Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heidis Lehr- und Wanderjahre
(Johanna Spyri, 1880, empfohlenes Alter: 8 - 12 Jahre)

Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

<p>Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag&comma; wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier&comma; wahrscheinlich der Ruhe bedürftig&comma; geheimnisvoll verschwand&comma; sich einen Augenblick neben Klara hingesetzt&semi; aber schon nach fünf Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihre Stube berufen&comma; sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise beschäftigt und unterhalten&period; Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte dem Heidi&comma; wie man ihnen Kleider und Schürzchen macht&comma; und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und Mäntelchen&comma; denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den prächtigsten Farben&period; Nun Heidi lesen konnte&comma; durfte es auch immer wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen&semi; das machte ihm die größte Freude&comma; denn je mehr es seine Geschichten las&comma; desto lieber wurden sie ihm&comma; denn Heidi lebte alles ganz mit durch&comma; was die Leute alle zu erleben hatten&comma; und so hatte es zu ihnen allen ein sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder&comma; bei ihnen zu sein&period; Aber so recht froh sah Heidi nie aus&comma; und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war die letzte Woche&comma; welche die Großmama in Frankfurt zubringen wollte&period; Sie hatte eben nach Heidi gerufen&comma; dass es auf ihre Stube komme&semi; es war die Zeit&comma; da Klara schlief&period; Als Heidi eintrat mit seinem großen Buch unter dem Arm&comma; winkte ihm die Großmama&comma; dass es ganz nahe zu ihr herankomme&comma; legte das Buch weg und sagte&colon; »Nun komm&comma; Kind&comma; und sag mir&comma; warum bist du nicht fröhlich&quest; Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja«&comma; nickte Heidi&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hast du ihn dem lieben Gott geklagt&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Und betest du nun alle Tage&comma; dass alles gut werde und er dich froh mache&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O nein&comma; ich bete jetzt gar nie mehr&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Was sagst du mir&comma; Heidi&quest; Was muss ich hören&quest; Warum betest du denn nicht mehr&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Es nützt nichts&comma; der liebe Gott hat nicht zugehört&comma; und ich glaube es auch wohl«&comma; fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter&comma; »wenn nun am Abend so viele&comma; viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten&comma; so kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben&comma; und mich hat er gewiss gar nicht gehört&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»So&comma; wie weißt du denn das so sicher&comma; Heidi&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet&comma; manche Woche lang&comma; und der liebe Gott hat es nie getan&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; so geht's nicht zu&comma; Heidi&excl; Das musst du nicht meinen&excl; Siehst du&comma; der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater&comma; der immer weiß&comma; was gut für uns ist&comma; wenn wir es gar nicht wissen&period; Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen&comma; das nicht gut für uns ist&comma; so gibt er uns das nicht&comma; sondern etwas viel Besseres&comma; wenn wir fortfahren&comma; so recht herzlich zu ihm zu beten&comma; aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren&period; Siehst du&comma; was du nun von ihm erbitten wolltest&comma; das war in diesem Augenblick nicht gut für dich&semi; der liebe Gott hat dich schon gehört&comma; er kann alle Menschen auf einmal anhören und übersehen&comma; siehst du&comma; dafür ist er der liebe Gott und nicht ein Mensch wie du und ich&period; Und weil er nun wohl wusste&comma; was für dich gut ist&comma; dachte er bei sich&colon; &gt&semi;Ja&comma; das Heidi soll schon einmal haben&comma; wofür es bittet&comma; aber erst dann&comma; wenn es ihm gut ist&comma; und so wie es darüber recht froh werden kann&period; Denn wenn ich jetzt tue&comma; was es will&comma; und es merkt nachher&comma; dass es doch besser gewesen wäre&comma; ich hätte ihm seinen Willen nicht getan&comma; dann weint es nachher und sagt&colon; Hätte mir doch der liebe Gott nur nicht gegeben&comma; wofür ich bat&comma; es ist gar nicht so gut&comma; wie ich gemeint habe&period;&lt&semi; Und während nun der liebe Gott auf dich niedersah&comma; ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm kommest und betest und immer zu ihm aufsehest&comma; wenn dir etwas fehlt&comma; da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen&comma; hast nie mehr gebetet und hast den lieben Gott ganz vergessen&period; Aber siehst du&comma; wenn einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr unter den Betenden&comma; so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen&comma; wohin er will&period; Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert&colon; &gt&semi;Mir hilft aber auch gar niemand&excl;&lt&semi;&comma; dann hat keiner Mitleiden mit ihm&comma; sondern jeder sagt zu ihm&colon; &gt&semi;Du bist ja selbst vom lieben Gott weggelaufen&comma; der dir helfen konnte&excl;&lt&semi; Willst du's so haben&comma; Heidi&comma; oder willst du gleich wieder zum lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten&comma; dass du so von ihm weggelaufen bist&comma; und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen&comma; dass er alles gut für dich machen werde&comma; so dass du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannst&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört&semi; jedes Wort der Großmama fiel in sein Herz&comma; denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten&comma; und ich will ihn nie mehr vergessen«&comma; sagte Heidi reumütig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»So ist's recht&comma; Kind&comma; er wird dir auch helfen zur rechten Zeit&comma; sei nur getrost&excl;«&comma; ermunterte die Großmama&comma; und Heidi lief sofort in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn&comma; dass er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm niederschauen möge&period; -<&sol;p>&NewLine;<p>Der Tag der