Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 10

Die Tanzstunde nahte ihrem Ende. »Leider!« seufzten die jungen Leute. Fräulein Raimar indes atmete auf, denn wenn sie auch der Jugend gern fröhliche Stunden bereitete, so sehnte sie doch wieder Ruhe und Gleichmäßigkeit zurück, weil sie die Erfahrung gemacht hatte, daß durch die Zerstreuung stets der rechte Ernst zum Lernen etwas abhanden kam.

Den Schluß und Glanzpunkt bildete alljährlich ein kleiner Ball, und morgen, am Sonnabend, sollte derselbe stattfinden.

Die Benennung »Ball« klingt eigentlich zu hoch für das kleine Fest. Es wurden noch einige Gäste geladen, das Orchester schwang sich zu einer zweiten Geige auf, dem Thee nebst belegten Butterbroten folgte eine leichte Bowle mit Pfannkuchen, und die jungen Mädchen zogen ihre besten Kleider an. Das war alles!

Aber der große Saal erhielt ein festliches Ansehen, dafür trug stets Fräulein Raimar Sorge. Sie liebte es, den Schönheitssinn ihrer jungen Zöglinge zu wecken, damit dieselben späterhin imstande seien, mit wenigen Mitteln auch dem einfachsten Feste ein künstlerisches Ansehen zu geben.

Soeben stand sie neben dem Gärtner und ordnete an, wie er die Tannen, die er am Morgen aus dem Walde geholt, mit blühenden Topfgewächsen zu lauschigen Ecken und Plätzen gruppieren solle. Als das geschehen war, mußte er Konsolen von rotem Thone zwischen verschiedenen Wandleuchtern befestigen, – üppige Schlingpflanzen wurden darauf gestellt und fielen anmutig herab. Auch der altmodische Kronleuchter, geformt wie eine bronzene Schale mit Lichterarmen, erhielt seinen grünen Schmuck. Es wurde eine Schlingpflanze in die Schale gestellt, so daß die grünen Ranken zwischen den Armen herabfielen. Am Abend, wenn die Kerzen brannten, machte dieser einfache Schmuck einen reizend malerischen Eindruck.

Als alles fertig war, übersah die Vorsteherin noch einmal den Saal, und recht befriedigt verließ sie denselben.

Die jungen Mädchen waren natürlich in großer Aufregung. Es war der erste Ball, der ihnen bevorstand, und dieses wichtige Ereignis nahm all ihre Gedanken in Anspruch. Einige betrachteten wieder und wieder die duftigen Kleider, andre versuchten besondere Haartrachten, so Flora, die eine Passion dafür hatte, wieder andre probierten die Kleider an, der Sicherheit wegen, wie Nellie meinte, die soeben mit Ilse die Weihnachtskleider von der Schneiderin erhalten hatte. Gerade als beide angekleidet dastanden, kam Lilli hereingejubelt.

»Ich geh mit auf euren Ball!« rief sie, »das Fräulein hat es mir erlaubt. Und mein neues, weißes Kleiderl zieh ich an und die rote Atlasschärpe bind’ ich um, – und ich darf halt mittanzen! Ich freu mich halt zu sehr auf morgen!«

Und sie faßte mit beiden Händchen an ihre Schürze und tanzte zierlich und graziös durch das Zimmer.

Es war schon ziemlich dunkel, und die Kleine hatte nicht bemerkt, wie geputzt Nellie und Ilse waren. Als die erstere Licht anzündete, blieb sie plötzlich überrascht stehen und sah erstaunt von einer zur andern.

»Wie schön schaut ihr aus!« rief sie bewundernd und mit gefaltenen Händen, und fast andächtig sah sie die beiden Mädchen an.

