kommt sie darauf?« fragte Fräulein Stahlhammer und sah Mine mißbilligend an. »Ach, das ist doch natürlich, daß sie darauf kommt. Papa und Mama hat sie verloren, so möchte sie doch wenigstens bei ihren Geschwistern sein. Gelt, Klärchen? Mir kann’s ja ganz einerlei sein, aber so sind halt Kinder, sie wollen eben unter andere Kinder.«</p>
<p>Fräulein Stahlhammer zog die Schnüre fester an dem Paket und dann sagte sie zu Klärchen: »Wenn du auch an Weihnachten nicht zu den Brüdern darfst, so doch an Neujahr. Das ist nur eine Woche später, so ist’s ausgemacht mit deiner Tante.«</p>
<p>Mine stieß heimlich die Kleine an, sie hätte gerne gehabt, daß das Kind noch für sich selbst bäte; aber Klärchen hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß dieses der Patin nicht recht wäre, sie wagte es nicht und schwieg, und somit war die Sache zu Mines großem Verdruß abgetan. Für die Brüder war die abschlägige Antwort zwar eine Enttäuschung, aber die Tante konnte den freundlichen Brief der Patin verstehen; sie vertröstete die Beiden auf das Wiedersehen an Neujahr und lenkte die Gedanken ab, indem sie die Puppenkleider und andere kleine Geschenke für Klärchen durch die Brüder zusammenpacken ließ. Der Professor wollte am Nachmittag vor der Bescherung selbst der Kleinen das Päckchen überbringen, um auch einmal nach seiner Nichte zu sehen.</p>
<p>Der heilige Abend kam und brachte für Fräulein Stahlhammer große Geschäftigkeit. Als sie sich nachmittags auf den Weg in das Spital machte, tat es ihr leid, die Kleine zu verlassen. »Morgen, Klärchen,« sagte sie, »ist Weihnachten; aber sieh, heute hat das Christkind dir auch schon ein Päckchen gebracht, so eines, wie es die Schulkinder bekommen, sieh her,« und sie gab Klärchen eines von den neuen Hemden, schön mit roten Bändchen gebunden, mit einem Tannenzweiglein verziert. Dann eilte sie fort. Mine putzte draußen den Vorplatz und die Treppe. Als es dunkel wurde, so gegen fünf Uhr, saß das Kind allein am Tisch. Das Hemd lag vor ihr, das Tannenzweiglein drehte sie in den Fingern. Da kam in Eile Professor Kuhn die Treppe herauf. Er traf Mine beim Putzen. »Ist Fräulein Stahlhammer zu Hause?«</p>
<p>»Nein, sie ist fort.«</p>
<p>»Mit meiner kleinen Nichte?«</p>
<p>»Nein, das Kind ist droben. Ich muß eben putzen vor dem Fest, sonst ließe ich sie nicht allein, das arme Tröpflein!«</p>
<p>»Wann kommt Fräulein Stahlhammer wieder?«</p>
<p>»Ach, da kann’s leicht zehn Uhr werden, bis die Bescherungen vorbei sind.« Der Professor sagte kein Wort, ging mit raschen Schritten die Treppe hinauf und ins Zimmer. Da saß die verlassene Kleine allein im Halbdunkel am Tisch, ein trübseliger Anblick.</p>
<p>Beim Erscheinen des Onkels leuchtete ihr ganzes Gesichtlein: der Onkel gehörte zu den Brüdern, er gehörte zu der Tante, die wie die Mama aussah, er gehörte zu dem, was sie lieb hatte!</p>
<p>»Onkel,« sagte sie schmeichelnd, als er dicht zu ihr kam, um sie genau zu sehen, »Onkele, liebes, gutes Onkele, bist du zu mir gekommen?« und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Diese Zärtlichkeit ging ihm zu Herzen, das Kind sah ihn doch so selten. Er schaute sich um im Zimmer. Er hatte gedacht, die Bescherung sei schon vorbei; aber da war kein Baum zu sehen. Nur ein kleiner Tannenzweig lag vor ihr. »Hat dir das Christkind schon beschert?« fragte er.</p>
<p>»Ja, sieh nur, ein Hemd.«</p>
<p>»Und sonst noch etwas? Nicht? Habt ihr keinen Christbaum?«</p>
<p>»Bloß so viel davon,« sagte Klärchen und zeigte ihr Zweiglein; sie wußte ja nicht, daß im verschlossenen Gastzimmer neben der neuen Puppenküche schon das geputzte Christbäumlein bereit stand, um morgen seinen Lichterglanz zu verbreiten. Und auch der Onkel dachte an diese Möglichkeit nicht und war im innersten Herzen empört. Die Patin war unterwegs, um Fremden zu dienen, und das ihr anvertraute Geschöpfchen ließ sie am Weihnachtsfest ohne Bescherung, ohne Baum allein mit einem Hemd als Christgeschenk. Wenn sie keine Zeit und kein Herz für das Kind hatte, warum hatte sie dann nicht wenigstens zugegeben, daß es bei den Brüdern Weihnachten feiere? Es sollte aber sein Weihnachtsfest haben, das Kind, mochte die Patin zürnen, das war ihm ganz gleichgültig!</p>
<p>»Klärchen,« sagte der Onkel, »zieh dich an, recht schnell, ich nehme dich mit mir, wir fahren gleich miteinander fort.« Und hinaus eilte er zu Mine: »Helfen Sie dem Kind, ziehen Sie es recht warm an, ich will es mitnehmen, ich bin sein Onkel.«</p>
<p>Mine war hocherfreut, das paßte zu ihren Plänen. Klärchen selbst war ganz verwirrt, konnte kaum fassen, was so schnell mit ihr geschah. Aber Mine flüsterte ihr zu: »Zu deinen Brüdern darfst du, denke nur, die Freude, zur Weihnachtsbescherung! Ach, Herr Professor, wenn Sie die Kleine nur ganz behalten könnten, da wäre sie besser versorgt, das arme Ding!«</p>
<p>»Sagen Sie Fräulein Stahlhammer, ich sei gekommen, dem Kind seine Weihnachtsgeschenke zu bringen, und da ich sie allein fand, hätte ich sie mitgenommen. Bis Neujahr bleibt sie jedenfalls bei uns, dann wollen wir weiter sehen. Komm Kind, komm, wir müssen gleich fort, damit wir den Zug noch erreichen.«</p>
<p>Unten an der Treppe fiel dem Onkel noch etwas ein.</p>
<p>»Mine,« rief er hinauf mit gewaltiger Stimme, die durchs ganze Haus dröhnte.</p>
<p>»Was ist’s?«</p>
<p>»Die Puppe muß mit, schnell bringen Sie sie herunter. Wo ist sie, Klärchen?«</p>
<p>»Sie schläft in meinem Bett.«</p>
<p>Im Augenblick war sie herbeigeschafft und Klärchen drückte sie sorglich an sich. Der Onkel trug das Weihnachtspaket; zur rechten Zeit war ihm noch eingefallen, daß es Puppenkleider enthielt, so war wohl die Puppe unentbehrlich. Nach kurzer Zeit waren sie am Bahnhof.</p>
<p>Unterwegs sagte das Kind zu seinem Onkel: »Undankbar ist das nicht, wenn man fortgeht von der Patin, gelt, undankbar ist das nicht?«</p>
<p>»Nein, nein,« beruhigte der Onkel, »ich habe dich geholt und du mußt mir folgen.«</p>
<p>Ein halbes Stündchen Fahrt, ein Gang durch die Straßen der großen Stadt, und sie standen umringt von jubelnden Kindern, daß dem Klärchen aus ihrer Stille heraus ganz traumhaft zumute war.</p>
<p>Der Professor suchte seine Frau auf, im Weihnachtszimmer traf sie eben die letzten Vorbereitungen zur Bescherung. Ein Loblied auf Fräulein Stahlhammer war es nicht, was jetzt gesungen wurde! »Du hast recht gehabt, ganz gewiß hast du recht gehabt, daß du das Kind entführt hast. Fräulein Stahlhammer soll es nur erfahren, wie anderen Menschen so etwas vorkommt. Ich kann es nicht begreifen, gar nicht fassen! Sie hat doch erst so schön geschrieben, daß sie dem Kind die neue Heimat lieb machen möchte durch eine schöne Weihnachtsfeier! Ist sie denn eine Heuchlerin?«</p>
<p>– – Ach nein, eine Heuchlerin war sie nicht; hätte nur die gute Frau Professor gesehen, mit welch tiefem Schmerz Fräulein Stahlhammer bei ihrer Heimkehr – um acht Uhr war es – vernahm, daß ihr das Kind weggenommen worden war! Nachdem Mine ihr den ganzen Hergang berichtet und ein kleines Abendbrot aufgetragen hatte, fragte sie, ob sie noch zu ihren Verwandten gehen dürfe. Fräulein Stahlhammer sagte ja, ohne nur recht zu wissen auf was. Am Tisch, wo noch das Tannenzweiglein lag und das rotgebundene Hemd, saß sie, und bemühte sich vergeblich, Herr zu werden über die Empfindungen, die sie überwältigen wollten: Schmerz, daß sie dem Kind nicht den Weihnachtsbaum anzünden konnte; Beschämung, daß es so vernachlässigt erschienen war; Entrüstung, daß man ungefragt eingedrungen war und das Kind geholt hatte; und Befürchtung, daß es lieblose Worte über sie hören und von anderen um so mehr Liebesbeweise empfangen würde. Und je länger der Abend sich hinzog, totenstill in ihrem einsamen Haus, der Abend, an dem sie eben erst von den Schulkindern das Lied hatte singen hören: »Selbst die Hütte trieft von Segen,« um so bitterer empfand sie ihre Enttäuschung.</p>
<p>Die alte, große Uhr, die in der Ecke des Eßzimmers wohl schon ein halbes Jahrhundert hing und in ihrem schönen, geschnitzten Kasten vom Boden bis hinauf reichte über die Türe, fing nun feierlich an zu schlagen mit einem Klang wie Orgelton, zehn Schläge. Da raffte sich Fräulein Stahlhammer auf und sah nach den großen goldenen Zeigern. Wirklich zehn Uhr? Wo waren die Stunden hingegangen? Vertrauert, verträumt, verloren! Das war kein »heiliger Abend«. Mit aller Gewalt riß sie sich heraus aus dieser Stimmung. Ihr selbst war ja das Fest verdorben, aber dem Kind nicht; das war wohl am glücklichsten bei den Geschwistern, so wollte sie ihm das Glück gönnen und nicht bitter gegen Klärchen sein. Das Christbäumchen konnte morgen auch eine Familie erfreuen, dann war es doch nicht umsonst aus dem Wald genommen. Aber dem Vormund wollte sie doch gleich schreiben, was sich begeben hatte; er konnte gelegentlich dem Onkel vorhalten, daß er nicht so eigenmächtig hätte handeln sollen.</p>
<p>Dieser Brief, der am frühen Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages bei dem Vormund ankam, versetzte den Mann in großen Zorn. Er war ein empfindlicher Herr, dieser Herr Rat Stahlhammer, nicht gewöhnt, daß ihm etwas gegen den Willen ging. Er war der Vormund, nicht der Professor, und wenn er als Vormund das kleine Mädel seiner Schwester übergab, so hatte nach seiner Meinung der Herr Professor durchaus kein Recht, sich das Kind eigenmächtig und gegen den Willen seiner Schwester zu holen. Das wollte er ihm sagen. Heute war noch Feiertag; es war wohl am besten, wenn er gleich heute nachmittag zum Professor ging und ihm seine Ansicht sagte. Gleich heute nachmittag? Das war nicht gleich, das war lang, das war viel zu lang für den Ärger, den er empfand und durchaus aussprechen mußte. Schon nach einer Viertelstunde war er unterwegs, um Professor Kuhn aufzusuchen.</p>
