Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Des alten Schullehrers Geige

<p>Vor der Tür hatten sich Stineli und Rico bald aus dem Rudel herausgemacht und zogen zusammen ihren Weg&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hast du vor lauter Staunen nicht mehr mitgesungen&comma; Rico&quest;« fragte jetzt Stineli&period; »Ist dir etwa auf einmal der See in den Sinn gekommen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; etwas anderes«&comma; sagte Rico&semi; »ich weiß jetzt&comma; wie man spielt&colon; ›Ihr Schäflein hinunter‹&period; Wenn ich nur eine Geige hätte&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Wunsch mußte Rico schwer auf dem Herzen liegen&comma; denn er kam mit einem tiefen Seufzer heraus&period; Stineli war gleich ganz voller Teilnahme und unternehmender Gedanken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Wir wollen eine kaufen zusammen«&comma; rief es plötzlich in großer Freude über die Hilfe&comma; die ihm in den Sinn gekommen war&period; »Ich habe ganz viele Blutzger von der Großmutter&comma; etwa zwölf&semi; wie viele hast du&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Gar keinen«&comma; sagte Rico traurig&semi; »der Vater hat mir ein paar gegeben&comma; ehe er fortging&period; Aber die Base hat gesagt&comma; ich mache nur unnützes Zeug damit&comma; und hat sie genommen und ganz hoch hinauf in den Kasten gelegt&semi; man kann sie nicht mehr erlangen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber Stineli ließ sich nicht so bald entmutigen&period; »Vielleicht haben wir doch genug Geld&comma; und die Großmutter gibt mir schon noch ein wenig«&comma; sagte es tröstend&semi; »weißt du&comma; Rico&comma; eine Geige kostet nicht so viel&semi; es ist nur altes Holz und vier Saiten darüber gespannt&comma; das kostet nicht viel&period; Du mußt nur morgen den Lehrer fragen&comma; was eine Geige kostet&comma; und nachher suchen wir eine&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>So blieb es ausgemacht&comma; und Stineli dachte&comma; es wolle daheim tun&comma; was es nur könne&comma; und ganz früh aufstehen und das Feuer anmachen&comma; eh’ nur die Mutter auf sei&semi; denn wenn es so immerfort etwas tat von früh bis spät&comma; steckte ihm gewöhnlich die Großmutter einen Blutzger in den Sack&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am folgenden Morgen&comma; als die Schule aus war&comma; ging Stineli allein hinaus und an der Ecke vom Schulhaus stand es still hinter dem Holzhaufen und wartete auf den Rico&comma; der jetzt den Lehrer fragen sollte wegen der Geige&period; Er kam lange nicht heraus&comma; und Stineli guckte immer wieder mit Ungeduld hinter dem Holze hervor&comma; aber es waren nur die anderen Buben&comma; die noch da und dort herumstanden&period; Aber jetzt – richtig&comma; Rico kam um den Holzhaufen herum&period; Da war er&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Was hat er gesagt&comma; was kostet sie&quest;« rief Stineli mit angehaltenem Atem vor Erwartung&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich habe nicht fragen mögen«&comma; antwortete Rico verzagt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; wie schade&excl;« sagte Stineli und stand ganz verblüfft da&comma; aber nicht lange&period; »Es ist gleich&comma; Rico«&comma; sagte es wieder fröhlich und nahm ihn bei der Hand zum Heimgehen&comma; »du kannst nur morgen fragen&period; Ich habe auch schon wieder einen Blutzger bekommen heute früh von der Großmutter&comma; weil ich schon auf war&comma; als sie in die Küche kam&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun ging es aber am folgenden Tage wieder ganz gleich und am dritten auch&semi; Rico blieb immer eine halbe Stunde lang vor der Wohnstube des Lehrers stehen und mochte nicht hineingehen und seine Frage tun&period; Da dachte Stineli heimlich&colon; Wenn er noch drei Tage lang nicht fragt&comma; dann frag’ ich&period; Aber am vierten Tage&comma; als Rico wieder nachdenklich und zaghaft an der Tür stand&comma; ging diese plötzlich auf&comma; und der Lehrer trat eilig heraus und stieß so gewaltig gegen den Rico an&comma; daß das federleichte Büblein ein gutes Stück rückwärts flog&period; In großem Erstaunen und ziemlichem Unwillen stand der Lehrer da&period; »Was ist das&comma; Rico&quest;« fragte er jetzt&comma; als der Kleine wieder am Platze stand&period; »Warum kommst du an eine Tür und klopfest nicht an&comma; wenn du da etwas zu verrichten hast&semi; wenn du aber nichts da zu verrichten hast&comma; warum entfernst du dich nicht&quest; Solltest du mir aber etwas zu berichten haben&comma; so kannst