»Weißt, Ilse,« fuhr sie lebhaft fort, »du schaust aus gerad wie des Kaisers Tochter! Ich führ’ dich morgen in den Saal – bitt’ schön!«

Ilse nahm ihren Liebling zärtlich in den Arm und küßte ihn herzhaft auf den Mund. »Du bist ja so heiß, Lilli,« sagte sie und befühlte Stirn und Wange des Kindes. »Fehlt dir etwas?«

»Der Kopf thut mir halt a bissel weh,« entgegnete Lilli, »aber gar nit viel, – gewiß nit,« beteuerte sie, als Ilse sie besorgt ansah. »Morgen thut er nit mehr weh, – morgen geh ich ganz gewiß auf den Ball! Du gehst auch mit,« sagte sie zu ihrer Puppe, die nach ihrer Geberin, Ilse, getauft war. »Aber artig mußt halt sein, sonst wirst in dein Bett gesteckt!« –

»Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew’ger Bund zu flechten
Und das Unglück schreitet schnell.«

Acht Tage später schrieb Flora diese inhaltschweren Worte in ihr Tagebuch. –

Am andern Morgen lag Lilli heftig fiebernd in ihrem Bette. Der herbeigerufene Arzt machte ein ernstes Gesicht. »Sie hat starkes Fieber,« sagte er und verordnete Eisumschläge auf den Kopf, die jede halbe Stunde gewechselt werden mußten. Das lebhafte Kind lag still und teilnahmlos da.

Fräulein Güssow saß recht sorgenvoll an Lillis Bett, die eben etwas eingeschlummert war. Die Vorsteherin beruhigte sie und meinte, daß Lillis ganze Krankheit ein heftiges Schnupfenfieber sein werde, sie habe bei Kindern oftmals ähnliche Fälle erlebt.

Die junge Lehrerin schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn nur der Ball heute abend nicht wäre!« sprach sie seufzend. »Der Lärm im Hause und das kranke Kind – es will mir nicht in den Kopf! – Wenn wir ihn hinausschöben, Fräulein?«

»Sie sehen zu schwarz, liebe Freundin,« entgegnete die Vorsteherin. »Der Lärm wird Lilli nicht stören, wie sollte er aus dem Vorderhause bis hierher in Ihr stilles Zimmer dringen? Bedenken Sie, wie sehr sich die Kinder auf den heutigen Abend gefreut haben; wie grausam wäre es, wollten wir ihre Freude zerstören! Noch sehe ich keine Gefahr und wir können unbesorgt den Ball stattfinden lassen.«

»Ball!« wiederholte Lilli, die erwacht war und das Wort gehört hatte; »ich will tanzen! Zieh mich an, Fräulein! Bitt schön, laß mich tanzen!«

Fräulein Güssow warf der Vorsteherin einen verständnisvollen Blick zu, jetzt mußte dieselbe sich doch überzeugen, wie krank die Kleine war, – sie phantasierte.

Aber Fräulein Raimar war nicht überzeugt und auch nicht erschrocken. Sie trat zu Lilli an das Bett und ergriff deren Hand.

»Es ist ja noch heller Tag, Lilli,« sagte sie freundlich; »siehst du nicht, wie die Sonne scheint? Heute abend sollst du tanzen, jetzt ist es noch viel zu früh. Lege dich nieder und schlafe noch etwas; wenn du aufwachst, bist du gesund und ziehst dein gesticktes Kleid an.«

»Die liebe Sonn scheint,« wiederholte das Kind, wie aus einem Traume erwachend, und sah mit müden Augen zum Fenster hinaus. Dann legte sie die Hand gegen die Stirn und sagte leise: »Ach Gotterl, Fräulein, mir thut der Kopf halt so weh!«

»Das wird sich geben, mein Herz. Nimm nur recht artig deine Medizin ein.«

Sie küßte Lilli und versicherte der sehr geängstigten Lehrerin, das Phantasieren der kleinen Kranken habe nichts zu bedeuten, bei lebhaften Kindern stelle sich dasselbe bei einem harmlosen Schnupfenfieber ein. Und mit diesem aufrichtig gemeinten Troste verließ sie das Zimmer.

Es schien, als habe sie wahr gesprochen. Gegen Mittag schlief Lilli ein. Das Fieber hatte etwas nachgelassen und Fräulein Güssow atmete erleichtert auf. Als Ilse kam und teilnehmend mit trauriger Miene nach Lillis Befinden fragte, winkte sie derselben freudig zu und flüsterte: »Sie schläft, – es scheint eine Besserung eingetreten zu sein.«

Ilse teilte sofort diese gute Nachricht den Freundinnen, die schon in ängstlicher Sorge um den kleinen Liebling waren, mit, und brachte sie alle wieder in fröhliche Stimmung. Nur Flora blieb bei ihren düsteren Prophezeiungen.