<p>Ein langer Weg. Wie konnte man nur so weit hinausziehen! Die ganze Stadt mußte er durchqueren mit der Straßenbahn und dann erst noch ein Stück zu Fuß gehen und all das wegen des kleinen Mädels; das machte sich als Mündel recht unangenehm bemerkbar. Wegen so eines kleinen Rackers mußte er, der Rat, sich so bemühen, ganz ungehörig war das. Seine Schwester verstand es aber auch gar nicht, mit Kindern umzugehen! Warum war sie nicht daheim geblieben und hatte dem Kind einen Haufen gutes Zeug und Spielkram hingelegt, wie es so kleine Bälge nun einmal wollen an Weihnachten. Er hatte sich in einen gehörigen Zorn hineingearbeitet, der Herr Vormund, bis er glücklich am Haus des Professors angekommen war. Auch das Dienstmädchen ärgerte ihn, das die Türe aufmachte, denn auf seine Frage, ob Herr Professor zu Hause sei, antwortete sie: »Es tut mir leid.«</p>
<p>»Ob’s Ihnen leid tut oder nicht, ist mir vollständig einerlei,« sagte er gereizt, »ist die Frau Professor zu Hause?« Das Mädchen hielt es nun für sicherer, bloß verneinend mit dem Kopf zu schütteln. Der Rat blieb einen Augenblick unschlüssig mit gerunzelter Stirne stehen. »Wenn die Leute nur immer alle fortlaufen können,« sagte er vor sich hin, »ich möchte nur wissen, wozu sie Häuser haben, wenn sie doch nicht darin bleiben?« In diesem Augenblick ging eine Zimmertüre auf, fröhliches Kindergelächter drang heraus; unter der Türe stand Klärchen, hinter ihr kamen noch mehr Kinderköpfe zum Vorschein. Da wurde dem Rat klar, was die beste Strafe für den Professor war.</p>
<p>Er ging auf Klärchen zu und fragte kurz: »Hat die Patin erlaubt, daß du hierher kommst?«</p>
<p>»Nein,« sagte erschrocken die Kleine.</p>
<p>»Dann zieh dich augenblicklich an und komm mit mir.« Zugleich nahm er eine Besuchskarte aus der Tasche und sagte dem Mädchen: »Geben Sie diese Karte ab, wenn Herr Professor heimkommt.«</p>
<p>Klärchen hatte kein Wort der Widerrede. Sie war es nicht anders gewöhnt. So plötzlich hatte man sie das erste Mal zur Patin gebracht, so hatte der Onkel sie vorgestern entführt und so wurde sie zurückgeholt. Nach ihrer kleinen Lebenserfahrung war das der Lauf der Welt.</p>
<p>»Wo ist mein Mantel?« fragte die Kleine. Das Dienstmädchen ging rasch ins Zimmer, als wollte es die Kleider holen. Im Zimmer waren die kleineren Kinder und einer der Kostgänger, aber die Brüder, Konrad und Heinrich, waren nicht darunter, sie waren mit den Größeren auf der Eisbahn.</p>
<p>Ganz aufgeregt sagte das Mädchen: »Da draußen ist ein Herr, ein ganz unfreundlicher, der will das Klärchen mitnehmen, was soll ich denn tun?« Und auf die Besuchskarte sehend, las sie: »Stahlhammer, Geheimer Rat.«</p>
<p>»Das ist ja der Vormund von Konrad und Heinrich,« sagte der Kostgänger, »von dem war schon oft die Rede.«</p>
<p>»Dann muß man Klärchen mit ihm gehen lassen?« Allgemeiner Widerspruch, lautes Bedauern ertönte nun in der Kinderstube und die Kinder drängten hinaus in den Vorplatz. Es hatte nur eine Minute gedauert, aber dem Herrn Rat schon zu lang. »Der Mantel, der Mantel, wo ist der Mantel? Und das andere Zeug, das das Kind etwa mitgebracht hat?« Das Mädchen sprang eilends an den Kleiderschrank, und die Kinder, als sie sahen, daß Klärchen wirklich gehen mußte, holten geschäftig herbei, was auf dem großen Bescherungstisch auf ihrem Platze lag: die Puppe im Wickelkissen, das Weihnachtsgebäck, ein Bilderbuch und eine Schürze. Die Sachen wurden notdürftig eingewickelt; der Rat war schon ein paar Treppenstufen hinunter gegangen, als die einzelnen Schätze Klärchen noch gereicht wurden.</p>
<p>Er hatte allerdings guten Grund zu eilen, denn er wußte, daß um Mittag ein Zug abging, den er benützen wollte, um das Kind wieder bei seiner Schwester abzuliefern. Auch wünschte er nun nicht mehr den Professor zu sprechen, diese Sprache war die deutlichste. Als er unten mit der Kleinen um die Straßenecke bog, kamen von der entgegengesetzten Seite Herr und Frau Kuhn auf das Haus zu.</p>
<p>»Sieh nur,« sagte die Frau Professor zu ihrem Mann, »man könnte meinen, das Kind dort, das mit dem Herrn geht, sei Klärchen; jetzt kannst du sie nicht mehr sehen, sie sind schon um die Ecke, aber es kann ja unmöglich Klärchen sein.«</p>
<p>In eiligen Schritten ging der Vormund mit seinem Mündel der Bahn zu; aber rasch kamen sie doch nicht von der Stelle, denn zuerst rutschte ihr das Buch aus der Hand und als sie es aufheben wollte, das Päckchen Backwerk. Es fiel in den Schnee, der mußte erst wieder abgeschüttelt werden. »Gib das Buch, ich will es tragen,« sagte der Rat und nahm es ab. Aber nach einiger Zeit rutschte die Schürze auf den Boden, da gab es wieder einen Aufenthalt. »Das will ich dir auch noch abnehmen, aber was du ferner auf den Boden wirfst, bleibt liegen, verstanden! Man muß auf seine Sachen achten lernen; nun spring so rasch du kannst, daß wir den Zug noch erreichen.« Er nahm sie bei der Hand. Die Kleine trippelte so schnell sie konnte nebenher; aber ihr Ärmchen tat ihr weh, so hoch hinauf zog es der große Mann, indem er sie führte, und den andern Arm mußte sie fest an sich pressen; denn unter dem steckte die Puppe, und in der Hand war das Backwerk. Allmählich wurde der Arm müde und konnte die Puppe nicht mehr fest pressen, so daß sie nach und nach immer weiter hinunter rutschte. Klärchen fühlte es, aber sie hatte ja die zweite Hand nicht frei, um die Puppe zu halten, und ganz sachte glitt diese endlich unter dem Arm hindurch und fiel sanft und leise auf den weichen Schnee. Klärchen wandte den Kopf zurück und wollte still halten, aber der Vormund, der von dem Hergang nichts bemerkt hatte, trieb sie an: »Nur vorwärts, Kind.« Die Kleine wagte nichts zu sagen, sie sah nur zurück, ach da lag ihr Wickelkind im Schnee! Immer wieder wandte sie den Kopf; jetzt bog sie um eine Ecke, sie sah sie nicht mehr! Ihr Liebling war dahin! Es war für das treue Puppenmütterlein ein Seelenschmerz. Dicke Tränen rollten ihr über die Wangen. Ihr Begleiter merkte es erst, als er ein unterdrücktes Schluchzen vernahm. Aber er fragte nicht, warum sie weine, er glaubte den Grund zu wissen. »Nicht weinen, Klärchen,« sagte er, »schäme dich, am hellen Tag auf der Straße zu weinen. Nun sind wir gleich zur Stelle, du wirst doch so weit marschieren können?« Es war eine Erleichterung, als am Bahnhof der große Mann ihre Hand frei gab, der Arm hatte so weh getan. Und nun saß sie im Wagenabteil zweiter Klasse auf weichem Kissen, und der Vormund sagte: »In deinem Alter durfte ich nie zweiter Klasse fahren, dir geht es besser als du es verdienst, sei nur recht dankbar.« Da kämpfte das kleine Wesen seinen Kummer nieder und sagte, die Tränen verschluckend: »Ich danke schön.«</p>
<p style="text-align: center;">VI.</p>
<p>Es war ein Uhr, als Herr Stahlhammer mit seinem Mündel in der Wohnung seiner Schwester ankam. Als Mine die Tür aufmachte und unerwartet an der Hand des Vormunds das Kind vor sich sah, von dem sie schon gehofft hatte, daß es vielleicht für immer wegbleiben würde, machte sie ein sehr erstauntes Gesicht. Für erstaunte Gesichter hatte aber Herr Stahlhammer keinen Sinn. Was er tat, war doch immer vernünftig, und über das Vernünftige hat niemand zu staunen. Er ließ sie deshalb nicht zu Wort kommen, sondern fragte kurz: »Fräulein Stahlhammer zu Hause?« und ging, als dies bejaht wurde, mit dem Kind ins Zimmer. »Ich bringe das Kind zurück,« sagte er zu seiner Schwester und mit einem Blick auf den Tisch, von dem sie offenbar im Begriff war, das Tischtuch wegzunehmen, setzte er mißfällig hinzu: »Schon fertig? Mir unbegreiflich, wie man so frühzeitig essen mag! Ich bin natürlich um mein Essen gekommen durch diese unangenehme Sache.«</p>
<p>Fräulein Stahlhammer sah die unvermuteten Gäste an, den übelgelaunten Bruder und dann das Kind. Da kam es zurück nach zwei Tagen, stand da fremd und verschüchtert, mit deutlichen Spuren vergossener Tränen; einen erfreulichen Anblick boten die beiden nicht! Sie wollte dem Kind den Mantel ausziehen.</p>
<p>»Ich denke, du sorgst zuerst für mich,« sagte der Rat, »das Kind kann sich wohl selbst bedienen.«</p>
<p>Fräulein Stahlhammer ging in die Küche, die Kleine in das Schlafzimmer, ihr Mäntelchen abzulegen. Ach, da stand das leere Puppenbett, nun war es vorbei mit ihrer Selbstbeherrschung! Noch beim Essen fielen die Tränen in die Suppe und es war kein Wunder, daß der Vormund zu seiner Schwester sagte: »Das Kind macht mich nervös mit seinem ewigen Geheul, kannst du nicht Maßregeln treffen, es abzustellen?« Da wurde Mine gerufen, sie sollte die Kleine zu Bett bringen. Fräulein Stahlhammer dachte nicht anders, als daß die Rückkehr zu ihr dem Kinde so schwer falle, denn den wahren Grund des Kummers kannte sie nicht. Kaum war Klärchen mit Mine allein, so brach sie in den Schmerzensruf aus: »Mein Wickelkind habe ich fallen lassen, im kalten Schnee liegt’s auf seinem Gesicht und friert!«</p>
<p>»Leise, leise, daß man dich nicht hört,« mahnte das Mädchen, »warum hast du es nicht aufgehoben, wenn es hinuntergefallen ist?«</p>
<p>»Ich weiß nicht, ich weiß nicht!« schluchzte das Kind.</p>
<p>»Sag’s nur niemand, daß du deine Puppe verloren hast, sonst geht dir’s schlecht! Schlupfe unter die Decke, daß man dich nicht weinen hört; so ist’s recht, jetzt schlafe!«</p>
<p>Nachdem der Vormund getafelt hatte, sagte er zu Fräulein Stahlhammer: »Wie gedenkst du das Kind zu strafen dafür, daß es ohne Erlaubnis das Haus verlassen hat?«</p>
<p>»Ach, Bruder, das Kind ist doch genug bestraft; du siehst ja, wie unglücklich es ist. Und überdies ist es nur natürlich, daß es seinem Onkel gefolgt ist.«</p>
