Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Am fernen, schönen See

<p>Rico entfernte sich einige Schritte von dem Gebäude&comma; wo der Zug angehalten hatte&comma; und schaute um sich&comma; dieses weiße Haus&comma; der kahle Platz davor&comma; der schnurgerade Weg in der Ferne&comma; alles kam ihm so fremd vor&comma; das hatte er in seinem Leben nie gesehen und er dachte bei sich&colon; »Ich bin nicht am rechten Ort&period;« Er ging traurig weiter&comma; den Weg hinab&comma; zwischen den Bäumen durch&semi; nun machte der Weg eine Wendung&comma; und Rico stand da wie im Traum und rührte sich nicht mehr&period; Vor ihm lag funkelnd im hellen Sonnenschein der himmelblaue See mit den warmen&comma; stillen Ufern&comma; und drüben kamen die Berge gegeneinander&comma; in der Mitte lag die sonnige Bucht&comma; und die freundlichen Häuser daran schimmerten herüber&period; Das kannte Rico&comma; das hatte er gesehen&comma; da hatte er gestanden&comma; gerade da&comma; diese Bäume kannte er&semi; wo war das Häuschen&quest; Da mußte es stehen&comma; ganz nah&semi; es war nicht da&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber da unten war die alte Straße&comma; o&comma; die kannte er so gut&comma; und dort schimmerten die großen&comma; roten Blumen aus den grünen Blättern&semi; da mußte auch eine schmale&comma; steinerne Brücke sein&comma; dort über den Ausfluß vom See&comma; dort war er so oft hinübergegangen&semi; man konnte sie nicht sehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Plötzlich rannte Rico&comma; von brennendem Verlangen getrieben&comma; hinauf auf die Straße und hinüber&comma; da war die kleine Brücke – er wußte alles –&comma; da war er darübergegangen und jemand hielt ihn an der Hand – die Mutter&period; Mit einem Male kam das Gesicht der Mutter ganz klar vor seine Augen&comma; wie er es nie mehr gesehen hatte&comma; viele Jahre&semi; da hatte sie neben ihm gestanden und ihn angeschaut mit den liebevollen Augen&comma; und den Rico übernahm es&comma; wie noch nie in seinem Leben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Neben der kleinen Brücke warf er sich auf den Boden und weinte und schluchzte laut&colon; »O&comma; Mutter&comma; wo bist du&quest; Wo bin ich daheim&comma; Mutter&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>So lag er lange Zeit und mußte sein großes Leid ausweinen&comma; und es war&comma; als wollte sein Herz zerspringen und als sei es ein Ausbruch von allem Weh&comma; das ihn bisher stumm und starr gemacht&comma; wo es ihn getroffen hatte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als sich Rico vom Boden erhob&comma; war die Sonne schon weit unten und ein goldener Abendschein lag auf dem See&period; Nun wurden die Berge violett&comma; und ein rosiger Duft lag rings über den Ufern&period; So hatte Rico seinen See im Sinne gehabt und im Traum gesehen&comma; und noch viel schöner war alles&comma; nun er es wieder mit seinen Augen sah&period; Rico dachte in einem fort&comma; wie er so dasaß und schaute und nicht genug schauen konnte&colon; »Wenn ich doch das alles dem Stineli zeigen könnte&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun war die Sonne untergegangen und das Licht erlosch ringsumher&period; Rico stand auf und schritt der Straße zu&comma; wo er die roten Blumen gesehen&period; Von der Straße ging ein schmaler Weg dahin&period; Da standen sie&comma; ein Busch am anderen&comma; es war aber wie ein Garten anzusehen&semi; es war freilich nur ein ganz offener Zaun darum herum&comma; und im Garten waren Blumen und Bäume und Weinranken&comma; alles durch- und ineinander zu sehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da droben am Ende stand ein schmuckes Haus mit offener Tür&comma; und im Garten ging ein junger Bursche hin und her und schnitt da und dort große goldgelbe Trauben von den Reben und pfiff wohlgemut ein Lied dazu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico schaute die Blumen an und dachte&colon; »Wenn Stineli diese sehen könnte&excl;« und stand lange unbeweglich am Zaun&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt erblickte ihn der Bursche und rief ihm zu&colon; »Komm herein&comma; Geiger&comma; und spiel ein schönes Liedchen&comma; wenn du eins kannst&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das rief ihm der Knabe italienisch zu&comma; und dem Rico war es ganz sonderbar dabei&semi; er verstand&comma; was er hörte&comma; aber er hätte nicht so sprechen können&period; Er trat in den Garten ein&comma; und der Bursche wollte mit ihm reden&semi; wie er aber sah&comma; daß Rico nicht antworten konnte&comma; deutete er auf die offene Tür und machte dem Rico verständlich&comma; daß er dort spielen solle&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico näherte sich der Tür&comma; sie führte gleich in ein Zimmer hinein&period; Da stand ein Bettchen darin und daneben saß eine Frau und machte