Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 2

<p>Noch eine Weile stand sie vor der verschlossenen Pforte&comma; sie konnte sich nicht entschließen&comma; an der Klingel zu ziehen&period; Da wurde die Thür von selbst geöffnet und Fräulein Güssow stand in derselben&period; Sie hatte von einem Fenster in der oberen Etage den Wagen kommen sehen und war hinuntergeeilt&comma; um Ilse zu empfangen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Jetzt gehörst du zu uns&comma; liebes Kind&comma;« sagte sie mit warmer Herzlichkeit und nahm sie in den Arm&period; »Weine nicht mehr&comma; wir werden dich alle lieb haben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse gab keine Antwort&comma; sie fühlte sich so unglücklich&comma; daß selbst der liebevolle Empfang der jungen Lehrerin kein Echo in ihrem Herzen fand&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Möchtest du auf dein Zimmer gehen&quest;« fragte diese&period;<&sol;p>&NewLine;<p><img style&equals;"display&colon; block&semi; margin-left&colon; auto&semi; margin-right&colon; auto&semi;" src&equals;"&sol;Emmy-von-Rhoden&sol;Der-Trotzkopf&sol;003&period;jpg&quest;m&equals;1382216278&" alt&equals;"" width&equals;"514" height&equals;"700"><&sol;p>&NewLine;<p>Ilse nickte stumm&comma; sie hielt noch immer das Tuch gegen die Augen gedrückt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nellie&excl;« rief Fräulein Güssow&comma; »gehe mit Ilse hinauf und sei ihr beim Auspacken ihrer Sachen behilflich&period; Du möchtest doch sicher gern deine Sachen in Ordnung haben&comma; liebe Ilse&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Sie wußte sehr wohl&comma; daß Ilse durchaus nicht diesen Wunsch hatte&comma; aber sie wußte auch&comma; daß die Thätigkeit das beste Heilmittel gegen Kummer und Herzeleid ist&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die beiden Mädchen begaben sich auf ihr Zimmer&period; Ilse setzte sich auf einen Stuhl&comma; behielt den Hut auf dem Kopfe und starrte zum Fenster hinaus&period; Es fiel ihr nicht ein&comma; ihre Sachen auszupacken&comma; und sie war geradezu empört&comma; daß man Dinge von ihr verlangte&comma; die den Dienstboten zukämen&period; Nellie hatte schweigend den Schrank geöffnet und die Schubladen der Kommode aufgezogen&comma; dann sah sie Ilse an&comma; ob diese sich nicht erheben werde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Gieb mich deiner Schlüssel&comma; ich werde aufschließen die Koffers&comma;« sagte sie&comma; »wir müssen auspacken&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Unlustig verließ Ilse ihren Platz und da sie an irgend etwas ihren augenblicklichen Unmut auslassen mußte&comma; nahm sie ihren Hut vom Kopfe und warf ihn mitten in das Zimmer&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Warum soll ich alles auspacken&quest; Ich weiß gar nicht&comma; ob ich hier bleiben werde&comma;« sagte sie&period; »Mir gefällt es hier nicht&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nellie hatte den Hut aufgenommen und ihn auf ein Bett gelegt&period; »O&comma;« sagte sie sanft&comma; »du gewöhnst dir schon&period; Es geht uns alle wie dich&comma; wenn wir kommen&period; Du mußt nur deiner Kopf nicht hängen lassen&period; Nun gieb die Schlüssels&comma; daß ich öffnen kann&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilses Trotz konnte durch keine Waffe besser geschlagen werden&comma; als durch Nellies Sanftmut&period; Sie gab den Schlüssel und jene schloß auf und begann auszuräumen&period; Ilse stand dabei und sah zu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; du mußt dich dein Sachen selbst aufräumen in dein Kommode&comma;« sagte Nellie&period; »Ich werde dich alles zureichen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse hatte wenig Lust dazu&comma; Ordnung kannte sie nur dem Namen nach&period; Sie nahm die sauber&comma; mit roten Bändern gebundene Wäsche und warf sie achtlos in die Schubkasten&comma; es war ihr gleich&comma; wie alles zu liegen kam&period; Nellie sah diesem Treiben einige Augenblicke zu&comma; dann fing sie an zu lachen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Was machst du&quest;« fragte sie&period; »Weißt du nicht&comma; wie Ordnung ist&quest; Taschentücher&comma; Kragen&comma; Schürzen – alles wirfst du durcheinander&period; Das