du’s gleich hier sagen&period; Was wolltest du&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Was kostet eine Geige&quest;« stürzte Rico vor lauter Angst in voller Hast heraus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Des Lehrers mißbilligendes Erstaunen wuchs sichtlich&period; »Rico&comma; was muß ich von dir denken&quest;« fragte er mit gestrenger Miene&semi; »kommst du extra an die Tür deines Lehrers&comma; um unnütze Fragen an ihn zu tun&quest; oder hast du eine Absicht&quest; Was hast du damit sagen wollen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich habe nichts sagen wollen«&comma; entgegnete Rico schüchtern&comma; »nur fragen&comma; was eine Geige kostet&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Du hast mich nicht verstanden&comma; Rico&semi; paß jetzt auf&comma; was ich dir sage&colon; ein Mensch spricht etwas aus und denkt sich dabei einen Zweck&semi; oder er denkt sich nichts dabei&comma; das sind unnütze Worte&period; Nun paß auf&comma; Rico&colon; hast du soeben diese Frage getan aus gar keinem Grunde&comma; oder aus Neugierde&comma; oder hat dich jemand geschickt&comma; der gern eine Geige anschaffen wollte&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich wollte gern eine kaufen«&comma; sagte Rico ein wenig herzhafter&semi; aber er erschrak sehr&comma; als der Lehrer mit einem Male in hellem Zorn ihn anfuhr&colon; »Was&quest; Was sagst du da&quest; So ein – verlorenes&comma; unvernünftiges&comma; welsches Büblein&comma; wie du eins bist&comma; eine Geige kaufen&quest; Weißt du denn&comma; was eine Geige ist&quest; Weißt du&comma; wie alt ich war und was ich gelernt hatte&comma; eh’ ich eine Geige anschaffen konnte&quest; Lehrer war ich&comma; fertiger Lehrer&comma; zweiundzwanzig Jahre alt und stand in meinem Beruf&excl; Und dann so ein Büblein&comma; wie du eins bist&excl; Und jetzt will ich dir sagen&comma; was eine Geige kostet&comma; so kannst du deinen Unverstand bemessen&period; Sechs harte Gulden habe ich bezahlt dafür&semi; kannst du dir die Summe vergegenwärtigen&quest; Wir wollen sie gleich einmal in Blutzger auflösen&colon; Enthält ein Gulden 100 Blutzger&comma; so enthalten sechs Gulden 6 × 100 gleich&quest; – gleich&quest; – Nun Rico&comma; du bist sonst keiner von den Ungeschickten&comma; – gleich&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Gleich 600 Blutzger«&comma; ergänzte Rico leise&comma; denn der Schrecken versagte ihm die Stimme&comma; nun er die Summe überschaute und Stinelis zwölf Blutzger damit verglich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Und dann&comma; Büblein«&comma; fuhr der Lehrer im Zuge weiter fort&comma; »was meinst du&quest; Meinst du&comma; es nimmt einer eine Geige nur in die Hand und spielt&quest; Da muß einer anders dran&comma; bis er so weit ist&period; Komm gleich einmal da herein« – und der Lehrer machte die Tür auf und nahm die Geige von der Wand –&semi; »da&comma; nimm sie einmal in den Arm und den Bogen in die Hand&semi; so&comma; Büblein&comma; und wenn du mir nun c d e f herausbringst&comma; so geb’ ich dir gleich einen halben Gulden&period;« Rico hatte wirklich die Geige im Arm&semi; seine Augen leuchteten auf wie Feuer&period; c d e f – spielte er fest und völlig korrekt&period; »Du Erzblitzbub«&comma; rief der Lehrer vor Bewunderung aus&comma; »woher kannst du das&quest; Wer hat dich’s gelehrt&quest; Wie kannst du die Töne finden&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p><img style&equals;"display&colon; block&semi; margin-left&colon; auto&semi; margin-right&colon; auto&semi;" src&equals;"&sol;Johanna-Spyri&sol;Heimatlos&sol;002&period;jpg&quest;m&equals;1382336559&" alt&equals;"" width&equals;"494" height&equals;"756"><&sol;p>&NewLine;<p>»Ich kann noch etwas&comma; wenn ich’s spielen darf«&comma; sagte Rico und schaute mit Verlangen auf das Instrument in seinem Arm&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Spiel’s&excl;« bedeutete der Lehrer&period; Jetzt spielte Rico mit aller Sicherheit und freudestrahlenden Augen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">»Ihr Schäflein hinunter<br&sol;>Von sonniger Höh’&comma;<br&sol;>Der Tag ging schon unter&comma;<br&sol;>Für heute ade&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Lehrer hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und die Brille aufgesetzt&period; Er schaute mit ernster Prüfung jetzt auf Ricos Finger&comma; dann auf seine funkelnden Augen&comma; dann wieder auf die Finger&period; Rico hatte fertig gespielt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Komm hier zu mir her&comma; Rico&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Lehrer