Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
In der Heimat

<p>Als der goldene Sonntagmorgen über den Garten mit den roten Blumen leuchtete&comma; trat Frau Menotti heraus und setzte sich auf die Rasenbank am Zaun&period; Sie schaute ringsum und hatte ihre eigenen Gedanken dabei&period; Hier die Oleanderblumen und die Lorbeerhecke dahinter&comma; dort die vollen Feigenbäume und die goldenen Weinranken dazwischen&comma; – da sagte sie leise für sich&colon; »Gott weiß&comma; ich wäre froh&comma; wenn mir das Unrecht vom Gewissen genommen würde&semi; aber so schön&comma; wie es hier ist&comma; würde ich’s nirgends mehr finden&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt trat der Rico in den Garten&semi; er mußte ja heut’ Nachmittag fort&comma; und so den ganzen Tag&comma; ohne einmal zu kommen&comma; konnte er’s nicht gut aushalten&period; Als er gerade nach der Stube gehen wollte&comma; rief ihn Frau Menotti und sagte&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Setz dich einen Augenblick hier zu mir&semi; wer weiß&comma; wie lange wir hier noch nebeneinander sitzen werden&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico erschrak&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Warum denn&comma; Frau Menotti&comma; Ihr geht doch nicht fort&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun mußte Frau Menotti ablenken&comma; ihre Geschichte konnte sie nicht erzählen&period; Es kam ihr in den Sinn&comma; was Stineli ihr gestern Abend vom Rico gesagt hatte&semi; sie war aber so von ihrer eigenen Sache erfüllt gewesen&comma; daß sie es nicht recht verstanden hatte&period; Jetzt fing es an&comma; sie ein wenig zu wundern&comma; da es ihr wieder in den Sinn kam&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sag einmal&comma; Rico«&comma; fing sie an&comma; »warst du denn früher schon einmal da&comma; daß du den See wiedersehen wolltest&comma; wie mir gestern das Stineli erzählt hat&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; wie ich klein war«&comma; sagte Rico&comma; »dann kam ich fort&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Wie kamst du denn hierher&comma; als du klein warst&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Hier kam ich auf die Welt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Was&comma; hier&quest; Was war denn dein Vater&comma; daß er aus den Bergen hier herunterkam&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Er war nicht aus den Bergen&comma; nur die Mutter&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Was du sagst&comma; Rico&period; Dein Vater war doch nicht von hier&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Doch&comma; er war von hier&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Das hast du alles nicht erzählt&comma; das ist ja so merkwürdig&excl; Du hast doch keinen Namen von hier&semi; wie hieß denn dein Vater&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Wie ich hieß er&colon; Enrico Trevillo&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Frau Menotti fuhr von der Bank auf&comma; als treffe sie ein Anfall&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Was sagst du da&comma; Rico«&comma; rief sie&comma; »was hast du gerade jetzt gesagt&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Meines Vaters Namen«&comma; sagte Rico ruhig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Frau Menotti hatte nicht mehr zugehört&comma; sie war an die Tür gelaufen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Stineli&comma; gib mir ein Halstuch«&comma; rief sie hinein&period; »Ich muß zum Herrn Pfarrer auf der Stelle&comma; mir zittern alle Glieder&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli brachte erstaunt ein Halstuch&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Komm ein paar Schritte mit mir&comma; Rico«&comma; sagte Frau Menotti im Weggehen&semi; »ich muß dich noch etwas fragen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Zweimal noch mußte Rico sagen&comma; wie sein Vater hieß&comma; und zum dritten Male fragte Frau Menotti ihn noch an der Tür des Pfarrers&comma; ob er auch sicher sei&period; Dann trat sie in das Haus ein&period; Rico kehrte zurück und war verwundert über den Zustand der Frau Menotti&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hatte seine Geige mitgebracht&comma; er wußte&comma; daß es dem Stineli jedesmal Freude machte&comma; wenn