sieht sehr bunt aus&period; Hübsch nebeneinander mußt du es machen&comma; so –&comma;« und sie zog einen Kasten nach dem andern in ihrer Kommode auf und zeigte Ilse&comma; wie sauber dort alles geordnet lag&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Das kann ich nicht&excl;« entgegnete Ilse&period; »Uebrigens fällt es mir auch gar nicht ein&comma; so viel Umstände um die dummen Sachen zu machen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Dumme Sachen&excl;« wiederholte Nellie&period; »O Ilse&comma; wie kannst du so sagen&excl; Sieh diesen feinen Taschentücher&comma; wie sie schön gestickt&comma; – o und diese süße Schürzen&excl; Und du hast die schwere Bücher daraufgethan – wie hast du sie zerdrückt&excl; – Laß nur sein&comma;« fuhr sie fort&comma; als Ilse im Begriffe war&comma; Schuhe und Stiefel auf die Wäsche zu werfen&comma; »ich werde ohne dir machen – du verstehst nix&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse ließ sich das nicht zweimal sagen&period; Ruhig sah sie zu&comma; wie Nellie das Schuhzeug nahm und es unten in den Kleiderschrank stellte&comma; wie sie überhaupt jedem Dinge den rechten Platz gab&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; ein schönes Buch&excl;« rief diese plötzlich und nahm ein Buch aus dem Koffer&comma; das höchst elegant in braunen Samt gebunden und mit silbernen Beschlägen verziert war&period; In der Mitte des Deckels befand sich ein kleines Schild&comma; auf welchem eingraviert war&colon; Ilses Tagebuch&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse nahm dasselbe Nellie aus der Hand und sah es verwundert an&period; Was war das für ein Buch&quest; Sie wußte nichts davon&period; Ein kleiner Schlüssel steckte in dem Schlosse desselben und als sie es aufgeschlossen hatte&comma; fiel ein beschriebenes Blatt ihr gerade vor die Füße&period; Sie hob es auf und las&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>&nbsp&semi;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"text-align&colon; center&semi;">Mein liebes Kind&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Möge dieses Buch Dein treuer Freund in der Fremde sein&period; Wenn Dein Herz schwer ist&comma; flüchte zu ihm und teile ihm mit&comma; was Dich bedrückt&period; Es wird verschwiegen sein und Dein Vertrauen nie mißbrauchen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Gedenke in Liebe<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"text-align&colon; center&semi;">Deiner<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"text-align&colon; right&semi;">Mama&period;<&sol;p>&NewLine;<p>&nbsp&semi;<&sol;p>&NewLine;<p>Ohne ein Wort zu sagen&comma; legte Ilse das Buch beiseite&period; Sie empfand keinen Funken Freude über die reizende Ueberraschung&comma; auch blieben die liebevollen Worte der Mutter ohne Eindruck auf sie&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Freut dir das Buch nicht&quest;« fragte Nellie&comma; die sich über diese Gleichgültigkeit wunderte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse schüttelte den Kopf&period; »Was soll ich damit&quest;« fragte sie und ihr hübscher&comma; frischer Mund zog sich trotzig in die Höhe&comma; »ich schreibe niemals etwas hinein&period; Ich werde froh sein&comma; wenn ich meine Aufgaben gemacht habe&period; Zu langen&comma; unnützen Geschichten habe ich keine Zeit und keine Lust&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich würde viel Freude haben&comma; wenn ich ein Mutter hätte&comma; die mir so beschenkte&comma;« sagte Nellie traurig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ist deine Mutter tot&quest;« fragte Ilse teilnehmend&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O sie ist lange&comma; lange tot&comma;« entgegnete Nellie&period; »Sie starb&comma; als ich noch eines klein Baby war&period; Meine Vater ist auch tot – ich bin ganz allein&period; Niemand hat mir recht von Herzen lieb&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Arme Nellie&comma;« sagte Ilse und ergriff ihre Hand&period; »Aber du hast Geschwister&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O nein&excl; keine Schwester – ganz allein&excl; Ein alte Onkel laßt mir in Deutschland ausbilden&comma; und wenn ich gutes Deutsch gelernt habe&comma; muß ich ein Gouvernante