Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 13

Lilli war in die Erde gebettet. Unter Schneeglöckchen und Veilchen schlummerte sie. Der kleine Sarg war mit den holden Frühlingskindern über und über bedeckt gewesen. Tief betrauert wurde das kleine Wesen von allen, die mit ihm in nähere Berührung gekommen, und es hatte allgemein schmerzliche Verwunderung erregt, daß die Mutter fern geblieben war.

Am Todestage Lillis war ein Telegramm angekommen, worin sie meldete, daß sie erst am Dienstag abend eintreffen könne. Es sei ihr unmöglich, früher zu kommen, da sie am Montag in einem neuen Stücke die Hauptrolle zu spielen habe. Als ihr an diesem Tage der Tod ihres Kindes gemeldet wurde, kam umgehend ein Brief voll überschwenglicher Klagen, aber sie blieb fern. Kostbare Blumen hatte sie gesandt, auch der Vorsteherin den Auftrag gegeben, ein Marmormonument, einen knieenden Engel darstellend, für des Kindes Grab anfertigen zu lassen, mit goldenen Buchstaben solle auf dem Sockel eingegraben werden: ›Teures Kind, bete für mich.‹

Aeußerlich war somit alles geschehen, aber das Herz blieb kalt bei diesen pomphaften Kundgebungen.

»Meine Mama wäre gekommen, wenn sie mich sterbenskrank gewußt hätte,« bemerkte Ilse, als sie Nellie den Brief vorlas, den ihr die Mutter so herzlich und tröstend geschrieben hatte.

»O sicher, sie wär von der Welten Ende zu dich gereist,« beteuerte Nellie lebhaft.

»Und sie ist nicht einmal meine rechte Mutter,« fuhr Ilse nachdenklich fort. »Ach Nellie, ich habe sie oft recht sehr gekränkt! Glaubst du wohl, daß sie mir vergeben wird?«

Ilses Herz war so weich und empfänglich durch den Schmerz geworden und eine ernste, weihevolle Stimmung durchdrang ihr ganzes Wesen. Nie waren ihr bis dahin ähnliche Gedanken gekommen, und wäre es der Fall gewesen, hätten sie früher einmal bei ihr angeklopft, sie würden keinen Einlaß gefunden haben. Heute war es anders, sie hatte das Bedürfnis, sich gegen ihre Herzensfreundin auszusprechen und sich anzuklagen.

»O mach dich kein Kummer darum, Kind. Deine Mutter hat ein so liebesreiche Herz, kein Titelchen Bosheit für dir ist darin. Sie vergebt dir alles. Du warst ja auch noch ein ungezogen, dumm’ Baby, als du bei sie warst, jetzt aber bist du eine sehr anständige (sie meinte verständige) junge Dame.«

»Ist das dein Ernst, Nellie?« fragte Ilse und sah mit ihren Kinderaugen Nellie zweifelnd an.

»Es ist mein Ernst, und ich gebe dir den guter Rat, schreibe an deiner Mutter ein lang’ Brief und bitte ihr um Verzeihung.«

Ilse überlegte einen Augenblick. »Du hast recht, Nellie,« sagte sie dann entschlossen, »ich werde ihr schreiben, ich bin es ihr schuldig. Heute noch will ich es thun! Wenn sie mir nur bald darauf antwortet, ich werde nicht eher ruhig sein!«

Als sie sich eben niedergesetzt hatte, ihr Vorhaben auszuführen, trat Flora mit strahlenden Augen ein.

»Ich muß euch meine neuesten Gedichte vorlesen,« sagte sie erregt, »sie sind das beste, was ich bis jetzt geschrieben habe! Ihr müßt mich anhören!«

Und sie entfaltete ein starkes Heft, in welchem sie Lillis Tod in den verschiedensten Dichtungsarten besungen hatte.

Elegie auf den Tod einer vom Sturm geknickten Rosenknospe!

begann sie zu lesen.

Nellie hielt sich die Ohren zu. »Schweig still! Ich mag dir nicht anhören mit dein dumm Zeug! Aergere mir nicht damit!«

Ilse stimmte ihr bei. »Laß uns zufrieden, Flora,« sagte sie, »wir sind noch zu traurig, als daß wir lachen möchten! Und du weißt doch, daß alle deine Gedichte uns lustig machen.«

Tief verletzt schloß Flora ihr Heft, auf dessen Umschlag mit großen Buchstaben zu lesen stand: »Floras Klagelieder!« – »Ihr habt keinen Sinn für erhabene Dichtkunst, und ich will Gott danken, wenn es Ostern ist und ich diesen prosaischen Aufenthalt verlassen kann!«

Sie verließ die Undankbaren und suchte Rosi auf. Wenn niemand ihre Dichtkunst bewundern wollte, fand sie an ihr stets eine geduldige Zuhörerin. »Das rechte Verständnis freilich fehle ihr,« meinte Flora mit einem ergebungsvollen Seufzer.

Der Brief an die Mutter war abgeschickt. Acht Tage waren seitdem vergangen und noch war keine Antwort eingetroffen. Ilse war unruhig und aufgeregt darüber. Nellie, ihre einzige Vertraute, tröstete sie.

»Es ist ja noch kein’ Ewigkeit vorbei, seit du schriebst,« sagte sie. »Es scheint dich nur so, weil du immer daran denkst. Ich wette, heute wirst du ein schön, lang Brief haben. Mich ahnt das!«

Und richtig, Nellies Ahnung, die eigentlich gar nicht so ernst gemeint war, ging in Erfüllung. Es kam ein Brief an Ilse.

