Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Der ferne, schöne See ohne Namen

<p>Als am Sonntagmorgen Stineli die Augen aufmachte&comma; hatte es eine große Freude im Herzen und wußte zuerst gar nicht warum&comma; bis es sich besann&comma; daß es Sonntag war und die Großmutter noch am Abend spät gesagt hatte&colon; »Morgen mußt du Sonntag haben&comma; den ganzen Nachmittag&semi; er gehört dir&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Als das Mittagessen vorbei war und Stineli alle Teller weggetragen und den Tisch abgewaschen hatte&comma; rief der Peterli&colon; »Komm zu mir&comma; Stineli«&comma; und die zwei anderen im Bett schrieen&colon; »Nein&comma; zu mir&excl;« Und der Vater sagte&colon; »Das Stineli muß nach der Geiß sehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber nun ging die Großmutter in die Küche hinaus und winkte dem Stineli nach&period; »Geh du jetzt in Frieden«&comma; sagte sie&comma; »der Geiß und den Kindern will ich schon nachgehen&comma; und wenn’s Betglocke läutet&comma; kommt ordentlich heim&period;« Die Großmutter wußte schon&comma; daß ihrer zwei waren&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt schoß Stineli davon wie ein Vogel&comma; dem man die Käfigtür aufgemacht hat&comma; und drüben stand Rico&comma; der hatte lange schon gewartet&period; Nun zogen sie aus über die Wiese hin&comma; der Waldhöhe zu&period; Die Sonne schien an allen Bergen und der Himmel lag blau darüber&period; Auf der Schattenseite mußten sie noch ein wenig im Schnee gehen bis hinauf&comma; aber da kam die Sonne von vorn und flimmerte über den See&comma; und da waren schöne&comma; trockene Plätzchen am Abhang&comma; steil über dem Wasser&period; Da saßen die Kinder hin&semi; es pfiff ein scharfer Wind über die Höhe und sauste ihnen um die Ohren&period; Stineli war lauter Freude und Genuß&period; Ein Mal über das andere rief es aus&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sieh&comma; sieh&comma; Rico&comma; die Sonne&comma; wie schön&excl; Jetzt wird’s Sommer&semi; sieh&comma; wie es glitzert auf dem See&period; Es kann gar keinen schöneren See geben&comma; als der ist«&comma; sagte es jetzt zuversichtlich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; ja&comma; Stineli&comma; du solltest nur einmal den See sehen&comma; den ich meine&excl;« und Rico schaute so verloren über den See hin&comma; als finge&comma; was er ansehen wollte&comma; erst dort an&comma; wo man nichts mehr sah&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Siehst du&comma; dort stehen nicht so schwarze Tannen mit Nadeln&comma; da sind so glänzende&comma; grüne Blätter und große&comma; rote Blumen&comma; und die Berge stehen nicht so hoch und schwarz und so nah&comma; nur weit drüben liegen sie ganz violett&comma; und am Himmel und auf dem See ist alles golden und so still und warm&semi; da tut der Wind nicht so und die Füße hat man nicht so voll Schnee&comma; dann kann man immer so am sonnigen Boden sitzen und zuschauen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli war bald hingerissen&semi; es sah schon die roten Blumen und den goldenen See vor sich&comma; das mußte doch so schön sein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Vielleicht kannst du wieder einmal dahin gehen an den See und alles wieder sehen&semi; weißt du den Weg&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Man geht auf den Maloja&period; Dort bin ich schon mit dem Vater gewesen&colon; da hat er mir die Straße gezeigt&comma; die geht den ganzen Weg hinunter&comma; immer so hin und her&comma; und weit unten ist der See&comma; aber noch so weit&comma; daß man fast nicht hinkommen kann&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; das ist ganz leicht«&comma; meinte Stineli&comma; »du müßtest nur immer weiter gehen&comma; so kämst du sicher zuletzt dahin&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Aber der Vater hat mir