<p>»Es muß aber lernen, daß es nichts unternehmen darf ohne deine oder meine Genehmigung. Bestrafst du es jetzt, so weiß es das für künftige Fälle. Das wirst du mir zugeben?« Und als seine Schwester nicht gleich Antwort gab, fügte der Rat etwas gereizt hinzu: »Oder meinst du vielleicht, wenn du sie nicht strafst, sieht sie ihr Unrecht besser ein?«</p>
<p>»Rudolf, du quälst mich. Ich kann das arme Wesen dafür nicht strafen; du kannst das Kind wegnehmen, – ich habe es ja nie gewollt – aber wenn du es bei mir lassen willst, dann muß ich es so behandeln, wie mich mein Herz treibt.«</p>
<p>»Quälen wollte ich dich nicht, nur belehren, aber du läßt dich nicht belehren. Statt Gründe vorzubringen, kommst du mit deinem Herzen. So sieh eben zu, wie du zurechtkommst. Ich will mich nicht weiter einmischen, nur an das eine möchte ich dich noch mahnen: ohne Strenge wird kein Kind erzogen. Erinnere dich, wie hart wir beide erzogen wurden.«</p>
<p>»Gewiß,« sagte die Patin, »das gebe ich ja zu, Strenge muß sein.«</p>
<p>»Nun ja, das wollte ich auch nur betonen; wenn du es in diesem besonderen Fall durchaus nicht für angemessen hältst, so will ich da nicht eingreifen.« So klang die Unterredung noch versöhnlich aus. Ein paar Stunden später war der Vormund auf der Heimreise begriffen.</p>
<p>Wenn wir es mit Klärchen gut meinen, so müssen wir uns jetzt nach ihrem verlorenen Wickelkind umsehen.</p>
<p>Ein altes Mütterchen, das an seinem Fenster saß, während Herr Stahlhammer mit Klärchen vorüberging, hatte die Puppe fallen sehen. Sie öffnete das Fenster; es ging nur nicht so schnell, denn zuerst mußte vorsichtig der Vorhang weggezogen werden. Als sie sich hinauslehnte, waren die Beiden schon ein gutes Stück vom Haus weg und der schwache Ruf der Frau wurde vom Wagengerassel übertönt. Ein kleiner Junge sprang vorüber. »Reich’ mir die Puppe herauf!« rief die alte Frau, und so kam das verlorene Gut in ihre Hände. Sie hatte das ängstliche Zurückschauen Klärchens bemerkt und der schmerzliche Blick ging ihr nach. Wenn sie sich auch immer wieder sagte: »Ein dummes Dinglein ist’s gewesen, daß es seine Puppe nicht aufgehoben hat, es geschieht ihr recht,« so konnte sie sich doch nicht eher beruhigen, als bis sie in das Anzeigeblatt eine Anzeige eingesandt hatte: »Eine Wickelpuppe gefunden. Bahnhofstraße 5 p.«</p>
<p>Als am nächsten Tag Frau Professor Kuhn nach ihrer Gewohnheit den Anzeiger las, fiel ihr Blick auf das Wort »Wickelpuppe«. Sie hatte ja erst mit so viel Liebe eine solche Puppe gekleidet. Gut, daß Klärchen in der Eile wenigstens ihre Schätze noch mitgenommen hatte. Wie traurig, wenn sie auch ihr Wickelkind entbehren müßte! Wo hatte man die Puppe gefunden? In der Bahnhofstraße. Durch die mußte Klärchen mit dem Vormund gekommen sein. Wie merkwürdig, daß zwei Wickelpuppen an diesem Wintertag durch die Bahnhofstraße getragen wurden! Oder sollte es gar die von Klärchen sein? Ja, das Kind hatte so vielerlei zu tragen gehabt; gewiß hatte es die Puppe fallen lassen, ohne es zu bemerken. Die Tante hatte kaum vor den Kindern diese Befürchtung ausgesprochen, als auch Heinrich schon davonrannte nach der Bahnhofstraße. Frohlockend kam er nach kurzer Zeit mit dem kostbaren Gut zurück. Das Lächeln der Vorübergehenden, die den Lateinschüler so fröhlich mit der Wickelpuppe springen sahen, beachtete er nicht. Die Leute meinten wohl, es sei eine gewöhnliche Puppe, ein Spielzeug; aber das war es ja nicht, es war etwas anderes, war Klärchens Ein und Alles!</p>
<p>In der Familie des Professors hatte Klärchens Entführung allgemeine Entrüstung hervorgerufen, und nun, da noch das Mitleid hinzukam, reifte bei Konrad ein Entschluß. Er wollte die Puppe nach Waldeck bringen und dort bleiben über die ganzen Weihnachtsferien, um zu sehen, ob Fräulein Stahlhammer immer so hart gegen ihr Patchen sei, wie es ihnen allen am heiligen Abend erschienen war. Als er am Familientisch diesen Vorschlag machte, kamen von allen Seiten Entgegnungen.</p>
<p>»Fräulein Stahlhammer wird jetzt niemand aus unserem Haus willkommen heißen,« meinte der Onkel; die Tante fürchtete, der Vormund werde es nicht billigen; Heinrich fand, daß er überall sonst seine Ferien lieber zubringen würde als bei Fräulein Stahlhammer. Aber allen wäre es von Wert gewesen, Näheres zu erfahren über Klärchens neue Heimat, und so war das Ende der Beratung doch, daß Konrad nach Waldeck gehen und dort sein Glück probieren solle. Er schnürte sein Bündelchen und machte sich auf den Weg.</p>
<p>An diesem Tag ging Klärchen so müßig umher, daß es der Patin auffallen mußte, denn sie war gewöhnt, die Kleine immer mit ihrer Puppe beschäftigt zu sehen. »Wo ist denn heute deine Puppe?« fragte sie. Klärchen erschrak, nach Mines Warnung wagte sie nicht die Wahrheit zu sagen. »Hole doch deine Puppe herein,« wiederholte Fräulein Stahlhammer, »wo hast du sie denn?«</p>
<p>»Ich weiß nicht,« sagte Klärchen.</p>
<p>»So suche oder frage Mine danach.«</p>
<p>Klärchen ging in die Küche. »Mine, was soll ich sagen, die Patin fragt nach der Puppe?«</p>
<p>»Sagst nur, du habest sie bei der Tante gelassen.«</p>
<p>»Ich habe aber schon gesagt, daß ich nicht wisse, wo sie ist.«</p>
<p>»Dann sagst du wieder so.«</p>
<p>Lange scheute sich die Kleine, wieder ins Zimmer zu gehen; als sie es endlich tat, stand Fräulein Stahlhammer in Hut und Mantel da, im Begriff, einen Ausgang zu machen. Klärchen hoffte schon, sie würde nicht mehr gefragt, aber das erste Wort der Patin war: »Nun, hast du die Puppe? Hast du sie nicht gefunden? Und Mine auch nicht?« Die Kleine war in sichtlicher Verlegenheit, die Patin merkte, daß etwas nicht in Richtigkeit war. »Nun sag’ mir einmal, wo sie ist, Klärchen?« Da schlug die Kleine die Augen nieder und sagte: »Ich weiß nicht.«</p>
<p>Fräulein Stahlhammer suchte Mine auf. »Das Kind will mir nicht sagen, wo die Puppe ist. Wissen Sie etwas davon?«</p>
<p>»Ach, das arme Wurm getraut sich’s nur nicht zu gestehen, sie hat ja die Puppe mit auf die Reise genommen und unterwegs verloren.«</p>
<p>Fräulein Stahlhammer war peinlich berührt. Das Kind hatte Mine ihr Vertrauen geschenkt, ihr selbst aber die Unwahrheit gesagt. Ja, diesmal mußte Strafe sein; das war ein anderer Fall, lügen durfte das Kind nicht, um keinen Preis. Als sie wieder ins Zimmer kam, warf die Kleine einen ängstlichen Blick auf sie, ein böses Gewissen war deutlich auf dem Gesicht geschrieben. »Klärchen,« sagte die Patin, »warum hast du mir nicht gesagt, daß du deine Puppe verloren hast? Warum hast du gesagt: ich weiß nicht? Da hast du mich angelogen, und das ist ganz abscheulich, so mag ich dich nicht, und so mag der liebe Gott dich nicht. Sieh, wenn ein Kind so böse ist, dann wird es genommen und zur Strafe da hinauf gesetzt.« Mit diesen Worten faßte Fräulein Stahlhammer die kleine Gestalt, hob sie hoch hinauf und setzte sie oben auf den Schrank, der an der Wand stand. Die Kleine schrie, streckte beide Arme ängstlich an die Wand und wagte gar nicht, von der Höhe herunter zu schauen. »Da bleibst du nun sitzen,« sagte Fräulein Stahlhammer, »und nimmst dir vor, daß du ein andermal nicht mehr lügen willst. Alle unartigen Kinder werden da oben ganz brav. Sei nur still, denn solange du noch weinst, bist du noch ganz unartig und fällst vielleicht herunter. Wenn du aber brav sein willst und ruhig, dann kannst du gar nicht fallen, und wenn ich heimkomme, hebe ich dich herunter.«</p>
<p>Als Klärchen das hörte, war sie ganz still; die Patin ging. Draußen sagte sie noch zu Mine: »Ich habe das Kind zur Strafe auf den Schrank gesetzt. Wenn ich in einer halben Stunde nicht kommen sollte, dann holen Sie sie herunter, aber früher nicht.«</p>
<p>Die Patin ging; neugierig schlich Mine sich ins Zimmer. Wirklich, da saß die Kleine hoch droben, regungslos an die Wand gedrückt. Mine fühlte sich selbst schuldig, ihr Gewissen schlug, gerne hätte sie die Kleine aus ihrer Lage erlöst. »Ich möchte dich gerne herunterholen, Klärchen,« sagte sie, »aber wenn die Patin vielleicht noch einmal umkehrt, zankt sie.«</p>
<p>»Nein, du darfst mich nicht holen, sonst falle ich,« sagte Klärchen. »Bloß, wenn man brav ist, hält man fest, die Patin hat’s gesagt. Gelt, ich bin jetzt brav? Ich lüge jetzt nicht und ich lüge auch das nächstemal nicht, wenn ich ein Wickelkind verliere. Gelt, dann kann ich gar nicht fallen?«</p>
<p>»Nein, nein, du fällst nicht,« beruhigte Mine. Sie hatte wirklich Mitleid. »Ich gehe schnell hinaus, weil jemand geklingelt hat, aber dann komme ich gleich wieder herein zu dir.« Geklingelt hatte Konrad. Daß er gerade in diesem Augenblick erschien, paßte Mine vortrefflich; er sollte nur seine kleine Schwester in ihrer traurigen Lage sehen, das konnte schon zu dem Entschluß beitragen, sie nicht hier zu lassen. Sie führte ihn unvorbereitet ins Zimmer und der gute Junge erschrak, als er sein Klärchen in solcher Höhe erblickte. Sie aber strahlte, als sie ihn hereinkommen sah. »Konrad, Konrad!« rief sie, wagte sich aber nicht zu rühren. »Fräulein Stahlhammer hat sie da hinauf gesetzt,« sagte Mine, »zur Strafe; ich darf es nicht herunterholen, das arme Kind. Gut, daß Sie da sind, dann ist sie doch nicht so allein, denn ich sollte kochen,« und sie eilte in die Küche.</p>