etwas aus roten Schnüren&period; Rico stellte sich vor die Schwelle und fing an sein Lied zu spielen und zu singen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">»Ihr Schäflein hinunter&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Als er fertig war&comma; erhob sich aus dem kleinen Bett ein bleicher Kopf von einem Knaben&comma; der rief heraus&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Spiel noch einmal&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico spielte eine andere Melodie&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Spiel noch einmal«&comma; tönte es wieder&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So ging es hintereinander fünf- bis sechsmal und immer wieder ertönte aus dem Bett&colon; »Spiel noch einmal&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun wußte Rico nichts mehr&semi; er nahm seine Geige herunter und wollte fortgehen&period; Da fing der Kleine an zu schreien&colon; »Bleib da&comma; spiel wieder&comma; spiel noch einmal&excl;« Und die Frau war aufgestanden und kam zu Rico her&period; Sie gab ihm etwas in die Hand&comma; und Rico wußte erst nicht&comma; was sie wollte&semi; aber es kam ihm wieder in den Sinn&comma; daß Stineli gesagt hatte&colon; wenn er an einer Tür geige&comma; so gäben ihm die Leute etwas&period; Dann fragte die Frau freundlich&comma; woher er komme und wohin er gehe&quest; Rico konnte nicht antworten&period; Sie fragte&comma; ob er mit seinen Eltern da sei&quest; da nickte er Nein&semi; ob er allein sei&quest; er nickte Ja&semi; wohin er jetzt gehen wolle so am Abend&quest; Rico schüttelte unsicher den Kopf&period; Da kam die Frau ein Mitleid an mit dem kleinen Fremden und sie rief den Burschen herbei und befahl ihm&comma; er solle mit dem Knaben nach dem Wirtshaus zur »Goldenen Sonne« gehen&comma; da verstehe der Wirt vielleicht die Sprache des kleinen Musikanten&comma; denn er sei lange fort gewesen&period; Dem solle er sagen&comma; er solle den Knaben über Nacht behalten auf ihre Rechnung und ihn auch morgen auf den rechten Weg stellen&comma; wohin er müsse&comma; er sei ja noch so jung – »nur ein paar Jahre älter als der meinige«&comma; setzte sie mitleidsvoll hinzu –&comma; und er solle ihm auch etwas zu essen geben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Kleine aus dem Bett schrie wieder&colon; »Er muß noch einmal spielen«&comma; und ließ nicht ab&comma; bis die Mutter sagte&colon; »Er kommt ja morgen wieder&comma; jetzt muß er aber schlafen und du auch&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Bursche ging nun dem Rico voran&comma; und dieser wußte nun wohl&comma; wohin er komme&comma; er hatte die Worte der Frau verstanden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war gute zehn Minuten bis zum Städtchen hin&period; Da mitten in einem Gäßchen trat der Bursche in ein Haus und unmittelbar in eine große Wirtsstube ein&comma; die war dick voller Tabaksrauch und eine Menge Männer saßen an den Tischen herum&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Bursche richtete seinen Auftrag aus&comma; und der Wirt sagte&colon; »Es ist gut«&comma; und die Wirtin kam auch gleich herbei und beide sahen sich den Rico von oben bis unten an&period; Wie aber die Gäste&comma; die am nächsten Tische saßen&comma; die Geige sahen&comma; riefen gleich mehrere von ihnen&colon; »Da gibt’s Musik«&comma; und einer rief&colon; »Spiel auf&comma; Kleiner&comma; gleich&comma; lustig&excl;« Und sie riefen alle so durcheinander&comma; daß der Wirt kaum fragen konnte&comma; was der Rico für eine Sprache rede und woher er komme&period; Rico antwortete nun in seiner Sprache&comma; daß er über den Maloja heruntergekommen sei&comma; und daß er alles verstehe&comma; was sie hier sagen&comma; aber nicht so reden könne&period; Der Wirt verstand ihn und sagte&comma; er sei auch schon da droben gewesen und sie wollten noch miteinander reden&comma; aber jetzt solle er etwas geigen&comma; denn die Gäste riefen noch immerfort&comma; sie wollten Musik haben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da fing Rico gehorsam an zu spielen&comma; und zwar wie immer mit seinem Liede&comma; und sang dazu&period; Aber von den Gästen verstand keiner ein Wort von dem Gesang&comma; und die Melodie kam den Zuhörern wohl ein wenig einfach vor&period; Die einen fingen an zu schwatzen und zu lärmen&comma; die anderen riefen&comma; sie wollten etwas anderes&comma; einen Tanz oder etwas Schönes&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico sang unentwegt sein Lied zu Ende&comma; denn wenn er es einmal angefangen hatte&comma; dann sang er es durch&period; Wie er nun fertig war&comma; besann er sich&colon; einen Tanz konnte er nicht spielen&comma; er kannte keinen&semi; das Lied von der Großmutter ging noch langsamer&comma; und sie konnten wieder nichts verstehen&semi; jetzt kam ihm in den Sinn und er stimmte