sie mitkam&period; Als er nun damit in der Stube anlangte&comma; traf er den Silvio und das Stineli in der besten Stimmung&semi; denn Stineli hatte seinem Versprechen gemäß die Geschichte vom Peterli erzählt und damit sich und den Silvio in die größte Heiterkeit versetzt&period; Als dieser nun die Geige erblickte&comma; rief er gleich&colon; »Nun wollen wir singen&comma; mit dem Stineli wollen wir die Schäflein singen&period;« Stineli hatte sein Lied nie mehr gehört&comma; seit es entstanden war&semi; denn Rico spielte jetzt viele schöne Weisen&comma; und es hatte lange niemand mehr an das Lied gedacht&period; Daß aber der kleine Silvio das deutsche Lied singen wollte&comma; überraschte es sehr&comma; denn es wußte nicht&comma; wie viele hundert Male Rico es ihm vorgesungen hatte in den drei Jahren&period; Stineli hatte die größte Freude&comma; daß es das alte Lied wieder einmal mit Rico singen sollte&comma; und nun ging’s an&comma; und richtig&colon; Silvio sang aus allen Kräften mit&comma; und ohne daß er ein einziges Wort verstand&comma; hatte er sie alle dem Tone nach behalten durch das viele Anhören&period; Aber diesmal war das Lachen am Stineli&semi; denn Silvio sprach seine Worte meistens so ganz verwunderlich aus&comma; daß es vor Lachen gar nicht singen konnte&comma; und wie nun der Silvio das Stineli so mit dem ganzen Gesicht lachen sah&comma; da fing auch er an&comma; und dann sang er noch vernehmlicher und lauter&comma; daß das Stineli noch mehr lachen mußte&comma; und dazu geigte der Rico mit aller Kraft sein&colon; »Schäflein hinunter«&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So tönte schon von weitem das singende Gelächter der Frau Menotti entgegen&comma; als sie sich ihrem Garten näherte&comma; und sie konnte nicht recht fassen&comma; wie das so sein konnte in dieser ereignisvollen Stunde&period; Eilends kam sie durch den Garten und trat in die Stube ein&semi; sie mußte sich gleich auf dem ersten Stuhle niederlassen&comma; denn der Schrecken und die Freude und das Laufen und die Erwartung aller kommenden Dinge hatten sie überwältigt&comma; und sie mußte erst zu sich kommen&period; Die Sänger waren verstummt und schauten verwundert auf die Mutter&period; Jetzt hatte sie sich gesammelt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Rico«&comma; sagte sie&comma; feierlicher als sonst&comma; »Rico&comma; sieh um dich&excl; Dieses Haus&comma; dieser Garten&comma; das Feld&comma; alles&comma; was du hier sehen und nicht sehen kannst von oben bis unten&comma; das gehört alles dir&semi; du bist der Besitzer&comma; es ist dein väterliches Erbgut&period; Da ist deine Heimat&semi; dein Name steht im Taufbuch&comma; du bist der Sohn von Enrico Trevillo&comma; und der war meines Mannes nächster Freund&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli hatte bei den ersten zwei Worten schon alles begriffen und unaussprechliche Freude überstrahlte sein Gesicht&period; Rico saß wie versteinert auf seinem Stuhl und gab keinen Laut von sich&period; Aber der Silvio&comma; große Kurzweil ahnend&comma; brach in Jubel aus und rief&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»O jetzt gehört auf einmal das Haus dem Rico&excl; Wo muß er schlafen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Muß&quest; Muß&quest; Silvio&excl;« sagte die Mutter&period; »In allen Stuben kann er sein&comma; wo er will&semi; er kann uns alle drei heut’ noch da hinausstellen&comma; wenn er will&comma; und ganz mutterseelenallein im Hause bleiben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Dann ging ich lieber auch zu euch hinaus«&comma; sagte Rico&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; du guter Rico&excl;« rief Frau Menotti aus&semi; »wenn du uns da drinnen haben willst&comma; wie bleiben wir so gern&excl; Siehst du&comma; ich habe mir schon im Heimweg ein wenig ausgedacht&comma; wie wir es machen könnten&period; Ich könnte dir das halbe Haus abnehmen und so mit dem Garten und dem Land&semi; so gehörte die eine Hälfte von allem dir und die andere dem Silvio&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Dann geb’ ich meine Hälfte dem Stineli«&comma; rief Silvio&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Und ich die meine auch«&comma; sagte Rico&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Oho&comma; nun gehört alles dem Stineli&excl;« frohlockte der Kleine aus seinem Bett