Abreise war gekommen&comma; es war für Klara und Heidi ein trauriger Tag&semi; aber die Großmama wusste es so einzurichten&comma; dass sie gar nicht zum Bewusstsein kamen&comma; dass es eigentlich ein trauriger Tag sei&comma; sondern es war eher wie ein Festtag&comma; bis die gute Großmama im Wagen davonfuhr&period; Da trat eine Leere und Stille im Hause ein&comma; als wäre alles vorüber&comma; und solange noch der Tag währte&comma; saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht&comma; wie es nun weiter kommen sollte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am folgenden Tag&comma; als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da war&comma; da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen&comma; trat Heidi mit seinem Buch unter dem Arm herein und sagte&colon; »Ich will dir nun immer&comma; immer vorlesen&semi; willst du&comma; Klara&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Klara war der Vorschlag recht für einmal&comma; und Heidi machte sich mit Eifer an seine Tätigkeit&period; Aber es ging nicht lange&comma; so hörte schon wieder alles auf&comma; denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen begonnen&comma; die von einer sterbenden Großmutter handelte&comma; als es auf einmal laut aufschrie&colon; »Oh&comma; nun ist die Großmutter tot&excl;«&comma; und in ein jammervolles Weinen ausbrach&comma; denn alles&comma; was es las&comma; war dem Heidi volle Gegenwart&comma; und es glaubte nicht anders&comma; als nun sei die Großmutter auf der Alm gestorben&comma; und es klagte in immer lauterem Weinen&colon; »Nun ist die Großmutter tot&comma; und ich kann nie mehr zu ihr gehen&comma; und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären&comma; dass es ja nicht die Großmutter auf der Alm sei&comma; sondern eine ganz andere&comma; von der diese Geschichte handle&semi; aber auch&comma; als sie endlich dazu gekommen war&comma; dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen&comma; konnte es sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter&comma; denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht&comma; die Großmutter könne ja sterben&comma; während es so weit weg sei&comma; und der Großvater auch noch&comma; und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme&comma; so sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und könne niemals mehr die sehen&comma; die ihm lieb waren&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und hatte noch Klaras Bemühungen&comma; Heidi über seinen Irrtum aufzuklären&comma; mit angehört&period; Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte zu schluchzen&comma; trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton&colon; »Adelheid&comma; nun ist des grundlosen Geschreis genug&excl; Ich will dir eines sagen&colon; Wenn du noch ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen den Lauf lässt&comma; so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für immer&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das machte Eindruck&period; Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken&comma; das Buch war sein höchster Schatz&period; Es trocknete in größter Eile seine Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter&comma; so dass kein Tönchen mehr laut wurde&period; Das Mittel hatte geholfen&comma; Heidi weinte nie mehr&comma; was es auch lesen mochte&semi; aber manchmal hatte es solche Anstrengungen zu machen&comma; um sich zu überwinden und nicht aufzuschreien&comma; dass Klara öfter ganz erstaunt sagte&colon; »Heidi&comma; du machst so schreckliche Grimassen&comma; wie ich noch nie gesehen habe&period;« Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame Rottenmeier nicht auf&comma; und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte&comma; kam alles wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen&period; Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und bleich aus&comma; dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte&comma; das so mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen&comma; wie Heidi bei Tisch die schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen wollte&period; Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu&comma; wenn er ihm eine Schüssel hinhielt&colon; »Nehmen von dem&comma; Mamsellchen&comma; 's ist vortrefflich&period; Nicht so&excl; Einen rechten Löffel voll&comma; noch einen&excl;«&comma; und dergleichen väterlicher Räte mehr&semi; aber es half nichts&colon; Heidi aß fast gar nicht mehr&comma; und wenn es sich am Abend auf sein Kissen legte&comma; so hatte es augenblicklich alles vor Augen&comma; was daheim war&comma; und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen hinein&comma; so dass es gar niemand hören konnte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So ging eine lange Zeit dahin&period; Heidi wusste gar nie&comma; ob es Sommer oder Winter sei&comma; denn die Mauern und Fenster&comma; die es aus allen Fenstern des Hauses Sesemann erblickte&comma; sahen immer gleich aus&comma; und hinaus kam es nur&comma; wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte&comma; die aber immer sehr kurz war&comma; denn Klara konnte nicht vertragen&comma; lang zu fahren&period; So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus&comma; sondern kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große&comma; schöne Straßen&comma; wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren&comma; aber nicht Gras und Blumen&comma; keine Tannen und keine Berge&comma; und Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr&comma; so dass es jetzt nur den Namen eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte&comma; so war schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe&comma; und Heidi hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen&period; So waren Herbst und Winter vergangen&comma; und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern am Hause gegenüber&comma; dass Heidi ahnte&comma; nun sei die Zeit nahe&comma; da der Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen&comma; da die goldenen Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich ringsum alle Berge im Feuer ständen&period; Heidi setzte sich in seinem einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu&comma; dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht sehe&semi; und so saß es regungslos&comma; sein brennendes Heimweh lautlos niederkämpfend&comma; bis Klara wieder nach ihm rief&period;<&sol;p>

«

»