»Komm sogleich in mein Zimmer, Ilse, ich habe dir etwas mitzuteilen!« Mit diesen Worten empfing Fräulein Raimar dieselbe, als sie eben aus der Kirche kam.

Klopfenden Herzens folgte ihr das junge Mädchen, sich den Kopf zerbrechend, welch eine geheimnisvolle Mitteilung ihrer wartete. –

»Ich habe soeben einen Brief von deinem Papa erhalten, liebes Kind, worin er mich bittet, dir etwas recht Erfreuliches zu verkünden. Ahnst du nicht, was es sein könnte?«

»Nein,« entgegnete Ilse und blickte die Vorsteherin erwartungsvoll fragend an.

»Dir ist ein Brüderchen beschert worden! Da, hier lies selbst, der Papa hat für dich einen Brief eingelegt.«

Aber Ilse vermochte nicht zu lesen in diesem Augenblick. Die Nachricht hatte sie bis in das Innerste erfreut und durchzittert. Das Blut schoß ihr heiß in die Wangen, und ehe sie noch ein Wort über die Lippen bringen konnte, flog sie dem Fräulein an den Hals und küßte dieselbe. Sie mußte an jemand ihre jubelnde Freude auslassen.

Als sie zur Besinnung kam, schämte sie sich ihrer Uebereilung. Wie konnte sie allen Respekt außer acht lassen und so ungeniert die Vorsteherin umarmen!

»Verzeihen Sie,« sagte sie befangen und trat bescheiden zurück. Aber Fräulein Raimar schnitt ihr das Wort ab und nahm sie noch einmal herzlich in den Arm.

»Komm her, mein Kind,« sagte sie warm, »und laß mich die erste sein, die dir von ganzem Herzen Glück wünscht.« – Später äußerte sie gegen Fräulein Güssow, daß Ilses strahlende Freude ihr so recht den Beweis für deren kindlich unbefangenes Herz gegeben habe. Anfangs habe sie nicht geglaubt, daß Ilses trotzige Natur sich jemals zügeln lassen werde.

Der Brief an Ilse war nur kurz und von der Mutter schon vor mehreren Tagen an sie geschrieben. Der Papa trug an der Verzögerung schuld, er hatte noch einige Zeilen hinzufügen wollen und war nicht gleich dazu gekommen.

»Lies erst, was sie schreibt!« bat Nellie, zu der Ilse jubelnd in das Zimmer gestürzt war, »lies erst, nachher sprechen wir von die Baby.«

Und Ilse las:


»Mein teures Kind!

Dein letzter Brief hat mich sehr glücklich gemacht! Ich kann den Augenblick kaum erwarten, wo ich Dich an mein Herz nehmen darf, um Dir mit einem herzlichen Kuß zu sagen, daß ich Dir niemals böse war. Ich wußte immer, daß mein Trotzköpfchen schon den Weg zu mir finden werde. Mache Dir nur keine Sorgen um vergangene kleine Sünden, sie sind längst in alle Winde verweht, denke lieber an die zukünftige Zeit, in der wir wieder beisammen sind, und male sie Dir so rosig aus, wie Deine junge Phantasie es nur zu thun vermag. Ich habe Dich sehr, sehr lieb! Mit zärtlichen Küssen

Deine Mama.«

 

Und der Papa hatte gestern flüchtig dazu geschrieben:

 

»Hurra! Wir haben einen prächtigen Jungen! Ich habe nur den einen Wunsch, ihn Dir, mein Kleines, gleich zeigen zu können. Er sieht Dir ähnlich, hat gerade so lustige, braune Augen wie Du! Morgen schreibe ich Dir mehr.« 

 

»O!« jammerte Ilse unter Lachen und Weinen, »wenn ich doch gleich dort sein könnte! Ich habe so große Sehnsucht, die Mama, den Papa und das kleine Brüderchen zu sehen!« Dabei umarmte und herzte sie Nellie, und als Fräulein Güssow hinzutrat, fiel sie auch dieser um den Hals. Sie hätte in ihrer Seligkeit am liebsten die ganze Welt umarmt! –

Am Nachmittag, als der erste Freudenrausch sich gelegt hatte, kehrten Ilses Gedanken zu der verstorbenen Lilli zurück. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie deren Andenken heute so ganz vergessen konnte!

»Komm, Nellie,« sagte sie, »laß uns im Garten Veilchen pflücken zu einem Kranz auf Lillis Grab.«

Fräulein Güssow stimmte diesem Vorschlage bei und begleitete gegen Abend die Freundinnen hinaus auf den stillen Friedhof. Ilse beugte sich nieder und legte den Kranz auf den frischen Grabhügel. Noch lagen die vielen andern Kränze von dem Begräbnisse darauf, aber sie waren verwelkt und trocken, und in den langen, weißen Atlasbändern spielte der Abendwind. –

Die Tage kamen und gingen, und das Osterfest war vor der Thür. Die Prüfungen waren bereits vorüber, und die ausgeteilten Zeugnisse hatten Freude oder Kummer hervorgerufen, je nachdem sie für die Betreffenden ausgefallen waren. Ilse konnte zufrieden sein. Mit Ausnahme einzelner Fächer, bei denen obenan das Rechnen stand, hatte sie sehr gute Fortschritte gemacht. Ihr ernstes Streben, ihr Betragen, das besonders seit dem Tode Lillis tadellos geworden war, wurde von ihren Lehrern und Lehrerinnen rühmend hervorgehoben, nur die englische Lehrerin schloß sich dieser Ansicht nicht an. Sie blieb bei ihrem Vorurteile und fand, daß Ilse nach wie vor ohne jede Manier und Grazie sei, auch tadelte sie sehr ihre englische Aussprache.

