Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heidis Lehr- und Wanderjahre
(Johanna Spyri, 1880, empfohlenes Alter: 8 - 12 Jahre)

Im Hause Sesemann spukt's

<p>Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens schweigend und in sich gekehrt im Haus herum&period; Wenn sie um die Zeit der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen Korridor ging&comma; schaute sie öfters um sich&comma; gegen die Ecken hin und auch schnell einmal hinter sich&comma; so&comma; als denke sie&comma; es könnte jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock zupfen&period; So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen herum&period; Hatte sie auf dem oberen Boden&comma; wo die feierlich aufgerüsteten Gastzimmer lagen&comma; oder gar in den unteren Räumen etwas zu besorgen&comma; wo der große geheimnisvolle Saal war&comma; in dem jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten Ratsherren mit den großen&comma; weißen Kragen so ernsthaft und unverwandt auf einen niederschauten&comma; da rief sie nun regelmäßig die Tinette herbei und sagte ihr&comma; sie habe mitzukommen&comma; im Fall etwas von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre&period; Tinette ihrerseits machte es pünktlich ebenso&semi; hatte sie oben oder unten irgendein Geschäft abzutun&comma; so rief sie den Sebastian herbei und sagte ihm&comma; er habe sie zu begleiten&comma; es möchte etwas herbeizubringen sein&comma; das sie nicht allein tragen könnte&period; Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe&semi; wurde er in die abgelegenen Räume geschickt&comma; so holte er den Johann herauf und wies ihn an&comma; ihn zu begleiten&comma; im Fall er nicht herbeischaffen könnte&comma; was erforderlich sei&period; Und jedes folgte immer ganz willig dem Ruf&comma; obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war&comma; so dass jedes gut hätte allein gehen können&semi; aber es war so&comma; als denke der Herbeigerufene immer bei sich&comma; er könne den anderen auch bald für denselben Dienst nötig haben&period; Während sich solches oben zutrug&comma; stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und schüttelte den Kopf und seufzte&colon; »Dass ich das noch erleben musste&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames und Unheimliches vor&period; Jeden Morgen&comma; wenn die Dienerschaft herunterkam&comma; stand die Haustür weit offen&semi; aber weit und breit war niemand zu sehen&comma; der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen konnte&period; In den ersten Tagen&comma; da dies geschehen war&comma; wurden gleich mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht&comma; um zu sehen&comma; was alles gestohlen sei&comma; denn man dachte&comma; ein Dieb habe sich im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen entflohen&semi; aber da war gar nichts fortgekommen&comma; es fehlte im ganzen Hause nicht ein einziges Ding&period; Abends wurde nicht nur die Tür doppelt zugeriegelt&comma; sondern es wurde noch der hölzerne Balken vorgeschoben - es half nichts&colon; Am Morgen stand die Tür weit offen&semi; und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte - die Tür stand offen&comma; wenn auch ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren&period; Endlich fassten sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit&comma; die Nacht unten in dem Zimmer&comma; das an den großen Saal stieß&comma; zuzubringen und zu erwarten&comma; was geschehe&period; Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große Liqueurflasche&comma; damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen könne&comma; wo sie nötig sei&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen gleich an&comma; sich Stärkung zuzutrinken&comma; was sie erst sehr gesprächig und dann ziemlich schläfrig machte&comma; worauf sie beide sich an die Sesselrücken lehnten und verstummten&period; Als die alte Turmuhr drüben zwölf schlug&comma; ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an&semi; der war aber nicht leicht zu erwecken&semi; sooft ihn Sebastian anrief&comma; legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere und schlief weiter&period; Sebastian lauschte nunmehr gespannt&comma; er war nun wieder ganz munter geworden&period; Es war alles mäuschenstill&comma; auch von der Straße war kein Laut mehr zu hören&period; Sebastian entschlief nicht wieder&comma; denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen Stille&comma; und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig&period; Endlich&comma; als es droben schon ein Uhr geschlagen hatte&comma; war der Johann wach geworden und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen&comma; warum er auf dem Stuhl sitze und nicht in seinem Bett liege&period; Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und rief&colon; »Nun&comma; Sebastian&comma; wir müssen doch einmal hinaus und sehen&comma; wie's steht&semi; du wirst dich ja nicht fürchten&period; Nur mir nach&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat hinaus&period; Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus&comma; das der Johann in der Hand hielt&period; Dieser stürzte zurück&comma; warf den hinter ihm stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein&comma; riss ihn dann mit&comma; schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüssel um&comma; solang er nur umging&period; Dann riss er seine Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an&period; Sebastian wusste gar nicht recht&comma; was vorgefallen war&comma; denn hinter dem