an&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">»Una sera<br&sol;>In Peschiera« –<&sol;p>&NewLine;<p>Kaum waren die ersten melodischen Töne dieses Liedes erklungen&comma; so entstand eine völlige Stille&comma; und mit einem Male ertönten von da und dort und von allen Tischen her die Stimmen&comma; und es wurde ein Chor&comma; so schön wie Rico nie einen gehört hatte&comma; daß er ganz in Begeisterung kam und immer feuriger spielte&comma; und die Männer alle sangen immer eifriger&comma; und war ein Vers zu Ende&comma; so fing Rico gleich mit festem Zuge den neuen an&comma; denn er wußte noch wohl von dem Vater her&comma; wo es aufhörte&period; Und wie nun der Schluß kam&comma; da brach aber nach dem schönen Gesang ein solcher Lärm los&comma; wie Rico noch keinen gehört hatte&period; Alle die Menschen riefen und schrieen durcheinander und schlugen vor Freuden die Fäuste auf den Tisch&comma; und dann kamen sie alle mit ihren Gläsern auf den Rico los&comma; und aus jedem sollte er trinken&comma; und zwei schüttelten ihm die Hände und einer die Schultern&comma; und alle miteinander schrieen ihn an und machten vor lauter Freudenspektakel dem Rico angst und bange&comma; daß er immer blässer wurde&period; Er hatte aber ihr eigenes Peschiera-Lied gespielt&comma; das nur ihnen gehörte und das nie ein Fremder lernen konnte&comma; und er hatte es fest und rein gespielt&comma; als wäre er einer von Peschiera&semi; das konnten die lebhaft empfindenden Peschierianer gar nicht genug aussprechen und sich freuen über den Wundergeiger und Brüderschaft mit ihm trinken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun aber kam die Wirtin dazwischen mit einem Teller voll Reis und einem großen Stück Huhn oben darauf&semi; sie winkte dem Rico und sagte es den Leuten&comma; sie sollten ihn in Ruh’ lassen&comma; er müsse nun essen&comma; er sei ja kreideweiß vor Anstrengung&period; Dann stellte sie seinen Teller auf einen kleinen Tisch in der Ecke und setzte sich zu ihm und ermunterte ihn&comma; brav zu essen&comma; das könne einem so mageren Bürschchen nur gut tun&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico fand auch sein Nachtessen vortrefflich&comma; denn seit dem Kaffee am frühen Morgen hatte er keinen Bissen mehr gesehen&comma; und zu dem Fasten hatte er so viel erlebt heute&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Sobald er auch seinen Teller leer hatte&comma; fielen ihm die Augen zu vor Müdigkeit&period; Der Wirt war auch an den Tisch getreten und lobte den Rico für sein Spiel und fragte ihn&comma; wem er angehöre und wohin er wolle&period; Rico sagte&comma; indem er seine Augen mit Mühe offen hielt&comma; er gehöre niemandem&comma; und er wolle nirgendshin&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da ermunterte ihn der Wirt freundlich&comma; er solle nur ohne Kummer schlafen gehen&comma; morgen könne er dann die Frau Menotti wieder besuchen&comma; die ihn hierher geschickt habe&semi; die sei eine gar gute Frau und könne ihn vielleicht als Knechtlein gebrauchen&comma; wenn er nicht wisse&comma; wohin&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber die Wirtin riß den Mann immer noch am Ärmel&comma; so als ob er nicht sagen sollte&comma; was er sagte&semi; er redete aber doch fertig&comma; denn er begriff nicht&comma; was sie wollte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun fingen die Männer an den Tischen wieder zu lärmen an&comma; sie wollten noch einmal ihr Lied gespielt haben&period; Da rief aber die Wirtin&colon; »Nein&comma; nein&comma; am Sonntag dann wieder&semi; er fällt ja um vor Müdigkeit&period;« Damit nahm sie den Rico an der Hand und führte ihn hinauf in eine große Kammer&comma; da hing das Roßgeschirr an der Wand&comma; und in der einen Ecke war Korn aufgeschüttet&comma; und in der anderen stand sein Bett&period; In wenigen Minuten lag Rico darin und schlief tief und fest&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Später&comma; als in dem Hause alles still geworden war&comma; da saß der Wirt noch an dem Tischchen&comma; wo Rico gesessen&comma; und die Frau stand vor ihm – denn sie war noch am Aufräumen – und sagte mit Eifer&colon; »Den mußt du der Frau Menotti nicht wieder zuschicken&semi; ein solches Bürschchen kann ich gerade gebrauchen zu allerhand Geschäften&comma; und hast du denn nicht bemerkt&comma; wie er geigen kann&quest; Sie wurden ja alle wie wild davon&period; Gib acht&comma; das gibt einen Geiger ab&comma; wie keiner ist von unseren dreien&comma; und Tänze spielen lernt der schon&comma; dann hast du ihn für nichts an allen Tanztagen und kannst ihn noch ausleihen&period; Den mußt du gar nicht mehr aus der Hand lassen&comma; er sieht manierlich aus und gefällt mir&semi; den behalten wir&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Es ist mir auch recht«&comma; sagte der Wirt und sah ein&comma; daß seine Frau etwas Vorteilhaftes ausgedacht hatte&period;<&sol;p>

«

»