Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 15

Die acht Wochen, oder wie Nellie sagte: »vierundfünfzig Tage«, waren vorübergegangen. Der erste September brach an. Nellie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können vor Herzeleid, der Abschied von der geliebten Freundin raubte ihr die Ruhe. Auch Ilse war es gleich ergangen und es war rührend, wie beide Mädchen bemüht waren, ihre Schlaflosigkeit und ihre Thränen sich gegenseitig zu verbergen.

Als der Morgen anbrach, hielt Nellie es nicht mehr aus. Sie stand auf, warf ihr Morgenkleid über und schlich an Ilses Bett.

»Wachst du?« fragte sie, als dieselbe sie mit offenen Augen ansah, »das ist schön, nun können wir noch eine ganze Stunde plaudern, es hat eben Fünf geschlagen.«

Sie setzte sich auf Ilses Bettrand und ergriff deren beide Hände, und als sie aufblickte und Thränen in Ilses Augen schimmern sah, da war es aus mit ihrer künstlichen Fassung. Sie beugte sich zu der Freundin nieder und indem sich beide fest umschlungen hielten, vermischten sich ihre heißen Thränen.

»O, Ilse! Wie einsam wird es sein, wenn dein Bett leer ist! Oder wenn ein anderer Gesicht mir daraus ansieht, o, ich bin sehr, sehr traurig!«

Ilse hatte sich aufgerichtet und drückte die Weinende innig an sich. Zu sprechen vermochte sie nicht, es war ihr zu weh.

»Wir sehen uns bald wieder,« sprach sie endlich mit zitternder Stimme und versuchte Nellie zu trösten. »Du besuchst uns in Moosdorf; den ganzen Winter über wirst du bei uns bleiben.«

Nellie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wird nix, ich werde nicht Erlaubnis bekommen zu ein so lang’ Besuch. Meine Zeit ist Ostern vorbei, dann heißt es: fort aus der Pension! Ich muß ein’ Stell’ annehmen und Kinder Unterricht geben. Aber ich weiß noch nicht viel und muß sehr fleißig lernen, Fräulein Raimar sagt es alle Tage.«

»Aber die Michaelisferien darfst du gewiß bei uns zubringen. Meine Eltern werden selbst an Fräulein Raimar schreiben und sie dringend darum bitten, sie wird es ihnen nicht abschlagen,« entgegnete Ilse.

»Es geht nicht, ich muß lernen!«

Ilse sah die Freundin traurig und bedauernd an. »Wenn du wirklich eine Gouvernante werden mußt, Nellie, so versprich mir fest, daß du all’ deine Ferien bei uns in Moosdorf zubringen willst. Meine Heimat soll auch die deinige sein.«

Mit einem Handschlage wurde dies Versprechen besiegelt. »Du bist sehr gut, Ilse, ich werde nie wieder ein Mädchen lieben wie dir. Vergiß mir nie! Sieh dieser klein’ silbern’ Ring recht oft an und denk’ dabei immer an dein’ Nellie, die in Einsamkeit zurückgeblieben ist.«

»Nicht einsam,« tröstete Ilse, »sie haben dich alle so lieb im Institute.«

»Und wenn ich fort bin, aus der Auge, aus der Sinn, dann bin ich fremd für sie.«

»Nein, Nellie, du wirst Fräulein Raimar und Fräulein Güssow nie eine Fremde sein!« entgegnete Ilse mit vollster Ueberzeugung. »Sie haben dich furchtbar lieb!«

»O ja, ich weiß; aber sie sind nicht mehr in Jugend und werden mir nie verstehn, wie du. Sie haben vergessen, wie man ein dumm’ Streich macht! Denkst du noch an der Apfelbaum?«

Die Erinnerung an diese lustige Fahrt trocknete ihre Thränen und rief ein fröhliches Lächeln auf ihre Lippen. Jede geringe Kleinigkeit durchlebten sie in Gedanken noch einmal. Die Spukgeschichte. Miß Lead in ihrem wunderbaren Aufzuge. Die Stiefelspitze, die sie beinahe verriet, ach, und die Angst, die sie ausgestanden! – »Und es war doch schön!« rief Nellie aus, »ich wünsche, daß wir noch einmal alles machen könnten!«

»Wenn du nach Moosdorf kommst,« sagte Ilse, »dann wollen wir in die Bäume klettern nach Herzenslust! Du wirst es bald lernen! O, es wird dir bei uns gefallen! Wir haben ein großes, schönes Wohnhaus mit Türmchen und Söllern, fast wie ein Schloß. Du wirst dein Zimmer dicht neben mir haben, das ist doch reizend, nicht wahr? Ich fahre dich alle Tage mit meinen Ponies spazieren, und Hunde haben wir zum Entzücken!«

So plauderte Ilse von der Heimat und schilderte der Freundin lebhaft und feurig die dortigen Herrlichkeiten. Auf diese Weise kamen sie für den Augenblick über das Weh des Abschieds hinweg, die Aussicht auf ein nicht allzufernes Wiedersehen versüßte ihren herben Trennungsschmerz. –

Wenige Stunden später stand Ilse reisefertig vor Fräulein Raimar und sagte ihr Lebewohl. Die Vorsteherin hielt sie im Arme und redete liebevoll auf sie ein.