sein&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Gouvernante&excl;« rief Ilse erstaunt&period; »Du bist doch viel zu jung dazu&excl; Alte Mädchen können doch erst Gouvernanten werden&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ueber diese naive Anschauung mußte Nellie herzlich lachen&comma; und nun war ihre traurige Stimmung wieder verschwunden und ihre angeborene Heiterkeit brach hervor&comma; wie der Sonnenstrahl durch graue Wolken&period; Auf Ilse aber hatte Nellies Verlassensein einen tiefen Eindruck gemacht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Laß mich deine Freundin sein&comma;« bat sie in ihrer kindlich offnen Weise&comma; »ich will dich auch sehr lieb haben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Gern sollst du meine Freundin sein&comma;« entgegnete Nellie und reichte Ilse die Hand&period; »Du hast mich von der erste Augenblick so nett gefallen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der große Koffer war nun leer&comma; und Nellie ergriff den kleinen und war eben im Begriffe die Riemen desselben loszuschnallen&comma; als Ilse ihr ihn unsanft aus der Hand nahm&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Der bleibt geschlossen&excl;« sagte sie&comma; »du darfst nicht sehen&comma; was darin ist&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O je&excl; Was du machst so böse Augen&excl;« rief Nellie und stellte sich höchst erschrocken&period; »Hast du Heimlichkeiten in der kleine Koffer&quest; Ist wohl Kuchen und Wurst darin&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nellie begleitete ihre Worte mit so komischen Gebärden&comma; daß Ilse lachen mußte&period; Sie bereute auch schon ihre Heftigkeit&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich war recht heftig&comma; Nellie&comma; sei mir nicht böse&comma;« bat sie&period; »Wenn du mich nicht verraten willst&comma; dann werde ich dir zeigen&comma; was darin ist&semi; aber gieb mir die Hand darauf&comma; daß du schweigen wirst&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nellie legte den Zeigefinger auf den Mund und besiegelte mit einem Händedrucke ihre Verschwiegenheit&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt nahm Ilse den Schlüssel&comma; den sie am schwarzen Bande um den Hals trug&comma; und als sie eben im Begriffe war aufzuschließen&comma; wurde zum Abendessen geläutet&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O wie schade&excl;« rief Nellie&comma; die vor Neugierde brannte&comma; die geheimnisvollen Schätze zu sehen&period; »Nun müssen wir hinunter und erst nach die Schlafgehen können wir auspacken&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nach dem Schlafengehen&quest;« fragte Ilse erstaunt&period; »Da liegen wir ja doch in unsren Betten&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Schweig&excl;« entgegnete Nellie und legte abermals den Finger auf den Mund&period; »Das ist meines Geheimnis&period;« – –<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse erhielt ihren Platz neben der Vorsteherin&period; An ihrer andern Seite saß eine junge Russin&comma; Orla Sassuwitsch&period; Dieselbe war eine pikante&comma; elegante Erscheinung mit kurzgeschnittenem&comma; schwarzen Haar&comma; sehr lebhaften&comma; dunklen Augen und einem Stumpfnäschen&period; Sie zählte siebzehn Jahre&comma; sah aber älter aus&period; Uebrigens sprach sie fließend deutsch&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse hätte gern neben Nellie gesessen&comma; mit der sie in den wenigen Stunden so vertraut geworden war&comma; die aber saß weit entfernt von ihr&period; Augenblicklich hatte sie ihren Platz noch gar nicht eingenommen&comma; sondern sie stand mit noch einem Mädchen an einem Nebentische und war der Wirtschafterin behilflich&comma; den Thee zu servieren&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war ein allerliebster Anblick&comma; die jungen Mädchen mit ihren sauberen Latzschürzen so häuslich geschäftig zu sehen&period; Geschickt gingen sie an den Tafeln entlang und reichten die Tassen herum&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Verschiedene Schüsseln mit Butterbrötchen&comma; die reichlich mit Wurst und Braten belegt waren&comma; standen verteilt auf den Tischen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Fräulein Raimar ergriff die vor ihr