breiten Johann stehend&comma; hatte er den Luftzug nicht so deutlich empfunden&period; Wie er aber jenen nun bei Licht besah&comma; tat er einen Schreckensruf&comma; denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie Espenlaub&period; »Was ist's denn&quest; Was war denn draußen&quest;«&comma; fragte der Sebastian teilnehmend&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sperrangelweit offen die Tür«&comma; keuchte Johann&comma; »und auf der Treppe eine weiße Gestalt&comma; siehst du&comma; Sebastian&comma; nur so die Treppe hinauf - husch und verschwunden&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf&period; Jetzt setzten sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr&comma; bis dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing&comma; lebendig zu werden&period; Dann traten sie zusammen hinaus&comma; machten die weit offen stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf&comma; um Fräulein Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte&period; Die Dame war auch schon zu sprechen&comma; denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen&period; Sobald sie nun vernommen hatte&comma; was vorgefallen war&comma; setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an Herrn Sesemann&comma; wie er noch keinen erhalten hatte&semi; er möge sich nur sogleich&comma; ohne Verzug&comma; aufmachen und nach Hause zurückkehren&comma; denn da geschähen unerhörte Dinge&period; Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht&comma; dass fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe&semi; dass also keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen könne&comma; was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach sich ziehen könne&period; Herr Sesemann antwortete umgehend&comma; es sei ihm unmöglich&comma; so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu kommen&period; Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend&comma; er hoffe auch&comma; sie sei vorübergehend&semi; sollte es indessen keine Ruhe geben&comma; so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie fragen&comma; ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte&semi; gewiss würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig&comma; und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder&comma; sein Haus zu beunruhigen&period; Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieses Briefes&semi; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst&period; Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann&comma; aber von dieser Seite her tönte es nicht eben befriedigender&comma; und die Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen&period; Frau Sesemann schrieb&comma; sie gedenke nicht&comma; extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen&comma; weil die Rottenmeier Gespenster sehe&period; Übrigens sei niemals ein Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann&comma; und wenn jetzt eines darin herumfahre&comma; so könne es nur ein lebendiges sein&comma; mit dem die Rottenmeier sich sollte verständigen können&semi; wo nicht&comma; so solle sie die Nachtwächter zu Hilfe rufen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen&comma; ihre Tage nicht mehr in Schrecken zuzubringen&comma; und sie wusste sich zu helfen&period; Bis dahin hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung gesagt&comma; denn sie befürchtete&comma; die Kinder würden vor Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen&comma; und das konnte sehr unbequeme Folgen für sie haben&period; Jetzt ging sie stracks ins Studierzimmer hinüber&comma; wo die beiden zusammensaßen&comma; und erzählte mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines Unbekannten&period; Sofort schrie Klara auf&comma; sie bleibe keinen Augenblick mehr allein&comma; der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen&comma; und Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein&comma; sonst könne das Gespenst einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun&semi; sie wollten alle in einem Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen&comma; und Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen&comma; dass sie gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten&comma; wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte&period; Klara war sehr aufgeregt und Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe&comma; sie etwas zu beschwichtigen&period; Sie versprach ihr&comma; sogleich an den Papa zu schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie mehr allein lassen zu wollen&period; Alle konnten sie nicht in demselben Raume schlafen&comma; aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte&comma; so müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen&period; Aber Heidi fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern&comma; von denen das Kind noch gar nie etwas gehört hatte&comma; und es erklärte gleich&comma; es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem Zimmer bleiben&period; Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann&comma; die unheimlichen Vorgänge im Hause&comma; die allnächtlich sich wiederholten&comma; hätten die zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert&comma; dass die schlimmsten Folgen zu befürchten seien&semi; man habe Beispiele von plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in solchen Verhältnissen&comma; und seine Tochter sei allem ausgesetzt&comma; wenn dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das half&period; Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und