Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Ein kostbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser

<p>Es kamen nun viele schöne Sommertage&comma; und wo die Großmutter nur konnte&comma; richtete sie es ein&comma; daß das Stineli einen freien Augenblick bekam&semi; aber es gab immer mehr zu tun in dem Hause&period; Rico stand manche Stunde auf seiner Schwelle und staunte und sah nach der Tür drüben&comma; ob das Stineli komme&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Gegen den September&comma; wenn die Leute oft noch vor den Häusern saßen&comma; um sich der letzten warmen Abende zu freuen&comma; da saß auch der Lehrer noch etwa vor seiner Tür&semi; aber er sah ganz abgemagert aus und keuchte immer mehr&comma; und eines Morgens&comma; als er aufstehen wollte&comma; hatte er die Kraft nicht mehr und fiel wieder auf sein Kissen zurück&period; Da lag er denn ganz still und fing an&comma; allerlei zu bedenken&comma; und wie es kommen würde&comma; wenn er sterben müßte&period; Er hatte keine Kinder&comma; und seine Frau war schon lange gestorben&comma; nur eine alte Magd war noch bei ihm im Hause&period; Er mußte hauptsächlich nachdenken&comma; wohin alle die Sachen kämen&comma; die ihm angehörten&comma; wenn er nicht mehr da wäre&comma; und da seine Geige ihm gerade gegenüber an der Wand hing&comma; so sagte er zu sich&colon; »Die müßte ich auch dalassen&period;« Und der Tag kam ihm in den Sinn&comma; da der Rico hier vor ihm gestanden und gegeigt hatte&comma; und er hätte sie dem Büblein fast eher gegönnt als einem fernen Vetter&comma; der vom Geigen gar nichts verstand&period; So dachte er bei sich&comma; wenn er sie um ein billiges geben würde&comma; so könnte sie der Rico vielleicht erstehen&semi; der Vater hatte ihm doch wohl ein kleines hinterlassen&period; Da fiel ihm aber ein&comma; daß&comma; wenn er die Geige verlassen müsse&comma; er das Geld auch nicht mehr brauchen könne&period; Aber er konnte doch ein Instrument&comma; für das er sechs harte Gulden auf den Tisch gelegt hatte&comma; nicht nur so weggeben&period; So dachte er immer schärfer darüber nach&comma; wie es zu machen wäre&comma; daß er die Geige nicht so für nichts hergeben müßte&comma; daß sie ihm doch irgend etwas eintrüge&semi; aber immer zuletzt kam ihm wieder klar vor Augen&comma; daß dorthin&comma; wohin er die Geige nicht mitnehmen konnte&comma; er auch nichts anderes fortzubringen imstande war&comma; und daß all sein Gut da zurückbleiben würde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Fieber nahm unterdessen mehr und mehr überhand bei ihm&comma; und gegen Abend und die ganze Nacht durch lag er in einem großen Kampf von vielen Gedanken&comma; und es stiegen alte Dinge vor seinen Augen auf&comma; die er schon lange vergessen hatte&comma; und verfolgten ihn&comma; so daß er am Morgen ganz erschöpft dalag und nur noch einen Gedanken hatte&colon; er wollte gern etwas Gutes tun&comma; gleich auf der Stelle ein gutes Werk verrichten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Er klopfte mit dem Stock an die Wand&comma; bis die alte Magd hereinkam&comma; und diese schickte er zur Großmutter hinaus&comma; sie solle zu ihm kommen&comma; aber bald&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Großmutter trat auch bald nachher in seine Stube&comma; und eh’ sie nur recht fragen konnte&comma; wie es ihm gehe&comma; sagte er&colon; »Seid so gut und nehmt dort die Geige herunter und bringt sie dem Waisenbüblein&semi; ich will sie ihm schenken&comma; er soll Sorg’ dazu haben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Großmutter mußte sich aufs höchste verwundern und einmal über das andere ausrufen&colon; »Was wird der Rico machen&excl; Was wird der Rico sagen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Dann bemerkte sie&comma; daß der Lehrer ein wenig unruhig wurde&comma; so&comma; wie wenn die Sache Eile hätte&period; So verließ sie ihn bald und eilte nun&comma; so sehr sie konnte&comma; mit ihrem Geschenk unter dem Arm übers Feld&comma; denn sie konnte selbst kaum erwarten&comma; daß der Rico sein Glück erfahre&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der stand unter der Haustür&semi; auf den Wink der Großmutter kam er ihr entgegengelaufen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Da&comma; Rico«&comma; sagte