stehende und reichte sie Ilse&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nimm dir&comma;« sagte sie&comma; »und gieb dann weiter an deine Nachbarin&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse war hungrig&period; Am Mittag hatte sie fast keinen Bissen genießen können&comma; jetzt aber machte die Natur ihre Rechte geltend&period; Sie nahm sich vier Schnitten auf einmal&comma; legte zwei und zwei aufeinander und verschlang den ganzen Vorrat in drei bis vier Bissen&period; Freilich hatte sie den Mund recht voll&comma; die Backen traten wie geschwollen heraus&comma; das kümmerte sie indes wenig&comma; sie war gewohnt&comma; von einem ländlichen Butterbrote tüchtig abzubeißen&comma; so zarte Theebrötchen hatte sie daheim stets verschmäht&period; Als sie trank&comma; hielt sie ihre Tasse mit beiden Händen und stützte die Ellbogen dabei auf den Tisch&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Fräulein Raimar hatte nicht acht auf Ilse gegeben und wurde erst aufmerksam&comma; als sie in ihrer Nähe unterdrücktes Kichern hörte&period; Melanie und Grete Schwarz&comma; zwei Schwestern aus Frankfurt am Main&comma; die Ilse gerade gegenüber saßen&comma; amüsierten sich köstlich über deren Ungeniertheit&comma; stießen heimlich ihre Nachbarinnen an und zeigten verstohlen auf die nichts ahnende&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Ein strenger Blick der Vorsteherin brachte die Mädchen zur Ruhe&period; Sie liebte es nicht&comma; daß über andrer Schwächen und Fehler gespottet wurde&period; Ueber Ilses unmanierliche Art zu essen sagte sie vorläufig nichts&comma; um sie nicht vor den vielen Mädchen zu beschämen&comma; erst unter vier Augen pflegte sie dergleichen Fehler zu rügen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Bist du noch hungrig&comma; Ilse&quest;« fragte sie&period; Statt einer Antwort nickte diese mit dem Kopfe&comma; sie hatte ja erst angefangen zu essen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Abermals wurde ihr die Brotschüssel gereicht und abermals nahm sie die gleiche Portion und verzehrte dieselbe genau in der früheren Weise&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Die ist gefräßig&excl;« flüsterte die fünfzehnjährige Grete ihrer um zwei Jahre älteren Schwester zu&period; »Sieh nur&comma; wie sie wieder stopft&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Melanie mußte die Hand vor den Mund halten&comma; sonst hätte sie laut herausgelacht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Um halb acht Uhr war das Abendessen vorbei und zugleich den Pensionärinnen die Erlaubnis gegeben&comma; frei zu thun&comma; was sie wollten&comma; bis neun Uhr&period; Dann war Schlafenszeit&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Komm&comma;« sagte Nellie und trat auf Ilse zu&comma; »ich werde mit dich in die Garten spazieren&period; Aber du hast ja dein Serviette noch nicht schön gelegt und die Ring drauf gezogen&excl; Das mußt du erst machen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma;« entgegnete Ilse&comma; »das werde ich nicht&excl; Wozu sind denn die Dienstmädchen da&quest; Zu Hause hatte ich niemals nötig&comma; solche Dinge zu thun&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ist egal&comma; meine liebe Kind&period; Hier mußt du solche Dinge thun&comma; wir machen es alle&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Richtig&comma; da lagen sämtliche Servietten sauber zusammengewickelt&comma; sie war die einzige&comma; die es nicht gethan hatte&period; Ungeduldig nahm sie die ihrige&comma; schlug sie flüchtig zusammen und zog den Ring darüber&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»So nicht&comma;« meinte Nellie&comma; »das ist ungeschickt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und sie faltete die Serviette noch einmal schnell und geschickt mit ihren kleinen Händen&period; Die junge Engländerin hatte bei allem&comma; was sie that&comma; Grazie und Anmut&comma; es war eine Lust&comma; ihr zuzusehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nun schnell in der Garten&excl;« sagte sie&comma; nahm Ilses Arm und führte sie dorthin&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war ein hübscher Garten&comma; den Ilse jetzt kennen lernte&period; Nicht so groß und parkartig wie der heimatliche&comma; aber