schellte dergestalt an seiner Hausglocke&comma; dass alles zusammenlief und einer den anderen anstarrte&comma; denn man glaubte nicht anders&comma; als nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften Stücke aus&period; Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb geöffneten Laden von oben herunter&semi; in dem Augenblick schellte es noch einmal so nachdrücklich&comma; dass jeder unwillkürlich eine Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete&period; Sebastian hatte die Hand erkannt&comma; stürzte durchs Zimmer&comma; kopfüber die Treppe hinunter&comma; kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür auf&period; Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem Zimmer seiner Tochter hinauf&period; Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf&comma; und als er sie so munter und völlig unverändert sah&comma; glättete sich seine Stirn&comma; die er vorher sehr zusammengezogen hatte&comma; und immer mehr&comma; als er nun von ihr selbst hörte&comma; sie sei so wohl wie immer und sie sei so froh&comma; dass er gekommen sei&comma; dass es ihr jetzt ganz recht sei&comma; dass ein Geist im Haus herumfahre&comma; weil er doch daran schuld sei&comma; dass der Papa heimkommen musste&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Und wie führt sich das Gespenst weiter auf&comma; Fräulein Rottenmeier&quest;«&comma; fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den Mundwinkeln&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; Herr Sesemann«&comma; entgegnete die Dame ernst&comma; »es ist kein Scherz&period; Ich zweifle nicht daran&comma; dass morgen Herr Sesemann nicht mehr lachen wird&semi; denn was in dem Hause vorgeht&comma; deutet auf Fürchterliches&comma; das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und verheimlicht worden sein&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»So&comma; davon weiß ich nichts«&comma; bemerkte Herr Sesemann&comma; »muss aber bitten&comma; meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen&period; Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer&comma; ich will allein mit ihm reden&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien&period; Es war Herrn Sesemann nicht entgangen&comma; dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten&semi; so hatte er seine Gedanken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Komm Er her&comma; Bursche«&comma; winkte er dem Eintretenden entgegen&comma; »und sag Er mir nun ganz ehrlich&colon; Hat Er nicht etwa selbst ein wenig Gespenst gespielt&comma; so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen&comma; he&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; meiner Treu&comma; das muss der gnädige Herr nicht glauben&semi; es ist mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache«&comma; entgegnete Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nun&comma; wenn es so steht&comma; so will ich morgen Ihm und dem tapferen Johann zeigen&comma; wie Gespenster beim Licht aussehen&period; Schäme Er sich&comma; Sebastian&comma; ein junger&comma; kräftiger Bursch&comma; wie Er ist&comma; vor Gespenstern davonzulaufen&excl; Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten Freund&comma; Doktor Classen&colon; meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen&semi; ich sei extra von Paris hergereist&comma; um ihn zu konsultieren&period; Er müsse die Nacht bei mir wachen&comma; so schlimm sei's&semi; er solle sich richten&excl; Verstanden&comma; Sebastian&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Jawohl&comma; jawohl&excl; Der gnädige Herr kann sicher sein&comma; dass ich's gut mache&period;« Damit entfernte sich Sebastian&comma; und Herr Sesemann kehrte zu seinem Töchterchen zurück&comma; um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung zu benehmen&comma; die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Punkt neun Uhr&comma; als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein Rottenmeier sich zurückgezogen hatte&comma; erschien der Doktor&comma; der unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte&period; Er sah etwas ängstlich aus&comma; brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein helles Lachen aus und sagte&comma; seinem Freunde auf die Schulter klopfend&colon; »Nun&comma; nun&comma; für einen&comma; bei dem man wachen soll&comma; siehst du noch leidlich aus&comma; Alter&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nur Geduld&comma; Alter«&comma; gab Herr Sesemann zurück&semi; »derjenige&comma; für den du wachen musst&comma; wird schon schlimmer aussehen&comma; wenn wir ihn erst abgefangen haben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer&comma; der eingefangen werden muss&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Weit schlimmer&comma; Doktor&comma; weit schlimmer&period; Ein Gespenst im Hause&comma; bei mir spukt's&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Doktor lachte laut auf&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Schöne Teilnahme das&comma; Doktor&excl;«&comma; fuhr Herr Sesemann fort&semi; »schade&comma; dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann&period; Sie ist fest überzeugt&comma; dass ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten abbüßt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt&quest;«&comma; fragte der Doktor noch immer sehr erheitert&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde&comma; nach der Angabe der sämtlichen Hausbewohner&comma; und fügte hinzu&comma; um für