»Meine ahnungsvolle Stimme täuscht mich nicht, ich fühle es, der Tod wird diese zarte Knospe brechen,« sagte sie in tragischem Tone und probierte dabei ihre neuen Ballschuhe an, streckte den Fuß weit von sich und bewunderte mit sehr befriedigter Miene die zierliche, elegante Form des Schuhes. Es war ihr wenig ernst mit ihren düstern Ahnungen!

Lillis Besserung war leider nur trügerisch gewesen. Während die jungen Mädchen heiter und glücklich Toilette zum fröhlichen Feste machten, lag sie im heftigsten Fieber.

Fräulein Güssow wich nicht von ihrem Bette und erklärte mit aller Bestimmtheit, daß sie diesen Platz nicht verlassen werde. Auf Fräulein Raimars Wunsch wurde die Verschlimmerung der Krankheit vorläufig geheim gehalten; sie mochte keinen Mißklang in die unbefangene Freude ihrer Zöglinge bringen, mußte sie sich doch bei ruhiger Ueberzeugung sagen, daß nichts damit gebessert werde. – So blieb denn die junge Lehrerin allein im Krankenzimmer. Sie hörte das unruhige Getappel im Vorderhause; dann und wann schlug wohl ein fröhliches Lachen an ihr Ohr – und endlich vernahm sie die gedämpften Töne der Polonaise.

»Ilse, komm!« rief Lilli plötzlich und Fräulein Güssow fuhr erschreckt zusammen. »Ilse, bitt, bitt schön, komm! Ich führ dich in den Saal, komm!« – Hoch hatte sie sich im Bett aufgestellt und machte alle Anstrengungen, aus demselben zu springen.

Fräulein Güssow legte den Arm um das fiebernde Kind und versuchte es niederzulegen, aber Lilli stieß sie von sich.

»Geh fort!« rief sie; »du bist nit des Kaisers Tochter, du hast kein schönes Kleiderl an! – Ilse! Ilse komm!«

Angstvoll und gellend stieß sie ihre Worte heraus und mit starren Augen blickte sie ihre Pflegerin an.

»Wenn du ruhig bist, wird Ilse kommen,« sagte dieselbe mit zitternder Stimme, die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu. »Sei ruhig, mein Liebling, willst du? Lege dich nieder – ganz still – so.« Und sie bettete mit sanfter Gewalt die immer noch aufrechtstehende Lilli in die Kissen.

»Ganz still,« wiederholte das Kind mechanisch; »Ilse komm, – ganz still!«

Fräulein Güssow zog an der Klingelschnur, und nach einiger Zeit ängstlichen Harrens erschien die Köchin. Sie war die einzige, welche die Glocke vernommen hatte, die beiden andern Dienstboten waren im Vorderhause beschäftigt.

»Rufe sofort Fräulein Ilse,« gebot sie mit halblauter Stimme, »und dann hole den Arzt. Das Kind ist sehr krank. Aber still und ohne Aufsehen, Bärbchen, niemand darf es wissen.«

»Aber wenn mich Fräulein Raimar fragen sollte,« wandte die etwas schwerfällige Köchin ein, »dann muß ich es ihr sagen, nicht?«

»Sie wird dich nicht fragen, wenn du deine Sache klug machst. Eile dich nur, ich bitte dich!«

Der Zufall kam Bärbchen zu Hilfe. Gerade als sie sich dem Saale näherte, traten Ilse und Nellie lachend und plaudernd, mit ganz erhitzten Wangen, Arm in Arm, aus der Thür desselben.

Geheimnisvoll winkte ihnen die Köchin zu. »Fräulein Ilschen,« sagte sie, »Sie möchten gleich zu Fräulein Güssow kommen!«

»Es ist doch nichts passiert, Bärbchen?« fragten beide Mädchen fast zugleich.