wohl gepflegt&period; Schöne&comma; hohe Bäume standen darin&comma; auch fehlte es nicht an lauschigen Plätzen&period; Von allen Seiten sah man auf die grünbewaldeten Berge&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ist es nicht nett hier&quest;« fragte Nellie&comma; habt ihr bei dich auch so schöne Berge&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; Berge haben wir nicht&comma;« entgegnete Ilse&comma; »aber es gefällt mir doch besser bei uns&period; Es ist alles so frei&comma; ich kann das ganze Feld übersehen&period; Eine Mauer haben wir auch nicht um unsren Park&comma; nur eine grüne Hecke&comma; das ist viel hübscher&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nellie zeigte ihr sämtliche Lieblingsplätze&period; Sie führte sie zur Schaukel&comma; zum Turnplatz und zuletzt zu einer alten Linde&comma; die mit ihren breiten Zweigen und Aesten einen großen&comma; runden Raum beschattete&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; es ist süß hier&excl; Nicht wahr&quest;« fragte sie entzückt und sah mit leuchtenden Augen hinauf in das grüne Blätterdach&period; »Hier machen wir unsre Ruhe zu Mittag&period; Dieser alter Baum kann viel erzählen&comma; wenn er sprechen will&excl; Er weiß so viel Geheimnisse&comma; die hier verraten sind&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Bei dem Geplauder Nellies verging die Zeit schnell&period; Ilse&comma; die am Morgen sich so unglücklich gefühlt hatte&comma; die am Nachmittage geglaubt hatte&comma; daß sie nie die Trennung vom Papa überleben könne&comma; hatte schon verschiedenemal herzlich über Nellie lachen müssen&comma; denn diese hatte eine so drollige Art&comma; sie auf diese oder jene Pensionärin aufmerksam zu machen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Wie heißt das junge Mädchen&comma; das bei Tische neben mir sitzt&quest;« fragte Ilse&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Die mit die kurze Haar und der Klemmer auf die Nase&quest; Das ist Orla Sassuwitsch&period; Oh sie ist klug&excl; Wir haben alle eine kleine wenig Furcht für sie&comma; weil sie immer die Wahrheit gerade in die Gesicht sagt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Das ist doch hübsch&comma;« meinte Ilse&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O ja&comma; wenn sie angenehm ist&comma; aber zuweilen thut die Wahrheit weh&comma; das hört keiner Mensch gern&period; Wenn ich zu sie sagen würde&colon; ›Orla&comma; du hast geraucht&excl;‹ das würde sie gar nicht gefallen&comma; und es ist doch die Wahrheit&period; Ich habe durch ihr Schlüsselloch geluxt und habe große&comma; rauchige Wolken gesehen&period; –«<&sol;p>&NewLine;<p>Sie waren jetzt bei einer Trauerweide angelangt&comma; die ihre grünen Zweige bis auf den Boden gesenkt hatte&period; Nellie blieb stehen und bog einige Zweige auseinander&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hier&comma; Ilse&comma; stell ich dich unsre Dichterin vor&comma;« sagte sie lachend&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Angeredete blickte hinein und sah ein junges Mädchen auf einer kleinen Bank sitzen&comma; die hochaufgeschossen&comma; blond und blaß&comma; und deren Gesicht mit zahllosen Sommersprossen bedeckt war&period; Dieselbe hatte auf dem Schoße ein dickes&comma; blaues Heft&comma; in welchem sie eifrig schrieb&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Mit einer gewissen neugierigen Scheu blickte Ilse sie an&comma; es war ihr so neu&comma; daß junge&comma; siebzehnjährige Mädchen schon dichten können&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sie schreibt Romane&comma;« fuhr Nellie fort&comma; »aber wie&excl; Es kommen immer zerbrochene Herzen drin vor&period; – Du wirst dir die Auge schaden&comma; du hast ja keine Licht genug zu deine Romane&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Bis dahin hatte Flora Hopfstange sich nicht stören lassen in ihrer Arbeit&comma; jetzt aber wurde sie ärgerlich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich bitte dich&comma; laß mich in Ruhe&comma; Nellie&excl;« rief sie und schlug ihr hellblaues Auge schwärmerisch auf&period; »Ich hatte eben einen so wundervollen Gedanken&comma; nun habe ich ihn verloren&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; ich will ihn