noch etwas gesagt&semi; siehst du&comma; Stineli&colon; wenn man auf dem Wege ist und in ein Wirtshaus hineingeht und ißt und schläft da&comma; so muß man immer bezahlen&comma; da muß man wieder Geld haben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; Geld haben wir jetzt so viel«&comma; rief Stineli triumphierend&period; Aber Rico triumphierte nicht mit&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Das ist gerade so viel wie nichts&comma; das weiß ich noch von der Geige her«&comma; sagte er traurig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»So bleib du lieber daheim&comma; Rico&semi; sieh&comma; es ist doch daheim so schön&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Eine Weile lang saß Rico nachdenklich da&comma; seinen Kopf auf den Ellbogen gestützt&comma; und seine Augenbrauen kamen wieder ganz zusammen&period; Jetzt kehrte er sich wieder zu Stineli&comma; das unterdessen von dem weichen&comma; grünen Moos ausrupfte und ein Bettlein machte&comma; zwei Kissen und eine Decke&comma; die wollte es dem kranken Urschli bringen&period; »Du sagst&comma; ich soll nur daheim bleiben&comma; Stineli«&comma; sagte er mit gefalteter Stirne&semi; »aber siehst du&comma; mir ist es gerade so&comma; wie wenn ich nicht wüßte&comma; wo ich daheim bin&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; was sagst du«&comma; rief Stineli und warf vor Erstaunen eine ganze Hand voll Moos weg&period; »Hier bist du daheim&comma; natürlich&period; Da ist man immer daheim&comma; wo man seinen Vater und seine Mutter –«&semi; hier hielt es plötzlich inne&colon; Rico hatte ja gar keine Mutter&comma; und der Vater war schon so lang wieder fort&comma; und die Base&quest; – Stineli kam der Base nie zu nah&comma; sie hatte ihm nie ein gutes Wort gegeben&semi; es wußte gar nicht mehr&comma; was sagen&period; Aber Stineli konnte in einem so unsicheren Zustande nicht lange bleiben&period; Rico hatte wieder zu staunen angefangen&semi; auf einmal faßte es ihn am Arm und rief&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nun möchte ich doch etwas wissen&comma; wie heißt der See&comma; wo es so schön ist&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico besann sich&period; »Ich weiß es nicht«&comma; sagte er&comma; selbst verwundert darüber&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da schlug Stineli vor&comma; sie wollten jemand fragen&comma; wie er heißen könne&semi; denn wenn Rico doch einmal viel Geld hätte und gehen könnte&comma; so müßte er ja den Weg erfragen und einen Namen wissen&period; Nun fingen sie an zu beraten&comma; wen man fragen könnte&semi; den Lehrer oder die Großmutter&period; Da fiel es Rico ein&comma; der Vater werde es am besten wissen&semi; den wollte er fragen&comma; sobald er heimkomme&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Unterdessen war die Zeit vergangen und auf einmal hörten die Kinder ganz in der Ferne ein leises Läuten&period; Sie kannten den Ton&comma; es war die Betglocke&period; Sie sprangen gleich beide vom Boden auf und rannten miteinander Hand in Hand durch Gestrüpp und Schnee die Halde hinunter und über die Wiese hin&comma; und es hatte noch nicht lange verläutet&comma; so standen sie schon an der Tür&comma; wo die Großmutter nach ihnen aussah&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli mußte nun gleich ins Haus hinein&comma; und die Großmutter sagte nur schnell&colon; »Geh du auch gleich hinein&comma; Rico&comma; und bleib nicht mehr stehen vor der Tür&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das hatte die Großmutter noch nie zu ihm gesagt&comma; obschon er es immer tat&comma; denn es gelüstete ihm nie&comma; in das Haus hineinzugehen&comma; und er stand immer erst eine Zeitlang vor der Haustür&comma; ehe er’s tat&period; Er gehorchte aber der Großmutter aufs Wort und ging gleich hinein&period;<&sol;p>

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