»Laß dir nix vormachen, Ilse,« sagte Nellie, als sie allein waren. »Du sprichst schon ganz nett englisch und drückst dir stets sehr fein aus. Uebrigens tröste dir mit mir, sieh, was sie hier geschrieben haben,« – und sie reichte betrübt der Freundin ihr Zeugnis, und Ilse las: Besondere Bemerkung: ›Nellie macht sehr langsame Fortschritte in der deutschen Sprache.‹ – »Ist das nicht unrecht?« fragte sie. »Ich gebe mich so furchtbar große Mühe mit eure schwere Sprache.«

Nun war die Reihe zu trösten an Ilse. Dieselbe versprach ihr von jetzt an, keinen Schnitzer mehr durchgehen zu lassen, Nellie dagegen wollte täglich eine volle Stunde nur englisch mit der Freundin plaudern.

Flora war in höchster Aufregung. Sie fand es geradezu großartig, daß Doktor Althoff ihr eine II in der Litteratur geben konnte. »Mir das!« rief sie aus, sobald er sich entfernt hatte, »mir das! die ich selbst schon so lange litterarisch thätig bin! Aber Sie werden sich wundern, Herr Doktor, Sie werden sich wundern!«

Diese geheimnisvolle Anspielung bezog sich auf ihr jüngstes Werk. Sie hatte gestern den letzten Federstrich daran gethan und es dann sogleich mit einem Briefe auf rosa Papier dem Lehrer zur Durchsicht gegeben. Mit bescheidenem Selbstbewußtsein hatte sie hinzugefügt, sie rechne darauf, daß ihr Zauberspiel am Geburtstage der Vorsteherin aufgeführt werde. Sollte Herr Doktor einige kleine Aenderungen für notwendig finden, so würde sie sich gern seinem Rate fügen. –

Es waren einige Tage darüber vergangen und noch hatte sie keine Antwort erhalten. Warum mochte er zögern? Gefallen mußte ihm »Thea, die Blumenfee«, darüber war sie nicht im Zweifel. Sie hatte sich so hineingelebt in ihre Zauberposse, und ihre Phantasie flüsterte ihr einen großartigen Erfolg in das Ohr. Sie hörte den stürmischen Beifall der Anwesenden, – die Dichterin wurde gerufen! – Sie träumte wachend, langsam – gesenkten Auges trete sie aus den Kulissen hervor. – »Flora!« ruft es von allen Seiten, und voller Staunen richten sich aller Augen auf sie. – Ja, staunt nur, ihr Ungläubigen, die ihr die arme Flora so oft verkannt habt! Jetzt hat sie euch überzeugt, daß ihre Dichtkunst kein leerer Wahn ist! – Bescheiden und demütig verneigt sie sich nach rechts und links – ohne den Blick zu erheben – sie war vor den Spiegel getreten, um Blick und Verbeugung einzustudieren. – »Die Blumenfee werde ich vorstellen,« träumte sie weiter, »natürlich! Wer anders könnte sich so in den Geist der Rolle versetzen, als ich! Wie herrlich wird mir das Kostüm stehen! Ein Kleid von Silbergaze mit Rosen durchwebt, eine goldene Krone auf dem Haupte, ein langer, duftiger Schleier und offnes, wallendes Haar!«

Ganz in Gedanken versunken löste sie die aufgesteckten Flechten und drapierte das Haar malerisch um ihre Schultern. Unwillkürlich kamen ihr dabei die ersten Verse ihres großen Werkes auf die Lippen und laut, mit pathetischer Stimme, fing sie an zu deklamieren:

»Heraus, ihr Blumen, aus euren Kelchen,
Ich will mit euch spielen!
Eilt euch, ihr lieben Tulpen und Nelken,
Laßt mich nicht warten, ihr vielen, vielen,
Heraus, heraus!«

Ein lautes Pochen an der Thür und ungestümes Auf- und Niederdrücken des Griffes unterbrach sie höchst unangenehm. Zugleich wurde Gretes Stimme laut.

»Warum schließt du dich denn ein? Mach’ schnell auf, ich bringe dir etwas!«

In aller Eile befestigte Flora ihr Haar, schob dann den Riegel zurück und fragte ärgerlich: »Was willst du denn?«

Grete war in das Zimmer getreten und sah sich verwundert um. »Du sprachst doch eben laut,« sagte sie, »mit wem hast du dich denn unterhalten?«

Flora blieb ihr die Antwort schuldig; sie sah ihr Manuskript in Gretes Hand, ungestüm nahm sie es an sich.

»Gieb her! Wie kommst du zu meinem Hefte?«

»Nur nicht so heftig,« entgegnete Grete, »was fällt dir denn ein? Es ist die reine Gefälligkeit, daß ich es dir bringe. Doktor Althoff hat es mir für dich übergeben.«

»Warum ließ er mich nicht selbst rufen? Du wirst dich wohl wieder vorwitzig aufgedrängt haben, es ist so deine gewöhnliche Art. Uebrigens jetzt kannst du wieder gehen, ich möchte allein sein!«

Aber Grete verspürte keine Lust, sie zu verlassen, sie witterte ein Geheimnis, das mußte sie erst heraus haben!

»Ich habe aber keine Lust, dich zu verlassen,« sagte sie und setzte sich mit aller Gemütlichkeit nieder.

»Du bist wirklich unausstehlich!« stieß Flora ärgerlich heraus und drehte Grete den Rücken. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Wenn du durchaus hier bleiben willst, so thue es meinetwegen,« fuhr sie fort und näherte sich der Thür, »mich geniert es nicht.«

Und sie hatte die Thür geöffnet und war hinaus, noch ehe Grete sich erhoben hatte. Schnell drehte sie den Schlüssel im Schloß um und – das neugierige Gretchen war eine Gefangene.