suchen&excl;« neckte Nellie und bückte sich auf die Erde nieder&comma; als ob sie ihn dort finden könne&period;<&sol;p>&NewLine;<p><img style&equals;"display&colon; block&semi; margin-left&colon; auto&semi; margin-right&colon; auto&semi;" src&equals;"&sol;Emmy-von-Rhoden&sol;Der-Trotzkopf&sol;004&period;jpg&quest;m&equals;1382216406&" alt&equals;"" width&equals;"458" height&equals;"700"><&sol;p>&NewLine;<p>»Du bist unausstehlich&excl;« entgegnete Flora aufgebracht&period; »Du freilich hast keine Ahnung von meiner Poesie&comma; verstehst du doch nicht einmal deutsch zu sprechen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Das ist wahr&comma;« meinte Nellie lachend und verließ mit Ilse die schwerbeleidigte Dichterin&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Melanie und Grete kamen ihnen jetzt entgegen&period; In ihrer Mitte führten sie ein junges Mädchen&comma; sie mochte in Melanies Alter sein&comma; mit lieben&comma; sanften Gesichtszügen&period; Das braune Haar trug sie einfach und glatt gescheitelt&comma; kein Härchen sprang widerspenstig hervor&period; Freundlich lächelte sie Ilse und Nellie an&comma; die beiden Schwestern dagegen musterten im Vorübergehen die Neuangekommene mit spöttischen Blicken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Die Schwestern kennst du&comma;« bemerkte Nellie&comma; »sie sitzen dich gradeüber bei Tisch&comma; aber unsre ›Artige‹ ist dich noch unbekannt&period; O&comma; ich sage dich&comma; Ilse&comma; sie ist so artig wie eines ganz wohlgezogenes Kind&period; Sie ist immer der erste in alle Stunden und macht nie eine dummer Streich&comma; kurz&comma; Rosi Möller ist eines Musterkind&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Was sagst du von unsrem Musterkinde&quest;« rief plötzlich eine fröhliche Mädchenstimme&period; »Nellie&comma; Nellie&comma; dein böses Zünglein geht sicher mit dir durch&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Du irrst dir&comma; liebes Lachtaube&comma;« entgegnete Nellie&comma; »Ilse ist noch so fremd&comma; ich mache ihr bekannt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Wer war das&quest;« fragte Ilse&comma; als die kleine&comma; runde Mädchengestalt&comma; die an Orlas Arme hing&comma; vorüber war&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Das ist Annemie von Bosse&comma; genannt Lachtaube&period; Sie lacht sehr viel&comma; eigentlich immer&comma; und sie kann keine Ende davon finden&period; Man muß mitlachen&comma; sie steckt an&period; – Nun habe ich dich aber alle Mädchen gezeigt&comma; die in unsre Alter sind&comma; die anderen sind zu jung oder es sind Engländerinnen&period; Von die ist nicht viel zu sage&comma; sie sind alle langweilig und sie sprechen noch viel weniger gut deutsch als ich&period;« –<&sol;p>&NewLine;<p>Mit dem Schlage neun begaben sich sämtliche Pensionärinnen zurück in das Haus&period; Bevor sie zur Ruhe gingen&comma; war es Sitte&comma; daß sich alle erst in das Zimmer der Vorsteherin begaben&comma; um ihr gute Nacht zu wünschen&period; Dieselbe reichte jeder einzelnen einen Kuß auf die Stirn&period; Zuweilen ermahnte&comma; lobte oder tadelte sie diese oder jene dabei&comma; wenn sie den Tag über etwas gut oder schlecht gemacht hatten&comma; alles geschah aber in liebevollem Tone&comma; nicht anders als wie eine Mutter zu ihrem Kinde spricht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich möchte noch mit dir sprechen&comma; liebe Ilse&comma;« sagte Fräulein Raimar&comma; als Ilse ihr gute Nacht bot&period; »Verweile noch einen Augenblick hier&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und als sämtliche Mädchen das Zimmer verlassen hatten&comma; ermahnte sie Ilse&comma; etwas manierlicher zu essen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Du darfst die Tasse nicht mit beiden Händen fassen und die Ellbogen dabei aufstützen&comma; Kind&comma; du glaubst nicht&comma; wie unschön das aussieht&period; Achte auf deine Mitschülerinnen&comma; du wirst sehen&comma; daß keine einzige es wie du macht&period; Und dann&comma; weißt du&comma; stecke nicht wieder so große Bissen in den Mund&period; Die kleinen Kinder machen es zuweilen so&comma; aber dann nennt die Mama sie&colon; Nimmersatt&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse war dunkelrot geworden vor Aerger über