alle Fälle vorbereitet zu sein&comma; habe er zwei gut geladene Revolver in das Wachtlokal legen lassen&semi; denn entweder sei die Sache ein sehr unerwünschter Scherz&comma; den sich vielleicht irgendein Bekannter der Dienerschaft mache&comma; um die Leute des Hauses in Abwesenheit des Hausherrn zu erschrecken - dann könnte ein kleiner Schrecken&comma; wie ein guter Schuss ins Leere&comma; ihm nicht unheilsam sein -&semi; oder auch es handle sich um Diebe&comma; die auf diese Weise erst den Gedanken an Gespenster aufkommen lassen wollten&comma; um nachher umso sicherer zu sein&comma; dass niemand sich herauswage - in diesem Falle könnte eine gute Waffe auch nicht schaden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein&comma; wo Johann und Sebastian auch gewacht hatten&period; Auf dem Tische standen einige Flaschen schönen Weines&comma; denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünscht sein&comma; wenn die Nacht da zugebracht werden musste&period; Daneben lagen die beiden Revolver&comma; und zwei&comma; ein helles Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch&comma; denn so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt&comma; denn zu viel Licht durfte nicht in den Korridor hinausfließen&comma; es konnte das Gespenst verscheuchen&period; Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre Lehnstühle und fingen an&comma; sich allerlei zu erzählen&comma; nahmen auch hier und da dazwischen einen guten Schluck&comma; und so schlug es zwölf Uhr&comma; eh sie sich's versahen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht«&comma; sagte der Doktor jetzt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nur Geduld&comma; es soll erst um ein Uhr kommen«&comma; entgegnete der Freund&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Gespräch wurde wieder aufgenommen&period; Es schlug ein Uhr&period; Ringsum war es völlig still&comma; auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen&period; Auf einmal hob der Doktor den Finger empor&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Pst&comma; Sesemann&comma; hörst du nichts&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Sie lauschten beide&period; Leise&comma; aber ganz deutlich hörten sie&comma; wie der Balken zurückgeschoben&comma; dann der Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht&comma; jetzt die Tür geöffnet wurde&period; Herr Sesemann fuhr mit der Hand nach seinem Revolver&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Du fürchtest dich doch nicht&quest;«&comma; sagte der Doktor und stand auf&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Behutsam ist besser«&comma; flüsterte Herr Sesemann&comma; erfasste mit&nbsp&semi;der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen&comma; mit der Rechten den&nbsp&semi;Revolver und folgte dem Doktor&comma; der&comma; gleichermaßen mit Leuchter und&nbsp&semi;Schießgewehr bewaffnet&comma; voranging&period; Sie traten auf den Korridor hinaus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine weiße Gestalt&comma; die regungslos auf der Schwelle stand&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Wer da&quest;«&comma; donnerte jetzt der Doktor heraus&comma; dass es durch den ganzen Korridor hallte&comma; und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen an die Gestalt heran&period; Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei&period; Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand Heidi da&comma; schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde von oben bis unten&period; Die Herren schauten einander in großem Erstaunen an&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich glaube wahrhaftig&comma; Sesemann&comma; es ist deine kleine Wasserträgerin«&comma; sagte der Doktor&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Kind&comma; was soll das heißen&quest;«&comma; fragte nun Herr Sesemann&period; »Was wolltest du tun&quest; Warum bist du hier heruntergekommen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos&colon;&nbsp&semi;»Ich weiß nicht&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt trat der Doktor vor&colon; »Sesemann&comma; der Fall gehört in mein Gebiet&semi; geh&comma; setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen&comma; ich will vor allem das Kind hinbringen&comma; wo es hingehört&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Damit legte er seinen Revolver auf den Boden&comma; nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nicht fürchten&comma; nicht fürchten«&comma; sagte er freundlich im Hinaufsteigen&comma; »nur ganz ruhig sein&comma; da ist gar nichts Schlimmes dabei&comma; nur getrost sein&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>In Heidis Zimmer eingetreten&comma; stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch&comma; nahm Heidi auf den Arm&comma; legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu&period; Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete&comma; bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte&period; Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte begütigend&colon; »So&comma; nun ist alles in Ordnung&comma; nun sag mir auch noch&comma; wo wolltest du denn hin&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich wollte gewiss nirgends hin«&comma; versicherte Heidi&semi; »ich bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen&comma; ich war nur auf einmal da&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»So&comma; so&comma; und hast du etwa geträumt in der Nacht&comma; weißt du&comma; so&comma; dass