sie und hielt ihm die Geige hin&comma; »die schickt dir der Lehrer zum Geschenk&comma; sie ist dein&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico stand da wie im Traume&comma; aber es war so&semi; die Großmutter streckte ihm wirklich die Geige entgegen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nimm sie&comma; Rico&comma; sie ist dein«&comma; wiederholte sie&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Zitternd vor Freude und innerer Aufregung ergriff Rico jetzt seine Geige&comma; nahm sie in den Arm und schaute sie unverwandt an&comma; so&comma; als könne sie ihm wieder wegkommen&comma; wenn er einmal weggehen würde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Du sollst auch Sorg’ dazu haben«&comma; ergänzte die Großmutter ihren Auftrag&semi; sie mußte aber ein wenig lachen&comma; es kam ihr nicht vor&comma; daß die Ermahnung nötig sei&period; »Und Rico&comma; denk auch an den Lehrer und vergiß nie&comma; was er an dir getan hat&semi; er ist sehr krank&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun trat die Großmutter in ihr Haus ein&comma; und Rico eilte mit seinem Schatz in seine Kammer hinauf&comma; dort war er immer ganz allein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da saß er hin und strich und geigte fort und fort und vergaß Essen und Trinken und alle Zeit&period; Erst als es schon fast dunkeln wollte&comma; stand er auf und ging die Treppe hinunter&period; Die Base kam aus der Küche und sagte&colon; »Du kannst denn morgen wieder essen&comma; heut’ hast du dich aufgeführt&comma; daß dir nichts gehört&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico empfand keinen Hunger&comma; obschon er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte&semi; so hatte er auch jetzt nicht ans Essen gedacht und ging ganz getrost ins andere Haus hinüber und gleich in die Küche hinein&comma; er suchte die Großmutter&period; Stineli stand am Herd und machte das Feuer an&period; Wie es des Rico ansichtig wurde&comma; mußte es ganz laut au&fjlig;auchzen&comma; denn schon den ganzen Tag durch&comma; seit die Großmutter erzählt hatte&comma; was begegnet war&comma; hatte ihm der Boden unter den Füßen gebrannt&comma; daß es nicht hinaus konnte&comma; um seine Freude beim Rico auszulassen&semi; aber es durfte keinen Augenblick fort&period; Nun war es aber auch wie außer sich und rief einmal ums andere&colon; »Jetzt hast du sie&excl; Jetzt hast du sie&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Auf den Lärm kam die Großmutter aus der Stube&comma; und Rico ging gleich zu ihr heran und sagte&colon; »Großmutter&comma; kann ich gehen und dem Lehrer danken&comma; wenn er schon krank ist&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Großmutter besann sich ein wenig&comma; denn der Lehrer hatte schon am Morgen recht schwer krank ausgesehen&semi; dann sagte sie&colon; »Wart ein wenig&comma; Rico&comma; ich will mit dir gehen«&comma; und ging&comma; die saubere Schürze anzuziehen&period; Dann wanderten sie miteinander dem Schulhaus zu&period; Die Großmutter trat zuerst ein&semi; dann kam ihr Rico leise nach&comma; die Geige im Arm&comma; denn diese hatte er noch keinen Augenblick weggelegt&comma; seit sie ihm gehörte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Lehrer lag sehr ermattet da&semi; Rico trat an das Bett heran und schaute dabei auf seine Geige&comma; und er konnte fast nichts sagen&comma; aber seine Augen funkelten so&comma; daß der Lehrer ihn wohl verstanden hatte&semi; er warf einen frohen Blick auf den Knaben und nickte mit dem Kopfe&period; Dann winkte er die Großmutter zu sich heran&period; Rico trat auf die Seite und der Lehrer sagte mit schwacher Stimme&colon; »Großmutter&comma; es wäre mir recht&comma; wenn Ihr mir ein Vaterunser beten wolltet&semi; es wird mir so bang&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt hörte man die Betglocke herüberläuten&semi; Rico faltete schnell seine Hände&comma; und die Großmutter faltete die ihrigen und betete ihr Vaterunser&period; Dann wurde es ganz still in der Stube&period; Die Großmutter beugte sich ein wenig und drückte dem alten Nachbar die Augen zu&comma; denn er war verschieden&period; Dann nahm sie den Rico an der Hand und ging leise hinaus mit ihm&period;<&sol;p>

«

»