»O nein, passiert gerade nichts, aber das Kind ist kränker geworden, ich soll gleich den Doktor holen. Es soll aber niemand etwas wissen. Sie brauchen keine Angst zu haben, Fräuleinchens,« beruhigte sie, als sie die erschrockenen Gesichter vor sich sah, »so schnell geht das nicht mit so kleinen Kindern. Krank – tot – gesund – man weiß nicht, woher es kommt! Aber nun will ich laufen!« Und wie der Wind war sie die Treppe hinunter und zum Hause hinaus.

»Ich gehe mit dich,« sagte Nellie, aber Ilse wehrte ihr ab.

»Du mußt in den Saal zurückkehren, Nellie,« erklärte Ilse entschieden, »es würde Aufsehen erregen, wenn wir beide fehlten. Ich gehe allein und bringe dir bald Bescheid.«

Traurig sah Nellie der Freundin nach, dann kehrte sie zurück in den hellerleuchteten Saal. Schwer legte es sich auf ihr Herz, als sie ringsum nur glückliche, fröhliche Menschen sah – unwillkürlich füllte sich ihr Auge mit Thränen.

Aber ihr betrübtes Gesicht durfte niemand sehen, sie trat deshalb unbeachtet hinter eine Tannengruppe.

Einer indes hatte sie doch beachtet und das war Doktor Althoff. Als er sie mit so ernstem Gesicht eintreten und gleich darauf verschwinden sah, näherte er sich ihr langsam.

»Weshalb suchen Sie die Einsamkeit, Miß Nellie?« fragte er herzlich. »Haben Sie Kummer?«

»O Herr Doktor, ich ängstige mir so um das Kind! Bärbchen hat Ilse gerufen und holt jetzt der Arzt!« Und Nellies sonst so fröhliche Augen blickten in Angst und Trauer den jungen Mann an.

Doktor Althoff hatte sie nie so lieblich gesehen als in diesem Augenblicke.

Die schelmische, lustige Nellie in dem duftigen, hellblauen Kleide, den Kranz von Tausendschön im goldblonden Haar, hatte ihn schon den ganzen Abend erfreut, die trauernde Nellie, die ein so warmes Mitgefühl verriet, entzückte ihn geradezu.

»Beruhigen Sie sich,« tröstete er, »ich werde sofort in das Krankenzimmer gehen und verspreche Ihnen, Sie zu benachrichtigen, wie es dort steht.«

Als er die Thür desselben nach leisem Anklopfen öffnete, bot sich ihm ein rührender Anblick dar. Ilse kniete an dem Bett und hatte ihr Haupt dicht neben Lillis Köpfchen gelegt, so daß ihre braunen Locken sich mit den lichtblonden des Kindes mischten. Eine frische, rote Rose, der einzige Schmuck, den sie heute abend getragen, hatte sich aus ihrem Haar gelöst und lag halb entblättert auf dem Boden. Fräulein Güssow legte soeben einen neuen Eisumschlag auf der Kranken glühende Stirn.

Doktor Althoff fragte nicht, – ein Blick auf die kleine Kranke sagte ihm alles. Groß und fremd sah sie ihn an, ihre Händchen zuckten und griffen unruhig in die leere Luft. Als Ilse sich erheben wollte, klammerte sie sich fest an sie.

»Du sollst nit fortgehn, du bist des Kaisers Tochter!« stieß sie in abgerissenen Sätzen heraus, »du bist die Schönste! – Tanz mit mir – komm!«

Plötzlich sprangen ihre Phantasien davon ab, und sie sah Ilse für das Christkind an.

»Du liebes Christkindl hast ein goldenes Kleiderl an, – und ein Kronerl tragst auf dem Kopf – ah, wie das strahlt! Du willst mit mir spielen,« fuhr sie geheimnisvoll lächelnd fort, »wart nur, ich komm zu dir, zu den lieben Engelein! – Ich komm – nimm mich mit!«

Ermattet sank sie nach diesem Anfall in die Kissen zurück.

Ilse war wie gelähmt vor Schreck. Niemals zuvor hatte sie an dem Lager eines Schwererkrankten gestanden, es war daher natürlich, daß sie ganz fassungslos war. Sie umklammerte Fräulein Güssow und wurde totenblaß, ohne ein Wort über die bebenden Lippen zu bringen.