rückte seinen Stuhl ins Licht&comma; und Rico mußte sich gerade vor ihm aufstellen&period; »So&comma; nun muß ich ein Wort mit dir reden&period; Dein Vater ist ein Welscher&comma; Rico&comma; und siehst du&comma; dort unten gehen allerhand Dinge&comma; von denen wir hier in den Bergen nichts wissen&period; Nun sieh mir in die Augen und sag mir aufrichtig und der Wahrheit gemäß&colon; Wie bist du dazu gekommen&comma; diese Melodie ohne Fehler auf meiner Geige zu spielen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico schaute den Lehrer mit ganz ehrlichen Augen an und sagte&colon; »Ich habe sie Euch abgelernt in der Singschule&comma; wo wir sie so viel singen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung&period; Der Lehrer stand auf und ging einige Male hin und her&period; So war er selbst der Urheber dieser wunderbaren Erscheinung&semi; da waren also keine Schwarzkünste dabei im Spiel&period; Mit versöhntem Gemüte zog er jetzt seinen Beutel hervor&colon; »Da ist ein halber Gulden&comma; Rico&comma; er gehört dir mit Recht&period; Nun fahr so fort und sei recht aufmerksam auf das Geigenspiel&comma; solange du zur Schule gehst&comma; so kannst du’s zu etwas bringen&comma; und in zwölf bis vierzehn Jahren wird die Zeit da sein&comma; da du auch eine Geige anschaffen kannst&period; Jetzt kannst du gehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico warf noch einen Blick auf die Geige&comma; dann ging er mit der allertiefsten Betrübnis im Herzen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli kam hinter dem Holzstoß hervorgerannt&colon; »Diesmal bist du aber lang geblieben&comma; hast du gefragt&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Es ist alles verloren«&comma; sagte Rico&comma; und seine Augenbrauen kamen vor Leid so nah zusammen&comma; daß ein dicker&comma; schwarzer Strich war über die Augen hin&period; »Eine Geige kostet sechshundert Blutzger&comma; und in vierzehn Jahren kann ich eine kaufen&comma; wenn schon lange alles tot ist&semi; wer wollte noch am Leben sein in vierzehn Jahren&period; Da&comma; das kannst du haben&comma; ich will’s nicht&period;« Damit drückte er den halben Gulden in Stinelis Hand&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sechshundert Blutzger&excl;« wiederholte Stineli voller Entsetzen&period; »Aber woher hast du das viele Geld hier&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico erzählte nun alles&comma; wie es gegangen war bei dem Lehrer&comma; und endete wieder mit dem Worte des größten Leides&colon; »Jetzt ist alles verloren&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli wollte ihm wenigstens seinen halben Gulden aufdringen als einen ganz kleinen Trost&semi; aber er war ganz ergrimmt über den unschuldigen halben Gulden und wollte ihn nicht ansehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da sagte Stineli&colon; »So will ich ihn zu meinen Blutzgern tun und dann wollen wir das Geld alles miteinander teilen und alles gehört uns zusammen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Diesmal war auch Stineli sehr niedergeschlagen&semi; als es aber mit Rico um die Ecke kam&comma; wo es ins Feld hineinging&comma; lag der schmale Fußweg so schön trocken in der Sonne bis zur Haustür hin&comma; und dort flimmerte das Plätzchen davor auch ganz weiß und trocken&comma; und Stineli rief&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sieh&comma; sieh&comma; nun wird’s Sommer&comma; Rico&comma; und wir können wieder in den Wald hinauf&semi; dann freut’s dich auch wieder&period; Wollen wir schon am Sonntag gehen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Es freut mich gar nichts mehr«&comma; sagte Rico&semi; »aber wenn du gehen willst&comma; so will ich schon mitkommen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>An der Tür wurde es noch ganz ausgemacht&comma; am Sonntag wollten sie hinübergehen auf die Waldhöhe&comma; und dem Stineli kam schon wieder die Freude obenauf&period; Es tat auch noch die Woche durch&comma; was es nur vermochte&comma; und es gab viel zu tun&semi; der Peterli und der Sami und das Urschli hatten die Röteln&comma; und im Stall war eine Geiß krank&comma; der mußte man öfter heißes Wasser bringen&comma; und Stineli mußte da- und dorthin laufen und überall Hand anlegen&comma; sobald es nur aus der Schule kam&comma; und am Samstag den ganzen Tag lang&comma; bis spät am Abend&comma; da mußte es noch den Stalleimer fegen&period; Da sagte aber auch der Vater am Abend&colon; »Das Stineli ist ein handliches&period;«<&sol;p>

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