<p>Konrads erster Gedanke war, wie er wohl seine Schwester befreien könne, denn er war empört, sie in dieser hilflosen Lage zu finden. Aber als er nur ein Wort von seiner Absicht sagte, wehrte Klärchen ab. »Ich muß bleiben,« sagte sie, »bis die Patin heimkommt, ich muß still sein, daß ich nicht falle.« »Aber was hast du denn Böses getan?« fragte Konrad, und mit tiefem Ernst im Gesichtchen antwortete die Kleine: »Gelogen!« Das war auch nach Konrads Ermessen ein ernster Fall. »Wegen meinem Wickelkind,« sagte Klärchen. »Konrad, es ist in den Schnee gefallen,« und nun brach wieder der Jammer hervor. Aber da hatte Konrad den besten Trost. Schnell packte er sein kleines Ränzchen aus und hob hoch in die Höhe, daß es Klärchen wohl hätte erreichen können, das wiedergefundene Kleinod. Aber so groß auch ihr Verlangen war, sie wagte nicht, sich vorzubeugen. »Mein Wickelkind!« rief sie und winkte zärtlich mit den Händchen. »Warte, ich bringe dir’s.« Mit diesen Worten zog Konrad einen Tisch herbei, stieg hinauf und legte die Puppe in Klärchens Arme und nun, da er doch schon so hoch war, schwang er sich vollends auf den Schrank, setzte sich neben die kleine Schwester, legte den Arm hinter sie, und so beschützt fühlte sich die Kleine ganz glücklich; streichelte bald den Bruder, bald die Puppe, bekannte auch ihre Unwahrheit und nahm die brüderlichen Ermahnungen zur Wahrhaftigkeit sehr ernst auf.</p>
<p>Während so das Geschwisterpaar nebeneinander saß, kam Fräulein Stahlhammer mit eilenden Schritten schon wieder auf ihr Haus zu. Sie hatte mehrere Besorgungen machen wollen, aber sie war kaum eine Viertelstunde aus dem Haus gewesen, als der Gedanke an Klärchen sie beunruhigte. Wenn das Kind herunterfiele? Aber sie selbst war auf diesem Strafplatz als kleines Mädchen auch gesessen und öfter als einmal ihr Bruder, und man konnte doch von dem breiten festen Schrank gar nicht herunterfallen. Aber Klärchen war zarter, ängstlicher, wenn sie sich zu sehr aufregte oder wenn sie einschliefe? Nein, sie wollte lieber ihre Ausgänge ein andermal machen und heimgehen. »Ich hätte nicht fortgehen sollen,« sagte sie sich, »aber meine Mutter ist auch einmal fortgegangen.« Ja, Fräulein Stahlhammer wußte es noch genau, ihr Bruder war wohl schon eine Stunde lang zur Strafe droben gesessen, und so oft ihn die Mutter fragte, ob er nun brav sein wolle, hatte er trutzig die Antwort verweigert. So war die Mutter fortgegangen und er hatte bis Abend ausharren müssen. Ob wohl auch Klärchen so trutzig sein würde? Wie würde sie sie wohl finden? Ungewöhnlich rasch stieg sie die Treppe hinauf, schloß die Wohnung auf und öffnete mit wahrem Herzklopfen die Türe des Zimmers. An viele Möglichkeiten hatte sie gedacht, aber an die nicht, daß statt eines Kindes zwei auf dem Schrank sitzen würden. Wie ein Schutzengel erschien ihr der Knabe da oben, der die ängstliche Kleine umschlungen hielt; nur waren die langen Beine, die da in beschmutzten Stiefeln am Schrank herunter hingen, so gar nicht engelhaft anzusehen. Und nun machte der Schutzengel einen Satz herunter auf den Tisch, von da auf den Boden, grüßte in einiger Verlegenheit und sagte: »Ich bin gerade zufällig mit der Puppe gekommen und habe sie Klärchen hinaufgereicht.«</p>
<p>Im ersten Augenblick war Fräulein Stahlhammer nur glücklich gewesen, daß sie das Kind wohlbehalten vor sich sah, im zweiten dachte sie: Hätte lieber mein Bruder statt ihr Bruder Klärchen so getroffen. Was wird er denken und daheim berichten von mir! »Klärchen ist in Strafe,« sagte sie jetzt, »weil sie mir die Wahrheit nicht gesagt hat. Aber sie will jetzt gewiß wieder brav sein,« fuhr sie fort, sich zu dem Kinde wendend und voll Sorge, ob es nun einen peinlichen Auftritt geben werde. »Ich bin schon die ganze Zeit brav gewesen,« sagte Klärchen, »der Schrank hat auch gar nicht gewackelt.«</p>
<p>»So ist’s recht,« sagte die Patin, der es ganz leicht ums Herz wurde, »dann komm, mein Kind!« Und sie faßte Klärchen und hob sie herunter.</p>
<p>Es war inzwischen Mittag geworden und Fräulein Stahlhammer lud Konrad zu Tisch. Er nahm es dankbar an; noch hatte er die Frage nicht über die Lippen gebracht, ob er einige Tage bleiben dürfe. Daheim war er wie ein Märtyrer angesehen worden, daß er seine Ferienzeit bei Fräulein Stahlhammer zubringen wollte, jetzt aber kam er sich nur wie ein zudringlicher Gast vor. Die Schwester kam ihm unwillkürlich zu Hilfe.</p>
<p>»Darf denn der Konrad jetzt oft da essen?« fragte sie und rückte ihren Stuhl ganz dicht an den seinigen.</p>
<p>»Das will er selbst nicht,« sagte Fräulein Stahlhammer, »sonst dürfte er’s wohl.«</p>
<p>»O doch, ich möchte schon, wenn Sie es erlauben,« sagte er, sich an die Patin wendend, »dürfte ich einige Tage dableiben?« Fräulein Stahlhammer schien betroffen. Sie hatte so ein unbestimmtes Gefühl, als habe man ihr einen Kundschafter ins Haus geschickt, denn freiwillig war noch nie ein Kind zu ihr gekommen.</p>
<p>»Warum möchtest du da bleiben?« fragte sie und sah ihn fest dabei an. Unwillkürlich erinnerte sich Konrad, wie er daheim gesagt hatte, er möchte dahinter kommen, wie Fräulein Stahlhammer eigentlich sei, und das harte Urteil, das man über sie gefällt hatte, kam ihm ins Gedächtnis. Er geriet in sichtliche Verlegenheit; den wahren Grund konnte er nicht angeben, Ausflüchte zu machen war er nicht gewöhnt. Aber Fräulein Stahlhammer brauchte auch keine Antwort mehr. Sie wußte genug. Ruhig und fest, ihre große Gestalt stramm aufrichtend, sagte sie: »O ja, du kannst hier bleiben so lange du willst; dein Onkel und deine Tante können auch selbst kommen, und es ist mir sogar lieber, sie bleiben länger da als wenn sie, wie dein Onkel an Weihnachten, auf fünf Minuten kommen und dann ganz falsche Eindrücke mit wegnehmen.«</p>
<p>Es war gut, daß Klärchen in der Herzensfreude über des Bruders längeren Besuch voll Fröhlichkeit war und harmlos plauderte, sonst wäre das Mittagessen wohl etwas peinlich gewesen.</p>
<p>Fräulein Stahlhammer war unwillkürlich zurückhaltend; es lag ihrem Wesen fern, sich einen guten Schein geben zu wollen; sie war in diesen Tagen eher weniger herzlich gegen Klärchen als sonst, und das Kind, da es seinen geliebten Bruder als Gespielen hatte, wandte sich nie an die Patin. Die Geschwister waren viel allein miteinander und da ging der Kleinen das Herz auf, und allmählich kam alles zu Tag, was sie erlebt hatte. Immer kehrte in ihren Berichten der Satz wieder: »Das darf man nicht vor der Patin sagen, Mine hat es verboten.« Auch daß Mine oft fortging und Klärchen ganz allein zu Hause ließ, kam unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit heraus, und Konrad war noch keine acht Tage im Haus, als er schon den Eindruck hatte, daß die anscheinend so wohlmeinende Mine auf sein Schwesterchen nur einen schlimmen Einfluß ausübe, obwohl er nicht recht durchschauen konnte, warum. Mit schwerem Herzen trennte er sich, als die Feiertage vorüber waren, von der Kleinen, die ihn nicht ziehen lassen wollte. Es war ihm, als ließe er sie unter Fremden, während er selbst in einen trauten, fröhlichen Familienkreis heimkehren durfte.</p>
<p>Herr und Frau Professor Kuhn hatten inzwischen einen Beschluß gefaßt. Wenn Konrad mit ungünstigen Berichten zurückkäme, so wollten sie an Ostern, wo einer ihrer Kostgänger abgehen würde, dem Vormund anbieten, Klärchen zu sich zu nehmen.</p>
<p>Und nun kam Konrad, noch betrübt von dem Abschiedsschmerz, und gleich der Beginn seiner Erzählung, wie er die Kleine auf dem Schrank in Strafe getroffen habe, weil sie nicht gewagt habe, das Ungeschick mit der Puppe einzugestehen, erregte einen Sturm der Entrüstung; und als er noch den zweifelhaften Einfluß Mines hervorhob, wurde beschlossen, noch heute an den Vormund zu schreiben. Der Professor faßte einen Brief ab, in dem er sich erbot, Klärchen zu sich zu nehmen, da sie ja nur auf Probe bei Fräulein Stahlhammer untergebracht sei. Die Geschwister wären wohl am glücklichsten, wenn sie beisammen wären.</p>
<p>Herr Stahlhammer saß eben am Frühstück, als der Brief ankam. Er erbrach ihn schon mit gerunzelter Stirne und sie wurde nicht heller beim Durchlesen. Am nächsten Sonntag fuhr er zu seiner Schwester hinaus und legte den Brief vor sie. »Da lies,« sagte er, »dieses Getue mit dem Kind ist mir allmählich zuwider.« Fräulein Stahlhammer las den Brief. Der Kundschafter hatte also keine befriedigende Kunde gebracht. Das tat ihr weh. Sie tat doch an dem Kind was sie konnte. Sie hätte es vielleicht selbst nach einem halben Jahr gern abgegeben, aber daß diese Familie es ihr abverlangte, verletzte sie. Konrad war nett gewesen, sie hatte ihm zugetraut, daß er Gutes berichten würde. Er kam ihr falsch vor. »Was soll ich den Leuten antworten?« fragte ihr Bruder.</p>
<p>»Daß ich das Kind behalten will,« sagte Fräulein Stahlhammer bestimmt.</p>
<p>»Dauernd?«</p>
<p>»Ja, dauernd!«</p>
<p>»Das ist mir sehr angenehm, Schwester. Ich werde dem Professor Bescheid geben und dann wird hoffentlich von dem Mädchen nicht mehr gesprochen, bis es konfirmiert ist; wenn alle Mündel so viel Plage machten, fände man keinen Vormund mehr!« Diesmal zog der Rat sehr befriedigt heimwärts und schrieb ganz artig, er danke für den Vorschlag; seine Schwester wolle das Kind dauernd behalten, es sei dort in vorzüglicher Pflege.</p>
<p>Als nach ihres Bruders Weggehen Fräulein Stahlhammer ihr Pflegekind aufsuchte, und es allein in einer Ecke des Schlafzimmers still sitzend fand, kam es ihr vor, als habe sie dem Kind ein schweres Leid angetan. Ein fröhlicher Familienkreis hatte sich ihr geboten und sie hatte es daraus verbannt durch ihr Wort: »Ich will es behalten.« Und dieses Wort hatte sie nicht aus edlen Gründen gesprochen.</p>
<p>Bitter enttäuscht waren die Brüder, als die abschlägige Antwort des Vormunds eintraf. Zu ändern war daran nichts mehr, das sahen sie ein, aber etwas konnte doch getan werden, so dachte wenigstens Heinrich und er schmiedete ganz im stillen Pläne. Mußte Klärchen bei der Patin bleiben, so sollte wenigstens Mine fort, und das wollte er bewerkstelligen.</p>