»Es thut mir leid, daß dein Vater verhindert ist, dich abzuholen,« sagte sie, »nun mußt du die weite Reise allein machen! Gern hätte ich ihn auch noch einmal gesprochen und mancherlei mitgeteilt, was ich nun schriftlich thun mußte. Wie erstaunt wird er sein, wenn er dich wiedersieht, er wird die frühere Ilse gar nicht wieder erkennen! Weißt du wohl noch, wie ungern du damals zu uns kamst?«

»Verzeihen Sie mir,« bat Ilse unter Thränen, »und vergessen Sie, wenn ich Sie kränkte!«

»O, rede nicht davon! Du bist uns allen eine liebe Schülerin geworden und ungern sehen wir dich scheiden. Ich hoffe, du schreibst mir zuweilen, liebe Ilse, und giebst mir Nachricht, ob du gute Fortschritte in der Musik und besonders im Zeichnen machst. Ich habe den Papa gebeten in diesem Briefe,« sie übergab Ilse denselben, »daß er dir noch in einigen Fächern Nachhilfe geben lassen möge, besonders möge er für einen tüchtigen Lehrer im Zeichnen sorgen, da du viel Talent dazu habest.«

Fräulein Güssow trat ein und meldete, daß der Wagen vor der Thüre stehe, sie und Nellie begleiteten Ilse zur Bahn.

»Leb wohl denn, mein Kind,« sagte die Vorsteherin, »und wenn du einmal Sehnsucht nach der Pension bekommen solltest, so kehre zu uns zurück, jederzeit wirst du uns von Herzen willkommen sein.«

Im Hausflur standen die Freundinnen versammelt. Sie umringten die Scheidende und reichten ihr Blumensträuße. Natürlich küßten und herzten sie sich unter Thränen.

»Vergiß uns nicht!« »Schreib bald!« »Ich habe dich furchtbar lieb gehabt!« so und ähnlich klang es durcheinander, und ehe Ilse in den Wagen stieg, flüsterte Flora ihr zu: »Gedenke deines Schwurs!«

»Die Blumen werden dir lästig sein unterwegs, Ilse,« meinte Fräulein Güssow, die bereits mit Nellie im Wagen Platz genommen hatte, »laß sie zurück und nimm aus jedem Strauße nur einige Blümchen mit.«

Aber welches junge Mädchen würde auf diesen vernünftigen Vorschlag eingegangen sein! Eine Abreise ohne Strauß ist gar keine richtige Abreise nach heutigem Begriffe. Natürlich schüttelte Ilse den Kopf und sah das Fräulein bittend an. »Ich möchte sie so gern alle mitnehmen,« sagte sie.

»Aber wie?« Darauf gab Rosi die Antwort. Sie hatte ein offenes Körbchen herbeigeholt und legte den ganzen Blumenvorrat vorsichtig hinein.

Und nun zogen die Pferde an; noch ein »Lebewohl«, ein letzter Abschiedsblick, ein Grüßen mit dem Tuche und hinter ihr lag die Stätte, an der sie eine glückliche und lehrreiche Zeit verlebt. Ilse lehnte sich im Wagen zurück und weinte laut.

Als die Damen am Bahnhofgebäude anlangten, war der Zug soeben eingefahren. Er hatte fünfzehn Minuten Aufenthalt und Fräulein Güssow hatte Zeit, ein passendes Koupee für Ilse auszusuchen.

»Wo ist ein Damenkoupee? fragte sie den Schaffner, »diese junge Dame fährt nach W.«

»Hier! hier!« rief es aus dem Fenster eines Koupees hinter ihr, »hier können junge, hübsche Damen Platz nehmen!«

Das Fräulein wandte den Kopf und blickte in ein fröhliches Studentenangesicht. Das Cereviskäppchen saß ihm keck auf einem Ohre und kaum geheilte »Schmisse« schmückten Kinn und Wange. Hinter ihm standen noch einige andre Studenten und lachten zu dem Scherze ihres Freundes. Laut und ungeniert bewunderten sie die jungen Mädchen.

»Entzückend! Wunderbar! Fortuna mit dem Füllhorne!« riefen sie den Damen nach, die sich eilig entfernten. – Fräulein Güssow ergriff unwillkürlich Ilses Hand, die hocherrötet war.