die erhaltene Ermahnung&period; Trotzig biß sie die Lippen aufeinander und unterdrückte eine ungezogene Antwort&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Geh nun zu Bett&comma; mein Kind&comma; und schlafe gut&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Sie war im Begriffe&comma; Ilse einen Kuß auf die Stirn zu reichen&comma; als diese mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurückbog&period; Es war ihr unmöglich&comma; sich von der Vorsteherin küssen zu lassen&comma; die sie in diesem Augenblicke geradezu haßte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Fräulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopfe ab&comma; ohne noch etwas zu sagen&comma; und Ilse verließ das Zimmer&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer&period; Die Thüre warf sie heftig in das Schloß und schob auch noch den Riegel vor&comma; was in der Pension streng untersagt war&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Mach nicht der Riegel zu&comma;« sagte Nellie&comma; »wir dürfen das nicht thun&period; Wenn wir in die Bett liegen&comma; kommt Fräulein Güssow bei uns nachsehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Ilse rührte sich natürlich nicht&comma; und Nellie mußte das selbst besorgen&period; Ungestüm warf sie sich auf ihr Bett und brach in Thränen aus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; was ist dich&quest;« fragte Nellie erschrocken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hier bleibe ich nicht&excl; – Ich reise morgen fort&excl; Wenn das mein Papa wüßte&comma; wie sie mich behandelt hat&excl;« rief Ilse aufgeregt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Durch viele Fragen bekam Nellie in einzelnen abgerissenen Sätzen von Ilse heraus&comma; was Fräulein Raimar gesagt hatte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich esse ungeschickt&comma; – ich nehme zu große Bissen – und ich bin ein Nimmersatt&excl; Zu Hause darf ich essen&comma; wie und was ich will&excl; – Ich will wieder fort&excl; Morgen reise ich&excl; –«<&sol;p>&NewLine;<p>»Du mußt dir nicht so viel grämen um so kleine Sach’&comma;« sagte Nellie sanft und strich liebkosend Ilses lockiges Haar&period; »Fräulein Raimar ist sehr gerecht&comma; sie meint es gut und will dir nicht beleidigen&period; Mit uns alle macht sie es so&period; Wir sind doch jung und dumm und müssen noch lernen&period; – Nun komm&comma; wir legen uns jetzt in die Bett und später&comma; wenn Fräulein Güssow bei uns eingesehen hat&comma; stehen wir ganz leise wie die Mäuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen&period; »Nein&excl;« rief sie und sprang auf&comma; »der kleine Koffer bleibt verschlossen&excl; Ich reise wieder fort&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Hastig zog sie sich aus&comma; warf ihre Kleidungsstücke drunter und drüber und legte sich schluchzend in ihr Bett&period; Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen&comma; sie hing das schöne Kleid an einen Nagel&comma; Ilse hatte dasselbe auf einen Stuhl geworfen&comma; und legte alles übrige glatt und ordentlich zusammen&period; Dann ging auch sie zur Ruhe&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Bevor sie indes ihr Lager bestieg&comma; kniete sie vor demselben nieder&comma; faltete die Hände und betete leise ein kurzes Gebet&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Gut’ Nacht&comma; Ilse&comma;« sagte sie dann und gab ihr einen Kuß&period; »Du mußt nun nicht mehr weinen&comma; – alle Anfang ist schwer&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber Ilse weinte noch lange&period; Ihre Gedanken kehrten zum Vater zurück und begleiteten ihn auf seiner Rückreise&period; In wenigen Stunden mußte er die Heimat erreicht haben&period; Ach&comma; wenn er wüßte&comma; wie sein einziges Kind behandelt wurde&excl; Sie fühlte sich zu unglücklich in der Gefangenschaft&excl; – Wie ein Kind weinte sie sich in den Schlaf&comma; aber böse Träume schreckten sie mehrmals auf&period; Bald hielt sie eine mächtige Theetasse in der Hand und ließ sie zur Erde fallen&comma; bald hielt ihr die Vorsteherin im grauen Kleide ein heimatliches Butterbrot dicht vor den Mund&comma; wollte sie aber zubeißen&comma; war es verschwunden&period;<&sol;p>

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