<p>Am nächsten Sonntag wanderte er ganz allein nach Waldeck. Von vier bis sechs Uhr war die Patin im Verein der Dienstmädchen, das wußte er. Er strich ums Haus herum, bis er die hohe Gestalt der Fräulein Stahlhammer über die Straße schreiten sah, und bis sie endlich seinen Blicken in der Ferne entschwand; dann ging er hinauf und als ihm Mine öffnete, folgte er ihr in die Küche, ohne nach seiner Schwester zu fragen. Heinrich war ein gut Stück kleiner als Konrad, sah noch recht kindlich aus für seine zwölf Jahre, aber ein schelmisches, aufgewecktes Gesicht sah unter dem welligen Haar hervor.</p>
<p>»Was willst du denn von mir, Heinrich?« fragte das Mädchen verwundert. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Mine,« sagte er und zog aus seiner Tasche ein Zeitungsblatt hervor. Neugierig sah sie hinein, als er das Blatt aufschlug. »Da lesen Sie einmal, Mine, das ist unser Lokalanzeiger, da sind lauter schöne Stellen für Dienstmädchen ausgeschrieben. Zum Beispiel da: »Ein Dienstmädchen gesucht bei hohem Lohn,« und da »Bei guter Behandlung« und vollends die Anzeige müssen Sie lesen »Alljährlich steigender Lohn und beste Behandlung.« Mit großer Aufmerksamkeit folgte Mine Heinrichs Fingerzeig. »Fein,« sagte sie, »aber ich will ja gar nicht fort von hier.«</p>
<p>»Warum denn nicht? In der großen Stadt ist’s doch schöner.«</p>
<p>»Schon, aber ich habe hier einen guten Bekannten.«</p>
<p>»Ach, gute Bekannte bekommen Sie bei uns auch, sogar einen Jungfrauenverein gibt’s.«</p>
<p>»Das ist doch wieder was anderes,« sagte Mine, »und warum soll ich denn fort?«</p>
<p>»Ich habe eben so gedacht,« sagte der Schelm ganz ernsthaft, »das Klärchen macht doch schon Arbeit und wenn nun mein Bruder und ich auch noch kommen –«</p>
<p>»Zu uns? Ins Haus? Für ganz?«</p>
<p>»Wir Geschwister möchten eben gern beisammen sein und Platz ist ja da. Wir haben freilich viele Sachen. Zum Beispiel meine Raupensammlung; die müßte ich schon in der Küche aufstellen, denn im Zimmer paßt das nicht, weil die Raupen doch manchmal durchgehen.«</p>
<p>»Pfui tausend, sei mir still davon,« sagte Mine.</p>
<p>»Oho, meine Raupen sind schön, da sehen Sie doch einmal,« und auf einmal zog er aus seiner Tasche ein Gläschen, in dem ein paar Raupen von der dicksten Sorte herumkrochen. Er band es auf, Mine wich ein paar Schritte zurück, er folgte ihr.</p>
<p>»Geh mir weg mit dem häßlichen Getier, ich kann’s nicht leiden.«</p>
<p>»So? das ist aber ärgerlich. Denn wo ich bin, da sind auch Raupen und beim besten Willen kann man das nicht vermeiden, daß sie manchmal herumkriechen.«</p>
<p>»Schöne Aussicht!«</p>
<p>»Darum meine ich eben auch, ob Sie nicht einen andern schönen Dienst suchen wollen?«</p>
<p>»Ja, wenn drei Kinder ins Haus kommen und Ungeziefer dazu, dann gern. Es gibt ja auch hier Plätze genug. Mach doch dein Raupenglas wieder zu.«</p>
<p>»Gleich, gleich, lassen Sie doch sehen, ich meine, es krabbelt schon eine an Ihrem Rücken, ja, jetzt kommt sie an den Hals.« Mine tat einen lauten Schrei. »Tu sie weg, du abscheulicher Bub du, gleich tu sie weg!«</p>
<p>»Ja,« sagte Heinrich, »aber sachte, daß ihr nichts geschieht, es ist eine von meinen größten,« und der Schlingel berührte Mine sachte am Hals, so daß sie die Raupe zu verspüren meinte. »Ich bitte dich, Heinrich, sei so gut, nimm sie weg.«</p>
<p>»Ja, wenn Sie mir versprechen, daß Sie gehen.«</p>
<p>»Gern, gern, ich mag ja gar nicht mehr bleiben. Ist das Tier weg?«</p>
<p>»Gleich kommt’s weg. Gehen Sie im nächsten Monat?«</p>
<p>»Ja, ja, auf den Ersten, so bald wie möglich.«</p>
<p>»Dann ist’s recht; da ist ja schon die Raupe wieder im Glas, sehen Sie nur.« Lachend lief er dem zürnenden Mädchen davon. »Jetzt will ich zu Klärchen,« sagte er.</p>
<p>Als sich Mine ein wenig beruhigt hatte, nahm sie das Zeitungsblatt wieder; die feine Stelle mit dem alljährlich wachsenden Lohn fesselte sie doch und gab ihr zu denken; schließlich konnte man seine guten Bekannten auch von der Stadt aus treffen. Heinrich machte sich zeitig auf den Heimweg. Er war in vergnügter Stimmung. Der erste Plan war gelungen, nun kam der zweite. Zu Hause sagte er gar nichts davon, denn Onkel und Tante wollten sich nicht in die Angelegenheiten von Fräulein Stahlhammer mischen; es war ja auch nicht nötig, das konnte er schon selbst besorgen. Er wollte auch Konrad nicht einweihen, denn der hatte immer so vielerlei Bedenken und würde auch jetzt immer nur sagen: »Das geht nicht.« Es mußte aber fein gehen!</p>
<p style="text-align: center;">VII.</p>
<p>Unter der großen Anzahl von Dienstmädchengesuchen konnte man am nächsten Tag im Lokalanzeiger lesen: »Es wird ein recht gutes, freundliches Dienstmädchen gesucht bei stets steigendem Lohn. Näheres um zehn Uhr im Gymnasiumshof.«</p>
<p>Als der Zeitungsträger den Lokalanzeiger wie jeden Tag mittags ins Haus brachte, sah Heinrich ganz begierig nach: richtig, da kam seine Anzeige unter vielen andern. Er war überzeugt, daß niemand außer Stellensuchenden diese Anzeige lesen würde und daß er gewiß ganz unvermerkt während der Unterrichtspause, die von zehn bis ein Viertel auf elf Uhr stattfand, in den Hof des Gymnasiums gehen und sich unter den Dienstmädchen, die da kommen würden, die freundlichste heraussuchen könne. Name und Wohnung der Patin hatte er schön deutlich auf einen Zettel geschrieben, den wollte er dann der Auserwählten geben, damit sie sich Fräulein Stahlhammer anbiete. Nur durfte sie nicht sagen, wer sie geschickt habe; wenn sie ihm nur das gewiß versprach!</p>
<p>Es hatte aber doch noch jemand anders als nur Dienstmädchen die Anzeige gelesen. Der Schuldiener des Gymnasiums hatte eine Frau, die von der ganzen Zeitung nichts las als die Anzeigen, diese aber gründlich. Sie brachte am Abend ihrem Mann das Blatt. »Da sieh doch nur, wer kann das sein, der die Dienstmädchen in unseren Hof bestellt!« Der Schuldiener machte ein ernstes Gesicht. »Das ist ein Unfug,« sagte er »und muß dem Herrn Rektor gemeldet werden!«</p>
<p>»Laß mich nur erst besinnen,« sagte die Frau, »es kommt doch darauf an, wer’s ist; das bring ich schon heraus, es muß ja von unseren Professoren jemand sein. Einer, der nicht will, daß das Mädchen sich in der Wohnung zeigt, weil der alten noch nicht gekündigt ist. Der Herr Rektor selbst ist’s natürlich nicht, der Herr kümmert sich nicht um das Dienstpersonal, und von den alten Herren täte so etwas auch keiner. Weißt du, wer das ist? Niemand anders als der neue Mathematikprofessor. Bei dem ist immer Magdnot, sie ist keine rechte Hausfrau und er ist ein guter Mann und ein absonderlicher. Der macht sich gar nichts daraus, wenn’s seine Frau haben will, und läßt die Mädchen kommen und schaut sie durch seine Brille an und nimmt dann natürlich die ungeschickteste. Da muß ich schon um den Weg sein und zum Rechten sehen, daß er nicht gar so dumm hineintappt. Brauchst dem Rektor nichts zu sagen.«</p>
<p>Aber der Diener kannte seine Pflicht. Er ließ seine Frau reden und brachte das Zeitungsblatt dem Rektor der Anstalt, einem älteren ruhigen Herrn, dem schon Schwierigeres im Leben vorgekommen war. Ihm teilte er auch die Vermutung seiner Frau mit. »Es kann ja sein, daß Professor Graun, der hier noch fremd ist, auf diesen etwas wunderlichen Gedanken kam,« sagte der Rektor, »ich werde ihn vorher fragen, dann kann die Sache noch anders eingerichtet werden. Es wäre mir lieb, wenn sich Ihre Frau nicht einmischte, können Sie das verhindern?« fragte er mit feinem Lächeln.</p>
<p>»Herr Rektor, Sie wissen ja selbst, sie ist ein wenig neugierig, sozusagen gewalttätig; man bringt sie nicht recht aus dem Weg, wenn so etwas los ist.« »Nun es wird sich schon machen lassen,« sagte der Rektor, »die Sache ist ja gar nicht so vieler Worte wert. Wenn Professor Graun morgen früh kommt, so bitten Sie ihn, einen Augenblick zu mir zu kommen.« Damit war der Diener entlassen.</p>
<p>Am nächsten Morgen vor acht Uhr, als der Mathematikprofessor ins Gymnasium kam, wurde ihm der Auftrag des Rektors ausgerichtet.</p>
<p>»Wissen Sie vielleicht, wer diese Anzeige eingerückt hat?« fragte der Rektor.</p>
<p>»Nein, davon habe ich keine Ahnung.« Der Rektor ging in den großen Gang, der in dem alten Gymnasiums-Gebäude auf drei Seiten den Hof umschloß. Durch diesen Gang hatten die Klassenzimmer ihren Eingang. Mit dem Anzeiger in der Hand stellte sich der Rektor an eines der Fenster. Um diese Zeit herrschte hier lautes Leben, alle die Schüler polterten die Treppe herauf und trabten über den Gang nach ihren verschiedenen Zimmern, dazwischen war der langsamere, festere Tritt der Lehrer hörbar. Heute wurde von letzteren ein jeder abgefaßt; der Rektor fragte nach der Anzeige, aber keiner wollte etwas davon wissen. Unter diesen Professoren war auch Heinrichs Onkel. Professor Kuhn aber ahnte ebensowenig wie die andern den Urheber der Anzeige und konnte darüber keinen Aufschluß geben. Allmählich kamen nur noch vereinzelte Schüler, jetzt schlug es 8 Uhr, und die größte Stille herrschte in dem noch eben so belebten Gebäude, der Unterricht begann.</p>
<p>Schlag 10 Uhr ertönte unten in des Dieners Wohnung ein zweimaliges Glockenzeichen; dies war der verabredete Ruf, dem die Frau des Dieners in das Rektoratszimmer zu folgen hatte. Sie stand schon am Posten am Eingang des Hoftors, ihre Neugierde war aufs höchste gespannt. Nein, wie fatal, gerade in dem Augenblick klingelte ihr der Rektor. Diesmal sollte nur ihr Mann an ihrer Stelle gehen. »Peter!« rief sie, Peter!« Von Peter kam keine Antwort, dagegen wiederholte sich noch etwas stärker das Glockenzeichen; da gab es kein Besinnen mehr. Sie ging die Treppe hinauf, so schnell als es ihr, der wohlbeleibten Frau, möglich war. Einen Blick warf sie noch zurück, ehe sie den Hof aus dem Auge verlor, und da glaubte sie gerade noch ein Mädchen, ein ganz fein gekleidetes, durch das Hoftor kommen zu sehen. Der Rektor wartete schon unter der Türe seines Zimmers auf sie.</p>