Geflügelten Schrittes eilte sie in den Garten, der Traueresche zu. Sie huschte zwischen den bis auf den Boden herabhängenden Zweigen hindurch und sank auf einem Bänkchen von Birkenstämmen nieder. Hier war sie vor jedem Lauscherblicke sicher.

Sie preßte die Hand auf das hochklopfende Herz und ein Zittern überlief sie vor der Entscheidung! Wie wird sein Urteil ausgefallen sein? Nicht lange hielt die zagende Schwäche an und ihre Zuversicht kehrte zurück. Mutig und siegesbewußt schlug sie das Heft auf. Natürlich suchte sie zuerst nach einigen Zeilen von seiner Hand. Aber sie blätterte und fand nichts. Sie breitete das Heft auseinander, hielt es hoch, schüttelte es tüchtig, der erwartete Brief fiel nicht heraus. Sie war höchst betroffen, da sie bei einer flüchtigen Durchsicht des Manuskripts auch nicht die kleinste Notiz entdecken konnte. Schon wollte sie es unwillig beiseite legen, als ihre Augen zwei Worte entdeckten, die Doktor Althoff mit seiner zierlichen und doch festen Handschrift mit roter Tinte gerade in den Schnörkel hineingeschrieben, den sie dem Schlußworte »Ende« malerisch angehängt hatte. Sie las und fiel wie gebrochen hintenüber.

»Abscheulich!« riefen ihre bebenden Lippen, »empörend!«

Floras Entrüstung war wohl natürlich, zertrümmerten doch die beiden kleinen Wörtchen den ganzen Prachtbau ihres Luftschlosses. »Konfuses Zeug!« stand da deutlich geschrieben und erbarmungslos war hiemit das Todesurteil ihrer Dichtung besiegelt.

Sie ballte die Hände in ohnmächtiger Wut und haßte den Mann, den sie bis dahin so schwärmerisch angebetet hatte. Warum verkannte er ihr Genie, oder vielmehr, warum wollte er dasselbe nicht anerkennen? Sie wollte zu ihm eilen ... sogleich ... er sollte ihr Rechenschaft über sein vernichtendes Urteil geben!

Aber sie verwarf diesen Entschluß, weil sie befürchtete, vor Aufregung ohnmächtig zu werden. Und schwach sollte er sie nicht sehen ... nimmermehr! Sie wollte ihm schreiben und zwar sofort!

Sie zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und begann einen stürmischen Brief aufzusetzen. Kaum hatte sie indes einige Sätze niedergeschrieben, als sie durch den grünen Blättervorhang Grete gerade auf die Esche losstürmen sah, es blieb ihr eben noch Zeit genug, das Notizbuch zu verbergen, als dieselbe bereits vor ihr stand.

Floras Gedanken waren nur mit dem Briefe beschäftigt gewesen, sie hatte darüber ihr Manuskript, das sie neben sich auf die Bank gelegt hatte, vergessen. Grete hatte es indes mit ihren Spüraugen sofort entdeckt. Wie ein Vogel schoß sie darauf los, ergriff es und eilte mit ihrer Beute davon.

»Etsch, Fräulein Flora!« rief sie noch triumphierend, »nun werde ich doch hinter deine Geheimnisse kommen! Jetzt bist du meine Gefangene!«

»Grete, gieb her!« rief Flora angstvoll und eilte derselben nach, »bitte, bitte! Ich will dir auch schenken, was du haben willst!«

Grete aber blieb taub bei ihren Bitten. Lachend eilte sie weiter.

»Du mußt mir mein Eigentum zurückgeben, ich will es!« drohte Flora, als sie einsah, daß Güte nicht half, »ich befehle es dir!«

Darüber brach Grete in ein lautes Gelächter aus. »Du befiehlst es mir? Das ist reizend!« rief sie, »du bist wirklich furchtbar naiv!« Und sie hatte das Haus erreicht, während Flora weit hinter ihr zurückblieb. Trotz ihrer schwerfälligen, plumpen Figur war sie doch weit schneller als letztere, die etwas steif und ungelenk war.

Als Flora einsah, daß ihre Verfolgung nutzlos war, blieb sie weinend stehen. Einen wahrhaft verzweiflungsvollen Blick warf sie der Räuberin ihres Schatzes nach, denn nun war sie verloren, das heißt preisgegeben dem Hohn und Spott der Mitschülerinnen, an die sie Grete verraten würde.

Aber es kam anders. Gerade als Grete die paar Stufen zum Korridor hinaus sprang, lief sie beinahe Doktor Althoff in die Arme. Sie hatte ihn nicht gesehen, weil sie den Kopf nach rückwärts gewandt hielt. Das Heft hoch in der Luft schwenkend, hatte sie der armen Flora zugerufen: »Jetzt lese ich deine Geheimnisse!«

Mit einem Blick hatte der Lehrer erkannt, um was es sich handelte; er wäre darüber nicht im Zweifel gewesen, selbst wenn ihn Grete weniger erschrocken angesehen hätte.

»Sie sollten ja dies Heft an Flora abgeben,« sagte er vorwurfsvoll, »wie kommt es, daß Sie es noch mit sich herumtragen?«

Sie antwortete nicht und sah ziemlich betreten und beschämt aus, auch war sie rot bis über die Ohren geworden.