»Kehren Sie in den Saal zurück, Ilse,« riet Doktor Althoff und ergriff ihre Hand. »Kommen Sie, ich werde Sie führen.«

Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier,« sagte sie leise aber fest, »ich verlasse Lilli nicht.«

Und wie auch die Strauß’schen Klänge der blauen Donau schmeichelnd und verlockend durch die Nacht in das stille Krankenzimmer drangen, Ilse dachte nicht daran, zur Lust und Freude zurückzukehren. Ihre ganze Seele war von den Leiden ihres Lieblings erfüllt.

Nur wenige Augenblicke lag Lilli still und mit geschlossenen Augen da, dann fing sie von neuem weit heftiger an zu phantasieren. Bald rief sie nach Ilse, um mit ihr zu tanzen, bald wollte sie mit dem Christkindl spielen, zuletzt fing sie an, mit leiser, matter Stimme zu singen: »Kommt a Vogerl geflogen –«

Wie klang heute des Kindes Lied so weh und traurig! Ilse mußte sich abwenden, heiße Thränen rannen über ihre Wangen, es war, als müsse ihr das Herz zerspringen.

»Ich befürchte das Schlimmste!« sprach Fräulein Güssow tief ergriffen. »Wenn nur der Arzt käme!«

Nach kurzer Zeit, die den Wartenden eine Ewigkeit dünkte, trat derselbe ein. Sein Blick fiel auf das Kind, und er erschrak. Wie hatte es sich verändert, seitdem er es verlassen, was war seit gestern aus dem blühenden, lebensfrohen Wesen geworden! Die runden Wangen waren eingefallen und die großen, schwarzen Augen starrten wie abwesend in die leere Luft. Er nahm ihre Hand und fühlte nach ihrem Puls, – sie merkte nichts davon, leise fing sie wieder an zu singen: »Und es kümmert sich ka Hunderl –«

»Au, au!« schrie sie plötzlich auf und griff nach ihrem Kopfe. »Das Katzerl beißt mich! Nimm es weg, Fräulein! Au weh!«

Der Arzt rührte ein Pulver in ein Glas Wasser und reichte es ihr. Nur mühsam war ihr dasselbe beizubringen und erst auf Ilses sanftes Zureden öffnete sie die Lippen. Nachdem sie getrunken, wurde sie ruhiger und verfiel in einen Halbschlummer.

»Wo wohnen die Eltern der Kleinen?« wandte der Arzt sich an Fräulein Güssow. »Ich rate, dieselben unverzüglich von der Krankheit zu benachrichtigen. Ich kann für den Ausgang nicht stehen. – Wir haben es mit einer bösartigen Gehirnentzündung zu thun.«

»Nur die Mutter lebt,« nahm Doktor Althoff das Wort und erbot sich, sofort ein Telegramm an dieselbe abgehen zu lassen. Nach seiner Berechnung konnte sie schon am Abend des nächsten Tages eintreffen.

Bevor er das Haus verließ, kehrte er noch einmal in den Saal zurück, um die Vorsteherin mit dem Ausspruch des Arztes bekannt zu machen. Nellie, die gerade mit Georg Brenner Française tanzte und nicht aus der Reihe treten konnte, warf einen ängstlich fragenden Blick auf ihn, flüchtig nur streifte sie sein Auge, und doch erriet sie, daß er nichts Gutes zu melden habe. O, wäre nur der Tanz erst zu Ende, daß sie ihn fragen könnte! Aber er wartete nicht darauf, nach wenigen Minuten verließ er schon wieder den Saal und ließ Nellie in den peinlichsten Zweifeln zurück. War es schlimmer geworden? Der Vorsteherin ruhiges Gesicht gab ihr keine Antwort auf ihre Frage. Es lag dasselbe wohlwollende Lächeln auf demselben wie zuvor. Sie unterhielt sich mit einigen Gästen ohne jede sichtbare Erregung.