<p>»Gehen Sie sogleich hinauf in die Bodenkammer und holen Sie mir aus dem Kasten Nr. 5 alle diejenigen Hefte, die mit Klasse IX Jahrgang 88 bezeichnet sind.«</p>
<p>Ach, das war bitter! Bis diese Hefte ausgesucht waren, ging jedenfalls eine Viertelstunde hin! Eine so bedeutsame Viertelstunde! An eine Widerrede war nicht zu denken, sie mußte hinauf in die Bodenkammer. Aber etwas Glück ist doch meist beim Unglück, der Kasten Nr. 5 stand nahe bei der Dachlücke, und aus dieser herunter konnte man den Hof überblicken. Und da sah denn die gute Frau von ihrer Höhe aus was vorging. Die Schüler rannten wie alle Tage während der Pause in den Hof hinunter, der Herr Rektor und die Herren Professoren blieben aber nicht wie sonst in der kalten Jahreszeit in ihren Zimmern; einer nach dem andern erschien auf dem Gang, offenbar war jeder neugierig zu sehen was im Hof vor sich ging; auch Professor Kuhn war unter ihnen; und hinter seinem Fenster im Erdgeschoß blickte der Schuldiener hervor.</p>
<p>Nun kam von der Straße herein durch den Torweg ganz unbefangen ein Dienstmädchen und sah sich um, nicht ahnend, daß sie von so vielen gestrengen Herren beobachtet wurde, denn sie traten alle etwas zurück, um nicht bemerkt zu werden. Unter den herumtollenden Knaben trat einer auf das Mädchen zu. Es war Heinrich. »Das ist der kleine Schubert,« sagte einer der Lehrer zu dem andern. »Ihr Kostgänger, nicht wahr, Herr Professor Kuhn?«</p>
<p>»Mein Neffe und Pflegesohn. Sie sind verwaist, die beiden Schuberts.«</p>
<p>»Ein aufgeweckter, netter Bursche; von allen merkt keiner außer ihm, daß dies Mädchen jemanden sucht.«</p>
<p>»Ja, er ist immer dienstfertig, und wie eingehend er Bescheid gibt!«</p>
<p>»Der betreffende Herr oder Dame, die die Mädchen hierher bestellt hat, scheint sich verspätet zu haben; aber da kommt schon wieder eine, das ist eine stattliche Person; und richtig, der kleine Schubert nimmt sich ihrer wieder an.«</p>
<p>Die Herren Professoren lachten. Hätten sie das Zwiegespräch zwischen dem Dienstmädchen und Heinrich gehört, so wären sie wohl erstaunt gewesen.</p>
<p>»Ich habe mir ja gleich gedacht, daß das nichts Rechtes ist,« sagte die große stattliche Köchin, »nur weil ich gerade vom Markt komme, hat mich die Neugier hereingetrieben, wer sich denn die Mädchen in den Gymnasiumshof bestellt. Daß es nur so ein kleiner Lausbub ist, hätte ich mir aber doch nicht gedacht.«</p>
<p>»Es ist aber eine ganz gute Stelle,« sagte Heinrich, »und ich hab’s getan wegen meiner kleinen Schwester.«</p>
<p>»Was wär’ denn hernach der Lohn?« fragte die Köchin von oben herab.</p>
<p>»So genau weiß ich das nicht,« sagte Heinrich und dann, da hierauf das Mädchen höhnisch lachte und so gar nicht gutmütig aussah, fügte er offenherzig hinzu: »Ein besonders gutes Mädchen müßte es aber sein!«</p>
<p>»Ja, ja, und eine rechte dumme dazu! Sieh, da kommt so was, das sieht dumm genug aus, um auf deinen Leim zu gehen.« Die Große verschwand, ein kleineres, vielleicht siebzehnjähriges Mädchen erschien im Hof, und diesmal ging Heinrich gleich auf sie zu.</p>
<p>Oben bemerkte der Rektor: »Man könnte meinen, der kleine Schubert habe sie bestellt.«</p>
<p>»Ja, wahrhaftig,« sagte sein Klassenlehrer, »er ist oft ein rechter Schelm und hat närrische Einfälle.«</p>
<p>»Es kommt mir auch wunderlich vor,« meinte Professor Kuhn, dem es schon geraume Zeit unbehaglich zu Mute war, während er seinen Neffen beobachtete. Inzwischen hatte Heinrich in eiligen Worten – denn er fürchtete, das Ende der Pause möchte seine Unterhandlungen unterbrechen – dem Mädchen gesagt, er wisse eine feine Stelle bei einem alten Fräulein und einem herzigen kleinen Mädchen. Und dann schilderte er so rührend sein verwaistes Schwesterchen, daß er des Mädchens Teilnahme erregte. »Ich habe meine Mutter auch schon lange verloren,« sagte sie, »und deshalb bin ich schon seit meinem fünfzehnten Jahr im Dienst und hab’s so hart als Spülerin in einer Schenke. Wenn ich in ein so feines Haus kommen könnte!«</p>
<p>»Freilich können Sie, da ist Name und Wohnung aufgeschrieben. Fahren Sie nur gleich am Sonntag hinaus, aber ja nicht sagen, daß ich Sie geschickt habe, bloß: Sie hätten’s gehört, nicht von wem. Und wenn Sie erst mein Klärchen sehen, dann werden Sie sich gar nimmer besinnen!«</p>
<p>»Wie ist denn die Wohnung? Viele Zimmer und weiße Böden?«</p>
<p>»Ja freilich, Platz genug und alles sauber und rein.«</p>
<p>»Ich meine nur so, wenn’s so viele Zimmer sind, wegen dem Putzen, wenn alle Böden weiß sind –«</p>
<p>»Ja so, ich glaube, sie sind doch nicht weiß, mehr so bräunlich –«</p>
<p>»Vielleicht Parkett?«</p>
<p>»Ja, ja wahrscheinlich.«</p>
<p>»Parkett ist zum Reinigen fast noch anstrengender.«</p>
<p>»Ich glaube auch gar nicht, daß sie Parkett sind, wie heißt man die Böden, die so bequem sind zum Putzen?«</p>
<p>»Die angestrichenen.«</p>
<p>»Ja, ja, angestrichen sind glaube ich alle.«</p>
<p>»Und wie ist denn der Lohn?«</p>
<p>»Der ist hoch und alljährlich wachsend, so viel ich weiß. Fräulein Stahlhammer wird Ihnen das alles sagen.«</p>
<p>»Ist’s ein gutes Fräulein? Ich frage ja nur, weil’s das Kind nicht gut hat.«</p>
<p>»Ja so, ja das Fräulein ist in allen wohltätigen Vereinen und schreibt sehr schöne Briefe.«</p>
<p>»Ich wollte schon hinaus am Sonntag und mir’s ansehen, aber ums Fahrgeld ist mir’s halt.«</p>
<p>»Ach, ans Fahrgeld habe ich gar nicht gedacht; aber warten Sie nur, ich kann Ihnen schon etwas geben; dreißig Pfennig kostet die Fahrkarte, so viel habe ich vielleicht noch Taschengeld, aber die Anzeige war so teuer.« Heinrich zog sein Beutelchen. »Nein, siebenundzwanzig sind’s nur noch, aber drei können Sie wohl darauflegen?«</p>
<p>»Ja,« sagte das Mädchen gutmütig, »den letzten Pfennig will ich Ihnen auch nicht abnehmen, wenn ich nur zwanzig bekomme.«</p>
<p>»Gut,« sagte Heinrich, »dann habe ich doch noch sieben im Beutel, die Woche ist noch lang!«</p>
<p>Die Professoren hatten von Heinrichs Worten nichts verstehen können, aber als sie sahen, daß sich allmählich eine ganze Anzahl Schüler neugierig um die Beiden sammelte und daß Heinrich seinen Geldbeutel hervorzog, machten sie der Sache ein Ende; Professor Kuhn rief seinen Neffen herauf, gerade in dem Augenblick, als das kleine Dienstmädchen durch den Torweg verschwand.</p>
<p>Als Heinrich in fröhlicher Stimmung, dem Ruf seines Onkels folgend, die Treppe hinaufsprang, war er nicht wenig bestürzt, den ganzen Gang voll Professoren zu sehen, ja sogar den Rektor neben seinem Onkel und dem Klassenlehrer. Ihm ahnte nichts Gutes und sein Herz klopfte angesichts so vieler gestrenger Herren. Es begann auch sogleich ein peinliches Verhör. Der Rektor fragte zuerst: »Was hast du mit dem Mädchen im Hof gesprochen?«</p>
<p>Einen Augenblick zauderte Heinrich. So gewissenhaft wie sein älterer Bruder war er von Natur nicht und nicht immer hatte er bei seinen Streichen der Versuchung widerstanden, sich ein wenig herauszuschwindeln. Diesmal aber, in dem Gefühl, daß er in bester Absicht gehandelt hatte und auch unter dem Eindruck der Würdenträger, die vor ihm standen, hielt er mit der Wahrheit nicht zurück, sondern sagte gerade heraus: »Ich habe das Mädchen gedungen für Fräulein Stahlhammer, bei der meine kleine Schwester ist.«</p>
<p>»So war von dir diese Anzeige verfaßt?« fragte der Rektor.</p>
<p>»Ja,« sagte Heinrich, »die ist von mir.«</p>
<p>»Wer hat davon gewußt?«</p>
<p>»Wem hast du es vorher mitgeteilt?«</p>
<p>»Gar niemand.«</p>
<p>»Heinrich!« sagte der Onkel vorwurfsvoll, »weder der Tante noch Konrad?«</p>
<p>»Niemand,« sagte Heinrich, »sie wären doch alle dagegen gewesen.«</p>
<p>»Damit gibst du zu,« sagte langsam und nachdrücklich Heinrichs Klassenlehrer, »daß du dir wohl einer unrechten oder törichten Handlung bewußt warst.«</p>
<p>»Für unrecht habe ich’s nicht gehalten,« sagte Heinrich, »aber für anders als man’s gewöhnlich macht, und das wollen sie immer nicht.«</p>
<p>»Sie wollen es nicht? Wer ›sie‹?« fragte der Klassenlehrer scharf. »Wen meinst du mit diesem geringschätzigen ›sie‹?«</p>
<p>»Bloß die Menschen,« sagte Heinrich.</p>
<p>»Ich verstehe den Zusammenhang nicht,« sagte der Rektor, sich an Professor Kuhn wendend, »was kann ihn veranlaßt haben, für andere Leute ein Mädchen zu dingen? War er beauftragt?«</p>
<p>»Nein, es geschah offenbar aus Mitleid. Seine kleine Schwester wird in ihrem Kosthaus von dem Dienstmädchen allem Anschein nach nicht gut behandelt und beeinflußt; darüber waren die Brüder – und ich allerdings mit ihnen – sehr betrübt. Meine Frau und ich konnten uns aber der Verhältnisse wegen nicht einmischen, und so scheint er auf diesen Ausweg verfallen zu sein.«</p>
<p>»Nun,« fragte der Rektor, »und was hast du denn ausgerichtet? es sind wie mir scheint mehrere gekommen.«</p>
<p>»Ja, zwei waren nichts, aber die dritte ist fein, sie hat mir versprochen, daß sie nach Waldeck fährt.«</p>
<p>»Man darf vielleicht,« sagte der Onkel, sich an den Rektor und den Klassenlehrer wendend, »die Anhänglichkeit der drei erst kürzlich verwaisten Geschwister als Entschuldigung für Heinrich ansehen. Er hat es gut gemeint mit seiner Schwester.«</p>
<p>»Wenn Sie es so auffassen,« sagte der Rektor, »so schließe ich mich Ihnen an, Sie kennen die Verhältnisse. Ich sehe keine strafbare Handlung in dem Vorgefallenen; du kannst gehen, Heinrich.« Dieser ließ sich’s nicht zweimal sagen; wie ein Wiesel schlüpfte er zwischen den Herren hindurch, möglichst schnell, denn wer konnte wissen, ob die Sache nicht eine andere Wendung nehme; seinem Klassenlehrer traute er nichts Gutes zu, er sah ihn so ungnädig an. In der Tat sagte dieser auch etwas mißbilligend zum Rektor: »Er ist gut durchgekommen für diese unziemliche Handlung, fast zu gut.«</p>