»Ich werde Ihnen nie wieder einen Auftrag geben,« fuhr er fort, »da ich sehe, wie wenig ich mich auf Sie verlassen kann. Geben Sie mir das Heft, ich werde es selbst an Flora abliefern.«

Grete reichte ihm das Verlangte. »Sie ist selbst schuld daran,« stieß sie zu ihrer Entschuldigung hervor und warf den ohnehin großen Mund noch mehr auf; »sie hat ... sie hat mich eingeschlossen! Zur Strafe habe ich ihr das Buch fortgenommen!«

»Zur Strafe!« wiederholte Doktor Althoff mit einem zweifelnden Lächeln, »und was wollten Sie jetzt damit machen?«

»Ach,« verriet sie sich, »hineingesehen hätte ich ganz gewiß nicht! Floras Dichtungen sind viel zu überspannt und langweilig! Ich wollte sie nur necken.«

»Grete, Grete!« drohte der junge Lehrer lächelnd mit dem Finger, »wenn dies Wort eine Brücke wäre, ich ginge nicht hinüber. Seien Sie in Zukunft nicht wieder so indiskret und neugierig, Neugierde ist kein schöner Schmuck für ein junges Mädchen.«

Er wandte sich von der Beschämten ab und ging auf Flora zu, die langsam heran kam. Noch zitterten Thränen in ihren Augen, die sie wie in Verklärung auf ihren Erretter richtete. Wo war der Haß geblieben, der soeben noch in ihrem Innern getobt hatte? Verschwunden und verweht! Die alte Liebe und Begeisterung für Doktor Althoff hatten ihn zurückgedrängt und waren wieder eingezogen in ihr großmütiges Herz. So mächtig wallte die Begeisterung in ihr über, daß sie plötzlich, hingerissen von Dankbarkeit, sich niederbeugte, seine Hand ergriff und einen heißen Kuß darauf drückte.

»Ich danke Ihnen,« hauchte sie leise, dann eilte sie fort, zurück zu ihrer Friedensstätte, ihrem Musentempel, und anstatt den angefangenen Brief zu vollenden, dichtete sie ein Sonett, das die Aufschrift trug: »An ihn.«

Doktor Althoff blickte der Davoneilenden kopfschüttelnd nach. »Ein überspanntes, verdrehtes Wesen!« mußte er unwillkürlich sagen, »und das schlimmste ist, sie wird niemals zu heilen sein.« –

Der Geburtstag des Fräulein Raimar, der in den Mai fiel, war stets ein großartiges Fest. Tagesschülerinnen und Pensionärinnen wetteiferten mit einander, dasselbe durch musikalische und theatralische Aufführungen, durch lebende Bilder u. s. w. so bunt und unterhaltend zu gestalten als möglich. Auch in diesem Jahre wurde keine Ausnahme gemacht, trotzdem Lilli kaum vier Wochen in der Erde ruhte.

»Ich würde gern auf eine größere Feier verzichten,« sprach eines Tages die Vorsteherin zu der englischen Lehrerin und Fräulein Güssow, »aber ich darf es unsrer Zöglinge wegen nicht thun. Mehr oder weniger hat sie Lillis Tod sehr ergriffen und sie hängen die Köpfe; da ist das beste Mittel, sie wieder aufzumuntern, daß wir ihnen eine Zerstreuung schaffen. Mit aller Trauer können wir ja den Tod des lieben Kindes nicht ungeschehen machen.«

Die beiden Damen stimmten ein und beschlossen untereinander, mit den Vorbereitungen zu dem Feste zu beginnen. Miß Lead übernahm es, ein englisches Stück, Fräulein Güssow, ein französisches Lustspiel einzustudieren. Erstere wählte nur Tagesschülerinnen zu ihren Mitwirkenden, während letztere ihre Rollen nur mit Pensionärinnen besetzte. Sie hatte aber erst einen kleinen Kampf mit den Mädchen, bevor dieselben die ihnen zugedachten Rollen annahmen. Flora, die eine alte Dame vorstellen sollte, war durchaus nicht damit einverstanden, sie behauptete, Rosi passe weit besser zu dieser Rolle, diese aber hatte nicht einen Funken schauspielerischen Talentes und würde sich niemals dazu verstanden haben, Theater zu spielen. Sie sprach auch weniger fließend französisch als Flora.

Fräulein Güssow machte nicht viel Umstände. »Wie du willst, Flora,« sagte sie, »macht es dir kein Vergnügen, diese allerliebste Rolle zu übernehmen, so wähle ich eine Tagesschülerin dafür und du kannst diesmal nur Zuschauerin sein.«

Das behagte Flora noch weniger. Nach einigem Zögern entschloß sie sich, freilich wie sie sagte, mit großer Selbstüberwindung, die Alte zu spielen. Ilse und Melanie stellten deren Töchter dar und paßten in ihren Charaktereigentümlichkeiten prächtig dazu. Melanie putzsüchtig, elegant und eitel, Ilse das Gegenteil. Wild und unbändig, trotzig und widerspenstig, natürlich nichts weniger als elegant führt sie die übermütigsten Streiche aus und die schwache Mutter ist nicht im stande, sie zu zügeln. Da erscheint ein junger, entfernter Verwandter, interessiert sich für den Wildfang und versteht es, durch Güte und Festigkeit die Tugenden in demselben zu wecken und die Widerspenstige zu zähmen. Zum Schlusse wird sie seine Braut.

»Orla, du kannst die Rolle des Vetters übernehmen,« bestimmte die Lehrerin.

»Orla?« fragte Ilse verwundert, »sie kann doch keinen Mann darstellen?«

Es erhob sich ein wahrer Sturm unter den jungen Mädchen bei Ilses unschuldiger Frage. Die Stimmen schwirrten durcheinander, denn jede war bemüht, Ilse über ihre Unwissenheit aufzuklären.