Und doch war sie bis in das Innerste erregt. Aber sie verstand die seltene Kunst, sich meisterhaft zu beherrschen. Warum sollte sie plötzlich Schreck und Aufregung in die Freude bringen? In einer Viertelstunde war der Tanz vorüber, dann sollten die jungen Mädchen sich niederlegen, ohne zu erfahren, wie es mit der Kranken stand. Die Jugend bedarf des Schlafes, sagte sie sich, besonders nach einer halb durchtanzten Nacht. Verschlimmerte sich Lillis Zustand, so erfuhren sie diese traurige Botschaft am Morgen noch früh genug.

Ilses Verschwinden, das allgemein bemerkt wurde, hatte Nellie auf ihre Art entschuldigt, sie hatte jedem Fragenden geantwortet: »O ja, sie wird gleich wieder da sein, sie hat nur auf ein Augenblick Kopfschmerzen.« Der Vorsteherin hatte sie so halb und halb die Wahrheit gesagt. Aber der Ball ging zu Ende und Ilse war nicht wiedergekehrt. –

Miß Lead hatte von der Vorsteherin den Auftrag erhalten, dafür Sorge zu tragen, daß die Mädchen still und geräuschlos ihre Gemächer aufsuchten, das wurde befolgt, aber als sie sich sicher glaubten, als die englische Lehrerin sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, da huschten sie alle noch auf eine kurze Zeit zu Rosi hinüber, deren Stübchen ganz am Ende des Korridors lag. Sie mußten noch einen kurzen Austausch haben, ihre jungen Herzen waren zu voll von dem herrlichen Feste.

Melanie brachte ihre duftigen Sträuße, die sie im Cotillon erhalten hatte, mit und breitete sie auf dem Tische aus. Mit wehmütiger Freude betrachtete sie den reichen Segen. »Ach!« rief sie aus, »wie schade, daß alles vorbei ist!«

»Alles Schöne ist vergänglich, nur die Erinnerung bleibt!« entgegnete Flora weise. Und sie betrachtete bei ihren Worten die Photographie eines jungen Mannes, die sie vorsichtig und geschickt in ihrem Taschentuche verborgen hielt. – Es war Georg Breitners Bild. Er hatte dafür das ihrige eingetauscht.

»Ach, Kinder, es war doch zu schön!« brach Annemie in plötzlicher Begeisterung aus. »O, was ich euch alles erzählen könnte!«

»Und ich! Und ich!« klang es durcheinander.

»Ihr würdet staunen, wenn ich sprechen wollte!« rief Melanie stolz und schlug ihr Auge kokett gen Himmel, »ich habe viel erlebt!« – In ihrem Eifer vergaß sie ganz, ihre Stimme zu dämpfen.

»Nicht so laut, Melanie,« ermahnte Rosi und Orla stimmte ihr bei. »Wir wollen zu Bett gehen,« riet sie ernstlich, »denn wenn ihr erst anfangt, eure Erlebnisse zu erzählen, dann können wir bis zum hellen Morgen hier sitzen.«

»Morgen ist Sonntag, da können wir ausschlafen!« meinte Grete, die darauf brannte, die geheimnisvoll angedeuteten Geschichten zu hören. »Wo sind denn aber Ilse und Nellie?« unterbrach sie sich plötzlich und sah sich um; »ich habe Ilse den ganzen Abend nicht gesehen. Hatte sie wirklich Kopfschmerzen? Kommt, wir wollen uns zu ihnen schleichen und nachsehen!«

Doch dieser allgemein Beifall findende Vorschlag kam nicht zur Ausführung. Eben als sie auf den Zehen einige Schritte gethan, stand Miß Lead wie ein Nachtgespenst vor ihnen.

»Wo wollt ihr hin?« fragte sie erzürnt. »Habe ich euch nicht Ruhe geboten? Sofort legt euch nieder, – und morgen werde ich euren Ungehorsam der Vorsteherin melden!«

So wurde es denn still in den oberen Räumen. Die plaudernden Lippen verstummten nach und nach – die Augen schlossen sich zu süßem Schlummer und ein gütiger Traumgott führte die Schlafenden zurück in den festlichen Saal. Noch einmal ließ er die Musik erklingen und die junge Schar im lustigen Tanze dahinfliegen. –

»O wie öde ist die Wirklichkeit!« war Melanies erstes Wort, als sie erwachte.

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