Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Ein rätselhaftes Ereignis

<p>Als Rico in das Häuschen eintrat&comma; später als sonst&comma; denn über dem Gesang war wohl noch eine halbe Stunde vergangen&comma; schoß ihm die Base entgegen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Fängst du jetzt so an&quest;« rief sie&period; »Das Essen stand eine Stunde lang auf dem Tisch&comma; jetzt ist’s fort&period; Geh nur gleich in deine Kammer&comma; und wenn du ein ganzer Vagabund und Lump wirst&comma; so bin ich nicht schuld&semi; ich wollte lieber ich weiß nicht was tun&comma; als einen Buben hüten&comma; wie du einer bist&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hatte nie ein einziges Wörtlein geantwortet&comma; wenn die Base ihn schmähte&semi; aber an dem Abend schaute er sie an und sagte&colon; »Ich kann Euch schon aus dem Wege gehen&comma; Base&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Sie schob den Riegel an der Haustür vor&comma; daß es klatschte&comma; dann fuhr sie in die Stube hinein und schlug die Tür hinter sich zu&period; Rico ging in seine dunkle Kammer hinauf&period; –<&sol;p>&NewLine;<p>Am folgenden Tage&comma; als drüben die ganze große Haushaltung&comma; Eltern&comma; Großmutter und alle Kinder beim Abendessen saßen&comma; kam die Base herübergelaufen und rief in die Stube hinein&colon; ob sie etwas vom Rico wüßten&semi; sie wisse nicht&comma; wo er sei&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Der wird schon kommen&comma; wenn’s ans Abendessen geht«&comma; antwortete der Vater geruhlich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun kam aber die Base ganz in die Stube hinein&comma; denn sie hatte gedacht&comma; sie könne den Buben nur herausrufen&comma; er werde wohl da sein&period; Nun erzählte sie&comma; er sei schon zum Morgenessen nicht gekommen und zum Mittagessen nicht&comma; und im Bett sei er auch nicht gewesen&comma; das sei noch wie gestern Abend&comma; und sie glaubte fast&comma; der sei schon am frühesten Morgen vor Tag auf seine Lumpereien ausgegangen&comma; denn der Riegel sei schon inwendig von der Haustür weggeschoben gewesen&comma; als sie auftun wollte&semi; sie habe aber zuerst gemeint&comma; sie habe vor Ärger vergessen&comma; ihn zu stoßen&comma; denn es wisse kein Mensch&comma; was sie für Ärger habe&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Dem hat’s etwas gegeben«&comma; sagte der Vater unentwegt&period; »Er wird etwa in eine Spalte hineingefallen sein am Berg oben&semi; das gibt es manchmal mit so schmalen Buben&comma; die überall herumklettern&period; Ihr hättet es ein wenig früher sagen sollen«&comma; fuhr er langsam fort&comma; »man wird ihn etwa suchen müssen&comma; und des Nachts sieht man nichts&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt fuhr die Base los und machte einen furchtbaren Lärm&period; Sie habe wohl gedacht&comma; man werde ihr noch Vorwürfe machen wollen&semi; so gehe es immer&comma; wenn man schon jahrelang so viel ertragen und dazu geschwiegen habe&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Es glaubt es kein Mensch« – rief sie aus und sagte damit eine große Wahrheit –&comma; »was für ein heimtückischer&comma; hinterlistiger&comma; verstockter Bube der ist&comma; und wie er mir das Leben schwer gemacht hat seit vier Jahren&semi; ein Vagabund wird er&comma; ein Landstreicher und schädlicher Lump&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Großmutter hatte schon lange zu essen aufgehört&period; Sie war vom Tisch aufgestanden und vor die Base hingetreten&comma; die immer noch lärmte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Hört auf&comma; Nachbarin&comma; hört auf«&comma; hatte die Großmutter zweimal gesagt&comma; bevor die andere nachgab&period; »Ich kenne den Rico auch&semi; seit man das Büblein seiner Großmutter brachte&comma; habe ich es immer gekannt&period; Wenn ich aber an Eurer Stelle wäre&comma; so würde ich kein Wörtlein mehr sagen&comma; aber ein wenig nachsinnen&comma; ob das Büblein&comma; dem ein Unglück begegnet sein kann und das vielleicht schon da droben steht vor dem lieben Gott&comma; ob es da niemanden anzuklagen hat&comma; der in seiner Verlassenheit noch schweres Unrecht an ihm getan hat mit bösen Worten&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Base war es schon ein paarmal aufgestiegen&comma; wie Rico sie am Abend angeschaut und gesagt hatte&colon; »Ich kann Euch schon aus dem Wege gehen&period;« Sie hatte auch so furchtbar gelärmt&comma; um diese Gedanken zu übertönen&period; Sie durfte die Großmutter nicht ansehen und sagte&comma; sie müsse gehen&comma; vielleicht sei der Rico doch nun heimgekommen&comma; was sie jetzt gern genug gesehen hätte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Von dem Tage an sagte die Base nie mehr ein Wort gegen den Rico vor der Großmutter&comma; aber auch sonst nicht mehr viele&period; Sie glaubte&comma; wie alle anderen Leute auch&comma; er sei tot&comma; und war froh&comma; daß niemand wußte&comma; was er am letzten Abend zu ihr gesagt hatte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am Morgen nach der Nachricht ging Stinelis Vater in die Tenne hinaus und suchte eine Stange&semi; er hatte gesagt&comma; er wolle ein paar Nachbarn rufen&comma; man müsse doch den Buben suchen&comma; etwa gegen den Gletscher hinein und oben bei den Rüfenen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli war ihm nachgeschlichen&comma; und der Vater sagte&colon; »Es ist recht&comma; komm&comma; hilf mir suchen&comma; du kannst besser in die Winkel hinein als ich&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Erst als eine hohe Bohnenstange gefunden war&comma; sagte es&colon; »Aber&comma; Vater&comma; wenn der Rico vielleicht der Straße nach gegangen wäre&comma; dann könnte er doch in nichts hineingefallen sein&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Freilich kann er«&comma; entgegnete der Vater&period; »Solch’ unvernünftige Buben kommen vom Wege ab und in die Rüfenen hinein&comma; sie wissen gar nicht wie&semi; und der war sonst ein wenig ein Verstaunter&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Daß der Rico dies war&comma; wußte Stineli besser als irgend jemand&comma; und von dem Augenblick an kam eine große Angst in sein Herz und wuchs mit jedem Tage&comma; so daß es vor Qual und Unruhe nicht mehr essen und nicht mehr schlafen konnte und alle Arbeit tat&comma; als wäre es nicht dabei&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Rico wurde nicht gefunden&semi; kein Mensch hatte etwas von ihm gesehen&period; Man suchte ihn nicht mehr&comma; und bald fanden die Leute einen Trost und sagten&colon; »Es ist dem Waisenbüblein wohl geschehen&comma; es war doch verlassen und hatte niemand mehr&period;«<&sol;p>

«

»