»Weißt du denn nicht, wie es bei uns Sitte ist?« fragte Orla.

»Mit Herren dürfen wir nicht Theater spielen,« bemerkte Flora spottend, »sie sind verpönt in der Pension!«

»Du bist naiv, Ilse!« rief Melanie. »Das ist ja eben so ledern und furchtbar öde, daß wir Mädchen auch Männerrollen geben müssen!«

»Herren, Herren!« wiederholte Annemie unter lautem Lachen, »es ist zum totlachen!«

»Ja, wenn Herren mitspielten, dann möchte ich Ilses Rolle spielen,« überschrie Grete mit ihrer kräftigen Stimme alle übrigen, »so aber –«

»So aber wirst du den Bauernjungen übernehmen, Grete,« fuhr Fräulein Güssow dazwischen. Die Aufgeregten hatten ganz deren Gegenwart vergessen. »Und jetzt bitte ich mir Ruhe aus, ihr unbändigen Kinder! Fräulein Raimar hat ihre triftigen Gründe zu ihren Bestimmungen, wie könnt ihr euch dagegen auflehnen? Daß ihr noch zu kindisch seid, dieselben zu verstehen, habe ich in diesem Augenblicke klar und deutlich gesehen! Schämt euch! ... Jetzt macht euch daran, eure Rollen auszuschreiben, morgen werden wir eine Leseprobe halten.« Mit diesen Worten verließ sie die aufrührerische Gesellschaft.

Alle schwiegen bis auf Grete, sie konnte nicht unterlassen, noch einmal zu sagen: »Langweilig ist es doch ohne Herren! Und den dummen Bauernjungen spiel’ ich nicht!«

Aber sie spielte ihn doch und es zeigte sich bald, daß sie ganz vortrefflich dazu paßte.

Die täglichen Proben brachten die gewünschte Zerstreuung. Ilse besonders fand viel Freude an einem Vergnügen, das ihr bis dahin unbekannt gewesen war. Die anfängliche Befangenheit überwand sie bald und sie spielte ihre Rolle zur vollen Zufriedenheit Fräulein Güssows, die zuweilen ein Lächeln über die höchst natürliche Darstellung nicht unterdrücken konnte.

Zur Hauptprobe mußten alle in ihren Kostümen erscheinen, damit sie sich gegenseitig an den veränderten Anblick gewöhnten. Diese Bestimmung war sehr gut, denn als sie sich in ihren komischen Anzügen betrachteten, konnten sie das Lachen nicht zurückhalten.

Flora mit langen Scheitellocken und einer Spitzenhaube, mit einem Lorgnon, das sie vor die Augen hielt, war kaum zu erkennen. Das elegante, schwarze Schleppkleid ließ sie weit größer erscheinen, als sie war. Sie war übrigens ganz ausgesöhnt mit ihrer ›alten‹ Partie und das Lob, welches Fräulein Güssow ihr einige Male erteilte, hatte sie zu der Idee gebracht, daß ihr eigentlicher Beruf der einer Schauspielerin sei, und sie träumte Tag und Nacht ›von der Welt, welche die Bretter bedeuten‹, ›Dichterin – Schauspielerin‹. Eine große Zukunft stand ihr bevor!

Orla sah in ihrem Jägeranzuge, den grünen Hut keck auf das eine Ohr gesetzt, wirklich gut aus, und der kleine Stutzbart, mit dem sie die Oberlippe geziert hatte, gab ihr ein keckes Ansehen und stand ihr allerliebst.

»Famos siehst du aus, Orla!« meinte Melanie und betrachtete mit besonderem Entzücken deren Stulpenstiefel.

»Du solltest immer so gehen,« setzte Flora ganz ernsthaft hinzu. Natürlich wurde sie ausgelacht.

Grete war ein Bauernjunge, wie er sein muß. Plump und ungeschickt, dreist und laut. Melanie fühlte sich himmlisch wohl in dem koketten und eleganten Kostüm, das sie sich gewählt hatte. Sie stand vor dem Spiegel und putzte noch hie und da an sich herum. Und Ilse?

Sie trat als letzte herein und bei ihrem Anblick erhob sich ein so stürmisches Gelächter, daß Fräulein Güssow Mühe hatte, es zu dämmen.

»Wie siehst du aus, Mädchen?« sprach sie lachend, »komm näher, ich muß dich genau betrachten. Willst du wirklich in diesem Aufzuge spielen? Nein, Ilse, so geht es wirklich nicht. Wir müssen an deinem Kleide durchaus Verschönerungen anbringen! Du bist auch gar zu wenig eitel, sonst würdest du wohl selbst darauf gekommen sein.«

»Lassen Sie mich so!« bat Ilse inständigst, sie war ja so glücklich, ihr geliebtes Blusenkleid bei dieser Gelegenheit tragen zu dürfen. Sie war aus demselben herausgewachsen, zu eng und zu kurz war es geworden, natürlich erhöhte dieser Mangel noch den komischen Eindruck.