du deutlich etwas sahst und hörtest&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; jede Nacht träumt es mir und immer gleich&period; Dann mein ich&comma; ich sei beim Großvater&comma; und draußen hör ich's in den Tannen sausen und denke&colon; Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel&comma; und ich laufe geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön&excl; Aber wenn ich erwache&comma; bin ich immer noch in Frankfurt&period;« Heidi fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht&comma; das den Hals hinaufstieg&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hm&comma; und tut dir denn auch nichts weh&comma; nirgends&quest; Nicht im Kopf oder im&nbsp&semi;Rücken&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O nein&comma; nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Hm&comma; etwa so&comma; wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; so nicht&comma; aber so schwer&comma; wie wenn man stark weinen sollte&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»So&comma; so&comma; und weinst du denn so recht heraus&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O nein&comma; das darf man nicht&comma; Fräulein Rottenmeier hat es verboten&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Dann schluckst du's herunter zum andern&comma; nicht wahr&comma; so&quest; Richtig&excl;&nbsp&semi;Nun&comma; du bist doch recht gern in Frankfurt&comma; nicht&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O ja«&comma; war die leise Antwort&semi; sie klang aber so&comma; als bedeute sie eher das Gegenteil&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hm&comma; und wo hast du mit deinem Großvater gelebt&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Immer auf der Alm&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»So&comma; da ist's doch nicht so besonders kurzweilig&comma; eher ein wenig langweilig&comma; nicht&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O nein&comma; da ist's so schön&comma; so schön&excl;« Heidi konnte nicht weiter&semi; die&nbsp&semi;Erinnerung&comma; die eben durchgemachte Aufregung&comma; das lang verhaltene<br&sol;>Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes&semi; gewaltsam stürzten ihm die&nbsp&semi;Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes&comma; heftiges Schluchzen<br&sol;>aus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Doktor stand auf&semi; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte&colon; »So&comma; noch ein klein wenig weinen&comma; das kann nichts schaden&comma; und dann schlafen&comma; ganz fröhlich einschlafen&semi; morgen wird alles gut&period;« Dann verließ er das Zimmer&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Wieder unten in die Wachtstube eingetreten&comma; ließ er sich dem harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem mit gespannter Erwartung Lauschenden&colon; »Sesemann&comma; dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig&semi; völlig unbewusst hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt&period; Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt&comma; so dass es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde&semi; also schnelle Hilfe&excl; Für das erste Übel und die in hohem Grade stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel&comma; nämlich&comma; dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückversetzest&semi; für das zweite gibt's ebenfalls nur eine Medizin&comma; nämlich ganz dieselbe&period; Demnach reist das Kind morgen ab&comma; das ist mein Rezept&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Herr Sesemann war aufgestanden&period; In größter Aufregung lief er das Zimmer auf und ab&semi; jetzt brach er aus&colon; »Mondsüchtig&excl; Krank&excl; Heimweh&excl; Abgemagert in meinem Hause&excl; Das alles in meinem Hause&excl; Und niemand sieht zu und weiß etwas davon&excl; Und du&comma; Doktor&comma; du meinst&comma; das Kind&comma; das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist&comma; schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück&quest; Nein&comma; Doktor&comma; das kannst du nicht verlangen&comma; das tu ich nicht&comma; das werde ich nie tun&period; Jetzt nimm das Kind in die Hand&comma; mach Kuren mit ihm&comma; mach&comma; was du willst&comma; aber mach es mir heil und gesund&comma; dann will ich es heimschicken&comma; wenn es will&semi; aber erst hilf du&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Sesemann«&comma; entgegnete der Doktor ernsthaft&comma; »bedenke&comma; was du tust&excl; Dieser Zustand ist keine Krankheit&comma; die man mit Pulvern und Pillen heilt&period; Das Kind hat keine zähe Natur&comma; indessen&comma; wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst&comma; an die es gewöhnt ist&comma; so kann es wieder völlig gesunden&semi; wenn nicht - du willst nicht&comma; dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht mehr zurückkomme&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben&colon; »Ja&comma; wenn du so redest&comma; Doktor&comma; dann ist nur ein Weg&comma; dann muss sofort gehandelt werden&period;« Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines Freundes und wanderte mit ihm hin und her&comma; um die Sache noch weiter zu besprechen&period; Dann brach der Doktor auf&comma; um nach Hause zu gehen&comma; denn es war unterdessen viel Zeit vergangen&comma; und durch die Haustür&comma; die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde&comma; drang schon der helle Morgenschimmer herein&period;<&sol;p>

«

»