»Wie unverschämt!« sagte sie entrüstet, »wie konnten sie das wagen! Ach Ilse, ich bin in Sorge um dich!« – Und sie ließ einen recht besorgten Blick über das junge Mädchen hingleiten, das in seinem schottischen Reisekleide, dem passenden Barett mit blau schillerndem Flügel an der Seite, überaus lieblich aussah. – »Du reistest noch niemals allein, und jetzt mußt du ohne Schutz die lange Fahrt machen. Wenn doch dein Papa dich abgeholt hätte!«

»Das war nicht möglich!« entgegnete Ilse. »Er mußte daheim bleiben, um Mamas einzigen Bruder, der zehn Jahr in der Welt umhergereist ist, heute zu begrüßen. Ich habe ihn selbst darum gebeten, als er mir schrieb, daß er trotzdem kommen wolle. Ich bin auch gar nicht ängstlich, es ist ja heller Tag. Papa hat mir auch die ganze Reiseroute so genau aufgeschrieben, daß ich mich nicht irren kann.«

»Lies mir das noch einmal vor,« sagte Fräulein Güssow. »Ich möchte dich gern mit meinen Gedanken begleiten. Du, Nellie, könntest indessen Ilses Handgepäck in das Koupee legen.«

Ilse nahm aus einem roten Ledertäschchen, das sie an ihrem Gürtel befestigt an der Seite trug, einen Brief und las:

»Um elf Uhr Abfahrt von dort, um zwei Uhr Ankunft in M. Bis drei Uhr Aufenthalt daselbst. Dann Weiterfahrt ohne umzusteigen bis Lindenhof. Um fünf Uhr langst du dort an, steigst aus und wirst von meinem alten Freunde, Landrat Gontrau mit seiner Frau, empfangen. Sie nehmen dich mit hinaus nach Lindenhof, wo du, auf ihre dringenden Bitten, übernachtest.

»Am andern Mittag fährst du weiter und Gontrau hat mir versprochen, dich sicher zur Bahn zu befördern und alles Nötige für deine Weiterreise zu besorgen.

»Vergiß nicht, eine Photographie von mir in die Hand zu nehmen; Gontraus, denen du ja unbekannt bist, werden dich daran erkennen.«

»Hast du das Bild?« fragte das Fräulein, und als Ilse bejahte, gab sie derselben noch mancherlei gute Lehren mit auf den Weg. »Ich weiß, du bist verständig und wirst auch vorsichtig sein, aber du bist noch unerfahren und kennst die Welt und die Menschen nicht; – es giebt Leute, die gar zu gern unsre ganzen Lebensverhältnisse herauslocken möchten und höchst geschickt zu fragen verstehen; weiche ihnen soviel wie möglich aus und sei höchst vorsichtig in deinen Aeußerungen. Für alle Fälle warne ich dich aber, in keiner Weise eine Aufmerksamkeit oder eine Gefälligkeit, wenn sie dir überflüssig erscheint, von einem Herrn, sei er jung oder alt, anzunehmen. Folge nur stets deiner zurückhaltenden Natur, liebes Herz, dann wirst du auch das Rechte thun.«

»Einsteigen!« rief der Schaffner und unterbrach die liebevollen Ermahnungen der jungen Lehrerin. Weinend umarmte Ilse dieselbe, und alles, was sie an Liebe und Dankbarkeit für dieselbe empfand, stammelte sie in zwei Worten mühsam hervor: »Dank – Dank –«

»Leb’ wohl denn, mein geliebtes Kind!« entgegnete diese und schloß ihr den Mund mit einem innigen Kusse.

Und Nellie? Der Abschied von ihr war der schwerste Augenblick für Ilse. »Behalt’ mir lieb,« bat sie kaum hörbar und sah dabei so unglücklich aus, als ob das Glück für immer von ihr scheide. Und Ilse hielt sie fest umschlungen und vermochte kein Wort hervorzubringen, – dann riß sie sich los und stieg ein.

Im letzten Augenblicke stieg noch eine alte Dame mit weißen Locken ein. Sie war ganz außer Atem von dem eiligen Gehen und schien etwas ängstlich und unbeholfen zu sein. Fräulein Güssow war ihr beim Einsteigen behilflich und als der Schaffner ihr Billett koupierte, erfuhr sie zu ihrer großen Freude, daß die Dame und Ilse die gleiche Reisetour hatten. Sie richtete die herzliche Bitte an dieselbe, daß sie das junge Mädchen unter ihren Schutz nehmen möge. Mit größter Liebenswürdigkeit versprach dies die Dame.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Ilse lehnte zum Fenster hinaus und grüßte mit dem Tuch die Zurückbleibenden. – Schmerzlich bewegt blickte Fräulein Güssow dem Zuge nach, es war ihr, als ob er ein Stück von ihrem Herzen mit sich nähme! Noch nie hatte sie mit so vieler Liebe und Hingebung sich der Erziehung einer Schülerin gewidmet, noch nie hatte sie sich durch den glücklichen Erfolg so belohnt gefühlt. – Nun ging sie fort und wer konnte sagen, ob sie das Kind je wiedersehen werde?

»Komm,« wandte sie sich der laut schluchzenden Nellie zu, »wir wollen gehen!« Und sie zog Nellies Arm durch den ihrigen und sprach tröstende Worte zu ihr – und hatte doch selbst ein so tiefbetrübtes Herz.

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