»Nein, Kind, unmöglich! Du siehst wie eine Bettlerin aus. Der Aermel darf nicht ausgerissen sein, der schlechte Gürtel muß durch einen neuen ersetzt werden, um den Hals wirst du einen Matrosenkragen legen und die fürchterlichen Stiefel laß vor allen Dingen blank putzen. Dann wird es gehen. Man darf nicht übertreiben,« fügte sie hinzu, als Ilse ein etwas betrübtes Gesicht machte, »stets muß das richtige Maß inne gehalten werden. Auch die Locken dürfen dir nicht so wirr über die Augen fallen, du kannst ja kaum sehen. Vergiß nicht, daß du die Tochter einer Baronin bist, dein Anzug darf verwildert, aber nicht zerrissen sein.«

»Wollen wir nicht anfangen?« trieb Miß Lead, die sich mit ihren Künstlerinnen ebenfalls zur Hauptprobe eingestellt hatte. Sie war schon etwas ungeduldig bei der genauen Musterung der Kostüme geworden und fand es höchst überflüssig, daß Fräulein Güssow überhaupt Wert darauf legte. Die Hauptsache war nach ihrer Meinung die vollständige Beherrschung der fremden Sprache, und daß die Mädchen ihre Rollen gut gelernt hatten, alles andre war Nebensache. Viel Gesten litt sie um keinen Preis, wollte ja eine Mitspielende es wagen, sich frei und natürlich zu bewegen, geriet sie förmlich außer sich und rief: »Ruhe! Ruhe! Wo bleibt die Plastik?«

Wie es fast immer der Fall ist, so war es auch hier; die Hauptprobe fiel herzlich schlecht aus. Die Mädchen waren schon aufgeregt in Erwartung des nächsten Tages und wurden es noch mehr durch die Ungeduld von Miß Lead, die heftig erklärte, daß sie es für das beste halte, wenn die ganze Theateridee aufgegeben werde. Das französische Stück fand sie entsetzlich und sie gab Fräulein Güssow den guten Rat, es nicht aufführen zu lassen. »Ich bitte Sie,« rief sie aus, »es handelt sich um eine Liebesgeschichte! Das wird den größten Anstoß erregen!«

Fräulein Güssow setzte der Engländerin lächelnd auseinander, daß nicht Kinder, sondern erwachsene Mädchen das Stück aufführten. »Die Liebesgeschichte,« wandte sie ein, »ist nur eine harmlose Nebensache, es handelt sich hauptsächlich um die Heilung eines widerspenstigen Mädchens.«

Miß Lead schüttelte mißbilligend den Kopf, sie wollte sich nicht davon überzeugen. »Ilse wird Ihnen, wenn Sie wirklich auf Ihrem Vorsatz bestehen, alles verderben. Wie sieht sie aus, und wie spielt sie? Plump, ohne jeden Anstand! Das Podium der kleinen Bühne erdröhnt förmlich bei ihren furchtbaren Schritten, ihre Bewegungen sind frei und keck.«

Fräulein Güssow schwieg zu diesem harten, ungerechten Urteil. Sie hatte es längst aufgegeben, die Engländerin von ihrem Vorurteile zu heilen. Starr hielt dieselbe daran fest. Ilse war und blieb ihr ein Dorn im Auge.

Miß Lead hatte sich geirrt. Am nächsten Abend ging alles über Erwarten gut. Der glänzend erhellte Saal, die festlich versammelte Gesellschaft brachten eine belebende Stimmung unter das junge Volk. Die ganze Festlichkeit leitete ein Prolog ein, den eine Schülerin der ersten Klasse gedichtet hatte. Sie trug ihn selbst recht hübsch vor und erntete wohlverdienten Beifall. Nur Flora, die hinter den Kulissen stand, zuckte die Achseln. »Kein Schwung, keine Poesie und kein Talent!« lautete ihr kritischer Ausspruch.

Die Aufführung des englischen Stückes ging vorüber, glatt, reizlos und langweilig. Und wenn die Anwesenden sich dies in ihrem Innern auch einstimmig eingestanden, so waren sie doch am Ende des Stückes mit Beifallsspenden nicht sparsam. Die Mitspielenden wurden herausgerufen, und als der rote Vorhang in die Höhe ging und die Mädchen sich dankend verneigten, strahlte Miß Lead vor Stolz und Seligkeit. »Very well,« rief sie laut, »ihr habt eure Sache gut gemacht!«

Nachdem verschiedene lebende Bilder und musikalische Aufführungen vorüber waren, bildete das französische Lustspiel den Schluß.

»Wollen Sie es wirklich wagen?« wandte sich die englische Lehrerin in wohlwollendem, etwas herablassendem Tone zu Fräulein Güssow. »Schreckt Sie der große Erfolg, den wir erzielten, nicht ab? Folgen Sie meinem Rate, treten Sie zurück! Wir werden eine Entschuldigung finden. Der französische Flattersinn muß abfallen gegen die englische Gediegenheit.«

Trotz Miß Lead’s Bedenken begann das französische Stück, und sie mußte die niederschlagende Erfahrung machen, daß es weit beifälliger aufgenommen wurde, als das englische. Die Gesellschaft amüsierte sich köstlich und kam aus dem Lachen nicht heraus. Zweimal wurde Ilse bei offener Szene gerufen, so drollig und natürlich spielte sie.

»Sie ist charmante, charmante!« rief Monsieur Michael feurig, »ich habe Ursache, stolz auf sie zu sein. Leicht und elegant wie eine Pariserin spricht und spielt sie!«

»Sie spielt sich selbst!« entgegnete Doktor Althoff lachend, »aber ich hätte dem Wildfang kaum so viel Anmut zugetraut.«

Einen kleinen Triumph sollte Miß Lead doch noch feiern, – Ilse verdarb die Liebesszene am Schluß. In dem Augenblick, als Orla sie umarmen wollte, kam ihr das so komisch vor, daß sie in ein lautes Gelächter ausbrach.