<p>»Ja,« sagte der Rektor, »schicken Sie ihn nach Schluß der Schule noch einmal allein in mein Zimmer.«</p>
<p>Diese Worte waren sehr nach dem Sinn des gestrengen Lehrers; Heinrich aber war bestürzt, als er durch den Lehrer erfuhr, daß noch etwas nachkommen sollte. Er fand sich nach dem Schluß der Schule im Zimmer des Rektors ein. (Auf dem Tisch lagen die Hefte der IX. Klasse aus dem Jahrgang 88.) »Du bist heute ohne Strafe durchgekommen,« sagte der Rektor, »das verdankst du der Fürsprache deines Onkels. Mit väterlicher Treue ist er für dich eingetreten. Einen andern Mann an seiner Stelle hätte es gekränkt, daß du ohne sein Wissen solche Dinge unternimmst. Er hat bewiesen, daß er dich lieb hat. Hast du auch ihn lieb?«</p>
<p>»Ja,« sagte Heinrich, und das kam von Herzen.</p>
<p>»Dann beweise auch du es. Wie, das muß dir dein Herz sagen.«</p>
<p>»Ich will’s tun,« sagte Heinrich.</p>
<p>»Und noch etwas: du hast dich darüber beschwert, daß die Menschen nie etwas anders machen wollen, als man es gewöhnlich macht, und das war der Grund, warum du deine Absicht, ein Mädchen zu dingen, nicht vorher verraten hast, nicht wahr?«</p>
<p>»Ja,« sagte Heinrich, »es heißt immer: das kann man nicht, oder: so macht’s niemand.«</p>
<p>»Da hast du recht. Viele Menschen getrauen sich ihr ganzes Leben hindurch nicht, nach eigenen Gedanken zu handeln. Bei ihnen heißt es: so machen’s alle Leute.« »Ja, ja,« sagte Heinrich von Herzen zustimmend.</p>
<p>»Es soll mich freuen, wenn du einmal nicht zu denen gehörst, sondern wenn du später als Mann sagst: Ich tue, was gut und verständig ist, ob’s nun andere auch so machen oder nicht. Aber wohlverstanden: erst als Mann. So lange du noch jung und unselbständig bist, darfst du dir nicht herausnehmen, nach eigenem Gutdünken zu handeln; kannst auch überzeugt sein, daß es meistens nicht gut ausfallen würde. Also für die nächsten Jahre: Vertraue alles deinem Onkel an, und was du ihm nicht sagen magst, das unternimm auch nicht. Und jetzt gehe und tue was recht ist.«</p>
<p>Heinrich kam später als sein Onkel von der Schule heim. Inzwischen hatte dieser noch über die Sache nachgedacht und war ärgerlich über den Jungen. Wer konnte wissen, was der alles anstellen würde, nachdem er einmal angefangen hatte, hinter seiner Pflegeeltern Rücken solche Dinge zu unternehmen! Und wie sollte diese Sache ausgehen! Fräulein Stahlhammer ließ sich kein Mädchen aufdrängen, am wenigsten, wenn es von dieser Seite kam; Mine würde auch nicht gehen, und bei der ganzen Sache nichts herauskommen als Verstimmung. Der Professor saß eben vor seinem Schreibtisch, in dem er seine Hefte verwahrte, ehe er zu Tisch ging. Die Jugend versammelte sich schon im Eßzimmer, da ging die Türe auf und Heinrich sah herein. Er gehörte nicht zu denen, die ihre Empfindungen schwer über die Lippen bringen. Lebhaft ging er zu seinem Onkel und dessen Hand fassend sagte er: »Das war so fein von dir, Onkel, daß du mir geholfen hast. Mein Professor hätte mich ja am liebsten in den Karzer gesteckt, wenn du mir nicht zu Hilfe gekommen wärst, ich danke dir recht schön dafür! Sogar der Herr Rektor hat etwas von deiner väterlichen Fürsorge gesagt, es war etwas sehr Schönes.«</p>
<p>Den Onkel freute Heinrichs Dankbarkeit, er sah schon wieder ganz freundlich auf seinen Neffen. »Die Hauptsache ist,« sagte er, »daß du nicht noch einmal so etwas tust.«</p>
<p>»Nein, in den nächsten Jahren nicht mehr, das habe ich schon mit dem Herrn Rektor ausgemacht. Aber dann! Gehen wir jetzt zum Essen, Onkel? Ich habe in der Pause nichts essen können, bin furchtbar hungrig.«</p>
<p>»So komm,« sagte der Onkel und sie gingen unwillkürlich Hand in Hand – es war wohl der Rektor, der diese Hände ineinandergelegt hatte.</p>
<p style="text-align: center;">VIII.</p>
<p>Am nächsten Sonntag, als Mine eben in ihrer Küche abspülte, klingelte es und ein Mädchen meldete sich. Sie sei aus der Stadt hierhergeschickt worden, weil man hier ein Dienstmädchen suche. Mine traute kaum ihren Ohren. »Das ist aber unerhört,« rief sie, »ich habe ja noch gar nicht gekündigt und mein Fräulein weiß von nichts. Wer hat Sie denn geschickt? Gewiß Frau Professor Kuhn?«</p>
<p>»Nein, die kenne ich nicht, im Hof ist’s besprochen worden.«</p>
<p>»Das kann ich nicht begreifen. Ja was mache ich denn jetzt? Versuchen Sie’s eben und gehen Sie hinein. Wenn das Fräulein Sie will, dann soll’s mir auch recht sein.«</p>
<p>»Da ist ein Mädchen,« sagte Mine, indem sie die Türe aufmachte zu dem Eßzimmer und sich rasch wieder zurückzog. Fräulein Stahlhammer saß da, die Zeitung lesend, und Klärchen war mit ihrer Puppe beschäftigt. »Was möchten Sie von mir?« fragte Fräulein Stahlhammer, »wer sind Sie?«</p>
<p>»Katharine Schwarz heiße ich und weil ich gehört habe, daß Sie ein Mädchen suchen, wollte ich mich vorstellen.«</p>
<p>»Das ist jedenfalls eine Verwechselung,« sagte Fräulein Stahlhammer, »ich suche keines. Wer hat Ihnen denn das gesagt?«</p>
<p>»Im Hof ist’s gesprochen worden.«</p>
<p>»So, da wird viel geklatscht. Ich habe mein Mädchen schon seit fünf Jahren und behalte sie auch.«</p>
<p>»Dann bin ich ganz umsonst von der Stadt herüber gefahren,« sagte das Mädchen. »Ich wäre erst so gerne gekommen; so ein stilles Plätzchen bei guten Leuten, das gefiele mir.«</p>
<p>»Das tut mir leid für Sie. Vielleicht ist’s in einem der Nachbarhäuser. Meine Mine weiß das. Kommen sie einmal mit mir in die Küche.« Das Mädchen folgte ihr. »Mine, nehmen Sie sich um das Mädchen an, sie ist irrtümlicher Weise zu uns gekommen. Schenken Sie ihr eine Tasse Kaffee ein, vielleicht wissen Sie hier auch ein Plätzchen für sie.«</p>
<p>Nun waren die beiden zusammen in der Küche; Mine räumte noch ihr letztes Geschirr auf und Katharina ließ sich den Kaffee schmecken, nachdem sie zuerst große Umstände gemacht hatte, ihn anzunehmen. »Da gefiele mir’s,« sagte sie, »so ein freundliches Fräulein, das gleich Kaffee einschenken läßt und so stattlich und hochgewachsen und alles so nobel und fein im Haus, und dem Kind sieht man’s von fern an, wie gut es ist.« Im Lauf des Gesprächs hatte Mine bald herausgebracht, daß kein anderer als Heinrich das Mädchen hergeschickt hatte. Ja, der Schlingel, wenn der wirklich ins Haus kam mit seinen Raupen und der große Bruder auch noch dazu, dann waren ihre guten Tage dahin! Sie hatte ja eigentlich auch versprochen zu gehen.</p>
<p>Inzwischen hatte Klärchen zur Patin gesagt: »Kann das gute Mädchen nicht bei uns bleiben?«</p>
<p>»Wir haben ja unsere Mine,« sagte die Patin, »die ist auch gut.« Fräulein Stahlhammer nahm wieder die Zeitung, aber es war nicht viel mit dem Lesen. Nie hatte sie noch daran gedacht, Mine zu entlassen, und jetzt auf einmal kam ihr der Gedanke, wie verlockend es wäre, mit dem jungen Mädchen, das so freundlich aussah, ganz neu anzufangen. Mine war im Lauf der Jahre so selbständig geworden, sie nahm ihr auch die Kleine ganz aus der Hand. Sie sagte so oft: »Die Kleine spürt’s, daß Sie seine Mutter nicht sind,« das tat ihr jedesmal weh. Ein neues Mädchen würde so etwas nicht denken und jedenfalls nicht sagen. Was wohl Mine zu dem Vorschlag sagen würde, daß sie diesem Mädchen weichen sollte? Unentschlossen ging sie auf und ab, es fehlte ihr der Mut. »Was würde mein Bruder von mir denken?« sagte sie sich selbst, »er würde zu mir sagen: »Du, die große Stahlhammer, traust dich nicht mit deinem Mädchen zu reden?« Wirklich, sie war allmählich dieser Mine gegenüber ganz schüchtern geworden. Sie schämte sich ihrer Schwäche.</p>
<p>»Klärchen, sage doch Mine, sie möge herein kommen.« Mine kam, Klärchen blieb in der Küche und schloß Freundschaft mit Katharine.</p>
<p>»Es scheint ein ordentliches Mädchen zu sein?« sagte Fräulein Stahlhammer zu Mine. »Ja, ein gutes Zeugnis hat sie bei sich und ein armes Ding ist’s, dem’s immer hart gegangen ist bisher.«</p>
<p>Nun nahm Fräulein Stahlhammer einen Anlauf: »Wie wär es, Mine, wenn ich es mit diesem Mädchen versuchte und Sie mit einem andern Dienst?«</p>
<p>Zu Fräulein Stahlhammers großem Erstaunen war Mine’s sofortige Antwort: »Gerade wollte ich’s auch vorschlagen!«</p>
<p style="text-align: center;">*  ;  ;  ;  ;  ;  ;  ;  ;*<br/> *</p>
<p>Einen Monat später war Mine abgezogen, in der Küche hauste das neue Mädchen. Es war der erste Abend. Bisher war es immer Mine gewesen, die Klärchen begleitet hatte, wenn sie zu Bett ging; heute besorgte das die Patin selbst, sie wollte es nun immer tun. Sie blieb noch ein wenig sitzen am Bett der Kleinen und diese plauderte ganz zutraulich. »Kommst du jetzt alle Tage selbst mit mir?« fragte das Kind. »Ja, wenn ich nicht im Verein bin.«</p>
<p>»Hat unsere Katharina auch einen Verein?«</p>
<p>»Nein, Kind, Mine hat ja auch keinen gehabt.«</p>
<p>»Aber sie ist doch oft abends fortgegangen, wenn du fort warst?«</p>
<p>»Wirklich? Das hast du mir nie gesagt. Hat sie dich dann allein gelassen?«</p>
<p>»Ja, aber das hat man gar nicht sagen dürfen, nur dem Konrad habe ich’s gesagt.«</p>
<p>»Das mußt du dir nicht verbieten lassen, Klärchen. Wenn die Katharina einmal will, daß du mir etwas nicht sagst, dann mußt du gleich antworten: Der Patin sage ich alles.«</p>
<p>»So? So soll ich’s machen?« sagte die Kleine ganz verwundert.</p>
<p>»Ja, so sollst du’s machen, so machen es alle lieben kleinen Kinder.«</p>
<p>Die Patin gab dem Kind einen Kuß und beide hatten das Gefühl, es sei etwas weg, das sie bisher getrennt hatte.</p>