»Wie schade!« rief Nellie halblaut. »Warum muß sie lachen? Sie war zu nett, nun verderbt sie die Schluß.«

Doktor Althoff, der zufällig in Nellies Nähe stand, hörte ihren Ausruf. »Trotzdem, Miß Nellie,« entgegnete er, auf einem leeren Stuhl neben ihr Platz nehmend, »ist ihre Freundin die Siegerin des Abends; aber warum wirkten Sie nicht mit, warum sind Sie nur Zuschauerin? Sie würden gewiß eine gute Schauspielerin sein.«

Nellie senkte die Augenlider. »O, Sie sind sehr gütig,« sagte sie befangen, »aber ich weiß nicht zu spielen, Herr Doktor, ich hab’ nicht Talent.«

»Das käme auf einen Versuch an! Sehen Sie Ilse an, wer hätte geglaubt, daß sie eine so allerliebste Schauspielerin sein könne!«

»Nicht wahr?« stimmte Nellie lebhaft und mit aufrichtiger Freude bei, »sie ist reizend und ich bin entzückend über ihr!«

Der junge Lehrer schwieg und sah sie teilnahmvoll an. Wie neidlos kamen ihr die Worte aus dem Herzen, wie leuchteten ihre Augen freudig auf, als sie die Freundin lobte! Und im Vergleich zu Ilse, wie wenig hatte sie doch von der Zukunft zu hoffen! Jene ein Kind des Glückes – und diese? Ein armes Wesen, das den mühevollen Pfad einer Lehrerin pilgern sollte!

»Nicht wahr, ist sie nicht reizend?« wiederholte Nellie und blickte fragend auf.

»Gewiß, gewiß!« gab der Lehrer zerstreut zur Antwort, und von dem Gegenstand plötzlich abspringend, fragte er: »Woher haben Sie die herrlichen Veilchen?« und deutete dabei auf einen Strauß, den sie in der Hand hielt. »Sie duften wundervoll! Ich liebe die Veilchen sehr.«

Sie hörte nur, daß er die Veilchen liebe, bedurfte es da einer großen Ueberlegung? »O nehmen Sie,« sagte sie naiv und errötete dabei, »bitte, es macht mich großer Freude!«

»Nicht alle,« entgegnete er lächelnd und zog einige Blumen aus dem Strauß, den sie ihm gereicht, »so, nun habe ich genug. Haben Sie Dank dafür.«

Er erhob sich und verließ sie. Mit glänzenden Augen sah sie ihm nach, sie hatte bemerkt, wie er ihre Veilchen im Knopfloch befestigte.

»Wie taktlos von dir!« redete Miß Lead, die ihren Platz dicht hinter Nellie hatte, dieselbe an und riß sie mit ihrer scharfen Stimme aus allen Himmeln. »Welch ein Betragen! Ich habe jedes Wort mit angehört. Schämst du dich nicht, einem Herrn Blumen anzubieten?«

Als ob ein eisiger Wind plötzlich in eine kaum erschlossene Blütenknospe gefahren wäre, so wurde Nellies kurze Freude zerstört.

»Habe ich ein Unrecht gemacht?« fragte sie geängstigt. »O bitte, Miß, sagen Sie, war ich ungeschickt? Wird Herr Doktor mich für unbescheiden halten?«

Dieser Gedanke peinigte sie sehr und übergoß sie mit heißer Glut. Mit wahrer Angst wartete sie auf ein beruhigendes Wort und sah in der Lehrerin Gesicht, das indes nicht aussah, als ob sie zur Milde geneigt sei.

»Jedenfalls wird er dich für sehr einfältig halten,« erwiderte sie unbarmherzig, »wenn er nicht vielleicht deine Handlungsweise zudringlich nennt.«

»O nein, nein!« rief Nellie beinahe entsetzt, »er wird nicht so hart von sein Schüler denken!«

»So, weißt du das so bestimmt?« quälte Miß Lead sie weiter, »du bist kein Kind mehr, dem man allenfalls dergleichen Taktlosigkeiten vergiebt, ein erwachsenes Mädchen darf niemals blindlings seinem Gefühle folgen!«

»Ich will bitten, daß er mir die Blumen wiedergiebt,« sagte Nellie tief beschämt.

»Das darfst du nicht, wenn du dich nicht noch mehr bloßstellen willst. Du wirst schweigen und dich niemals wieder vergessen! Eine zukünftige Gouvernante muß jedes Wort, jeden Blick, und vor allem jede Handlung reiflich überlegen. Das merke dir!«

Traurig sah Nellie nach diesem harten Verweise zu Boden. Dahin war ihre fröhliche Laune, sie hatte keine Lust mehr an dem Feste. Eine heiße Thräne tropfte ihr aus dem Auge und fiel auf die Veilchen, die Urheber ihres Kummers. Sie brannten ihr förmlich in der Hand und am liebsten hätte sie dieselben weit von sich geschleudert. Still und einsilbig blieb sie den ganzen Abend, und sobald Doktor Althoff in ihre Nähe kam, wich sie ihm ängstlich aus. Es war ihr unmöglich, ihm in das Auge zu blicken. Miß Lead hatte ihre frohe Unbefangenheit zerstört.

Als die Freundinnen sich nach dem Feste zur Ruhe begaben, saß Nellie ganz gegen ihre Gewohnheit noch einige Zeit sinnend da. »Du bist so still,« fragte Ilse, »was hast du?«

»O nichts, nichts!« erwiderte Nellie schnell und erhob sich aus ihrer träumenden Stellung, »es ist gar nix!«

Zum ersten Male verschwieg sie der geliebten Freundin die Wahrheit, sie vermochte es nicht, über ihren Kummer zu reden, und doch – was war es, das trotz allen Kummers ihr Herz schneller klopfen ließ und wie ein Frühlingswehen durch ihre Seele zog?

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