<p>Mehrere Sonntage waren vergangen, ohne daß zur Familie des Professors irgend etwas aus dem Hause Stahlhammer gedrungen wäre. Die Brüder scheuten sich, hinzugehen, wußten sie doch nicht, wie Heinrichs Einmischung in die Dienstbotensache aufgenommen worden war. Da begegnete diesem eines Tages auf dem Schulweg Mine, und mit stolzer Befriedigung erfuhr er, daß die von ihm gesandte Katharine wirklich Gnade gefunden und Mine ihr Platz gemacht hatte. Aber Mine wußte auch noch das allerneuste. Fräulein Stahlhammer läge krank zu Bett und werde wahrscheinlich bald sterben. Er hatte das kaum zu Hause erzählt, als seine Tante erklärte: »Das ist für mich die Gelegenheit, endlich einmal Fräulein Stahlhammer aufzusuchen; schon lange liegt es mir schwer auf der Seele, daß kein freundliches Einverständnis zwischen uns herrscht, ich mache ihr einen Krankenbesuch!«</p>
<p>Es war einer der ersten schönen Frühlingstage, als sie hinausfuhr aus der großen Stadt und das hübsche Häuschen aufsuchte, das am Ende des Städtchens lag, ganz nahe an den Anlagen, die bald in den Wald übergingen. Das neue Dienstmädchen fragte Fräulein Stahlhammer gar nicht erst, ob sie zu sprechen sei, sondern ließ den Besuch ohne weiteres ein. Im Schlafzimmer lag, unwohl, aber durchaus nicht schwer krank, Fräulein Stahlhammer im Bett und das Kind saß nahe dabei, spielend an seinem Tischchen.</p>
<p>Die Tante hatte zuerst keine Aufmerksamkeit für das Kind, sie trat ans Bett und sagte: »Ich habe gehört, daß Sie krank sind, und wollte mich deshalb nach Ihnen umsehen.«</p>
<p>»Danke,« sagte Fräulein Stahlhammer, »es geht mir schon besser; aber Ihr Besuch ist mir sehr lieb, ich wollte Ihnen schon in diesen Tagen schreiben und kann es doch nicht recht.«</p>
<p>Hocherfreut über diesen unerwartet freundlichen Empfang setzte sich die Tante ans Bett und nach einigen Reden über die Art der Krankheit sagte Fräulein Stahlhammer: »Was ich mit Ihnen besprechen wollte, mag ich nicht gern vor der Kleinen sagen.«</p>
<p>Lebhaft erhob sich die Tante, trug das Kindertischchen mit allem was darauf lag, in das Wohnzimmer, die kleine Nichte folgte und die zwei Frauen waren allein. »Ich habe Klärchen so viel beobachtet, seit ich krank bin,« sagte die Patin, »sie plaudert immer laut mit ihrer Puppe und da höre ich denn, wie sie so innig von ihrer Mama spricht, wie sie ihrem Puppenkind verspricht, wenn es groß sei, dürfe es zu Onkel und Tante und zu den Brüdern. Ja, einmal, als sie im Eifer des Spiels ganz meine Gegenwart vergessen hatte, hörte ich sie sagen: Wenn du nicht brav bist, mußt du zur Patin nach Waldeck.«</p>
<p>»Das dumme Gänschen,« rief die Tante, »Sie sollten gar nicht darauf hören, was sie mit ihrer Puppe schwätzt.«</p>
<p>»Ich habe es aber gehört,« sagte die Patin, »und ich weiß jetzt, daß sie mein Haus nur als einen Strafplatz ansieht; ich glaube, es war nicht recht von mir, daß ich das Kind von Ihnen fernhalten wollte. So gerne ich Klärchen gehabt hätte, wenn sie sich wohl bei mir gefühlt hätte, so möchte ich sie doch Ihnen übergeben, weil sie bei Ihnen eine glücklichere Kinderzeit haben wird.«</p>
<p>Die Tante merkte wohl, daß es Fräulein Stahlhammer schwer wurde, diese Worte auszusprechen. Sie tat ihr so leid, die einsame Kranke. »Ich begreife nicht,« sagte sie, »warum das Kind Ihre Liebe nicht durchfühlt. Es ist vielleicht ein Mißverständnis dabei. Aber freilich, das Natürlichste ist, daß ein Kind unter andern Kindern aufwächst. Leider sind es bei uns lauter Knaben.«</p>
<p>»Ihnen wird Klärchen ein liebes Töchterchen werden,« sagte Fräulein Stahlhammer.</p>
<p>»Wir nehmen sie auch gerne zu uns. Zu Ostern läßt es sich zwar nicht mehr einrichten, aber von den Sommerferien an können wir sie aufnehmen.«</p>
<p>»Dann behalte ich sie noch diesen Sommer hindurch,« sagte die Patin bereitwillig. »Ihre Brüder können sie besuchen so oft sie wollen, und ich werde ihr auch eine kleine Kamerädin verschaffen. Eine meiner Bekannten hat auch so ein einzelnes Töchterchen im gleichen Alter. Bis jetzt hielt ich das Kind absichtlich fern, damit Klärchen sich mehr an mich anschließe, aber nun, da sie doch fort kommt, ist’s gleichgültig.«</p>
<p>»Bitte sprechen Sie dann selbst mit dem Vormund darüber,« sagte Frau Professor Kuhn, »mein Mann würde wohl nicht gern noch einmal bei ihm seinen Vorschlag wiederholen.«</p>
<p>»Ja, das werde ich tun. Ich weiß, daß seit Weihnachten die beiden Männer nicht gut miteinander stehen. Glauben Sie mir, ich war damals nicht so herzlos, als Sie denken mußten; ich wollte dem Kind am Christfest bescheren, der geputzte Baum stand schon versteckt im Kämmerlein. Das Kind wußte es nur nicht und Mine sagte leider nichts davon.«</p>
<p>»So war es?« sagte die Tante. »Das zu hören freut mich noch nachträglich; ich werde es daheim erzählen, ich selbst war trotz allem Anschein immer von Ihrer edlen Gesinnung überzeugt.« Sie drückte warm die Hand der Patin und fügte herzlich hinzu: »Wenn Sie wieder wohl sind, kommen Sie mit dem Kind zu uns, nicht wahr; wir wollen uns näher kennen lernen und späterhin, wenn Klärchen ganz bei uns ist und Sie besuchen uns, dann werden Sie auf einmal merken, daß das Kind Sie doch lieb hat.«</p>
<p>»Wollen Sie Klärchen rufen? Ich möchte es ihr gleich mitteilen.« Die Tante führte das Kind herein. »Klärchen,« sagte die Patin, sich im Bett aufrichtend, »weißt du, was deine Tante mit mir ausgedacht hat? Im Sommer, wenn deine Brüder Ferien haben, darfst du zu ihnen und darfst ganz und für immer bei Onkel und Tante bleiben!«</p>
<p>»Aber der Vormund holt mich gleich wieder,« sagte Klärchen.</p>
<p>»Diesmal nicht,« sagte die Patin, »jetzt erlaubt er es, er führt dich vielleicht selbst in die Stadt.«</p>
<p>Nun sah man der Kleinen an, daß sie die Wichtigkeit der Nachricht erfaßte. Sie schmiegte sich zärtlich an die Tante und sagte: »Dann bist du meine Mama und der Onkel ist mein Papa und die Brüder sind wieder alle Tage meine Brüder!«</p>
<p>»Ja, so wird es,« sagte die Tante; aber sie schob sanft die Kleine weg zur Patin hin und sagte: »Sieh, deine Patin hat das so eingerichtet, weil sie weiß, daß es dich freut.«</p>
<p>»So,« sagte Klärchen freundlich, »hast du’s eingerichtet? Gelt dann bist du auch froh, wenn ich fort bin, dann sind alle, alle froh!« rief sie in einem Ton, der glückselig klang, wie ihn die Patin noch nicht an ihr gehört hatte.</p>
<p>Fräulein Stahlhammer erholte sich langsam und für diesen Sommer gab sie ihre Tätigkeit in den Vereinen auf, sie sollte so viel wie möglich im Freien sein. Sie nahm Klärchen mit sich zu den täglichen Gängen in den nahen Wald; und nicht nur Klärchen, sondern auch die kleine Altersgenossin, die sie ihr zur Kamerädin bestimmt hatte. Es war ein Ereignis für Klärchen, als zum erstenmal die kleine Mathilde sich zu ihr gesellte, denn eine Freundin hatte sie noch nie gehabt.</p>
<p>Von nun an, wenn Fräulein Stahlhammer an einer Bank am Saume des Waldes Rast machte, spielten die Kinder stundenlang mit ihren Puppen im Moos und Gebüsch und waren voll Fröhlichkeit miteinander. Mathilde kam in aller Unbefangenheit zu Fräulein Stahlhammer mit all ihren Anliegen, und Klärchen, die zuerst staunte über diese Zutraulichkeit, gewöhnte sich bald selbst daran; vergessen schien jetzt die Vergangenheit, vergessen auch die Zukunft, die Gegenwart war schön.</p>
<p>Eines Tages, als Fräulein Stahlhammer wieder auf der Bank im Wald saß und die Kinder spielten, kam des Wegs eine ganze Schar kleiner Mädchen, zwei Lehrerinnen an der Spitze. Sie machten mit ihren Schülerinnen einen Waldspaziergang, und da sie Fräulein Stahlhammer kannten, blieben sie ein wenig stehen und begrüßten sie. Mathilde, die manche der Kinder kannte, kam herbeigesprungen, Klärchen hielt sich zur Patin.</p>
<p>»Im Herbst kommt ihr beiden wohl auch in die Schule, nicht wahr?« sagte eine der Lehrerinnen freundlich zu den Kindern.</p>
<p>»Ich schon,« sagte Mathilde, »ich freue mich darauf, aber Klärchen kommt fort.«</p>
<p>Die lustige Schar zog wieder davon und die Kinder kehrten zu ihren Puppen zurück. Aber Klärchen war nicht recht bei der Sache und nach einer Weile kam sie zögernd zur Bank her, auf der die Patin lesend saß, legte ihr die Hände auf den Schoß und sagte leise: »Patin?«</p>
<p>Diese sah auf die Kleine hinunter: »Was willst du, Kind?«</p>
<p>»Patin, darf ich zu den Brüdern, oder muß ich hin?«</p>
<p>»Du darfst, du mußt nicht.«</p>
<p>»Patin, dann will ich lieber bei dir bleiben, darf ich?«</p>
<p>»Ob du darfst?« sagte die Patin; ihr Buch fiel auf den Boden, denn das Kind war auf einmal auf ihrem Schoß, das Kind, das doch schon bald Schulkind werden sollte; und es schlang beide Arme um ihren Hals und Fräulein Stahlhammer drückte es an sich und besaß nun, was sie so lange gewünscht hatte: ein Kinderherz, das sie lieb hatte! Wie sie es gewonnen hatte, wußte sie selbst nicht zu sagen; seitdem sie nicht mehr danach gestrebt hatte, war es ihr zugefallen. Und es wurde ihr fester, unbestrittener Besitz. Klärchen bestand die Probe: Mit Bangen ließ die Patin das Kind für einige Tage zu den Brüdern zu Besuch, um zu sehen, ob es sich nicht getäuscht habe; aber aus dem lauten Getümmel des knabenreichen Hauses in der Großstadt verlangte es bald zurück in das stille, ländliche Häuschen, zu der Patin und zu der kleinen Freundin. Onkel und Tante freuten sich darüber, auch die Brüder fanden sich nun leicht darein, sahen sie doch ihr Schwesterchen glücklich.</p>
<p>Und der Vormund? Er kam, als er von dem veränderten Entschluß hörte, nach langer Zeit wieder einmal eines Morgens heraus nach Waldeck. Er sagte zu Katharine, die ihm die Türe öffnete: »Wenn Sie mich künftig nicht eine Viertelstunde warten lassen, ist es mir lieber;« die Schwester fragte er: »Hältst du es mit all deinen Beschlüssen so, daß du sie dreimal umstößt?« Er empfahl Klärchen: »Sei nur recht dankbar!« und dann kehrte er mit der Überzeugung, ein gewissenhafter Vormund zu sein, möglichst bald aus dem »elenden Nest« zurück, zur feinen Mittagstafel in der Stadt.</p>