heraus&comma; »der Garten und das Haus und alles&comma; was drin ist&comma; die Stühle und die Tische und ich und der Rico und seine Geige&period; Jetzt wollen wir wieder singen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber so abgemacht&comma; wie der Silvio die Sache auffaßte&comma; kam sie dem Rico nicht vor&period; Er hatte unterdessen über die Worte der Frau Menotti nachgedacht und fragte nun zaghaft&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Aber wie könnte das sein&comma; daß das Haus von Silvios Vater mein wäre&comma; darum&comma; daß mein Vater sein Freund war&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da fiel es der Frau Menotti erst ein&comma; daß ja der Rico von dem ganzen Hergang der Sache noch nichts wußte&comma; und sie fing gleich an und erzählte die ganze Geschichte von vorn an und noch viel weitläufiger&comma; als sie am Abend vorher alles dem Stineli erzählt hatte&period; Und wie sie zu Ende war&comma; da hatten die drei alles völlig begriffen&comma; und bei allen dreien ging ein unbeschreiblicher Jubel los&comma; denn da war gar kein Hindernis mehr&comma; daß Rico auf der Stelle in sein Haus einziehe und es nie wieder verlasse&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Mitten aus dem Jubel heraus aber sagte Rico&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Weil doch alles so ist&comma; Frau Menotti&comma; so muß ja nun gar nichts anders werden in dem Hause&semi; ich komme nun auch und bin daheim hier&comma; und wir bleiben so zusammen&comma; und Ihr seid unsere Mutter&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»O Rico&comma; daß du es bist&comma; daß du es bist&excl; Wie hat doch der liebe Gott das alles so schön herausgeführt&excl; Daß ich es alles dir zu übergeben habe und doch dableiben kann mit dem besten Gewissen&period; Ich will dir auch eine Mutter sein&comma; Rico&comma; sieh&comma; du bist mir ja auch lange schon lieb wie ein eigenes Kind&period; Jetzt mußt du mich auch Mutter nennen&comma; und das Stineli auch&comma; und wir sind die glücklichste Haushaltung in ganz Peschiera&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Jetzt müssen wir unser Lied fertig singen«&comma; rief der Silvio&comma; dem es so ums Singen und Jauchzen war&comma; daß er einen Ausweg haben mußte&comma; und Rico und Stineli begannen noch einmal den Gesang in der größten Fröhlichkeit&comma; denn es war ihnen nicht minder wohl ums Herz&period; Als sie aber damit fertig waren&comma; sagte Stineli&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Nun möchte ich noch ein Lied mit dir singen&comma; Rico&semi; weißt du&comma; was für eines&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; ich weiß es«&comma; antwortete Rico&comma; »und ich will auch gern mithalten&semi; wir wollen gleich beim Vers der Großmutter anfangen«&comma; und er stimmte an und sang so schön und tief heraus&comma; wie er noch gar nie gesungen hatte&comma; und Stineli sang mit seinem ganzen Herzen dazu&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">»Er hat noch niemals was versehn<br&sol;>In seinem Regiment&comma;<br&sol;>Und was er tut und läßt geschehn&comma;<br&sol;>Das nimmt ein gutes End’&period;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Ei nun&comma; so laß ihn ferner tun<br&sol;>Und red ihm nicht darein&comma;<br&sol;>So wirst du hier im Frieden ruhn<br&sol;>Und ewig fröhlich sein&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber nach Riva ging der Rico nicht an dem Tage&period; Die Mutter Menotti hatte ihm geraten&comma; gleich hinzugehen und der Wirtin seine veränderten Verhältnisse mitzuteilen&comma; einen Geiger nach Riva zu beordern und gleich heute noch in sein Haus einzuziehen&period; Dieser Vorschlag gefiel dem Rico&comma; und er eilte gleich fort&period; Die Wirtin hörte ihm mit der größten Verwunderung zu&comma; als er ihr seine Mitteilungen machte&semi; als er fertig war&comma; rief sie ihren Mann herbei und bezeugte eine laute Freude und wünschte dem Rico allen Segen in sein Haus&comma; und es kam ihr recht von Herzen&period; Sie verlor ihn ungern&comma; aber sie hatte schon seit einiger Zeit den Verdacht gehegt&comma; die Wirtin zu den »Drei Kronen« fahnde auf den Rico und mache ihn ihr noch abspenstig&semi; das hätte sie nicht ertragen&period; Nun war der gefürchteten Tat der Riegel gestoßen&comma; und daß der Rico ein Gutsherr geworden war&comma; mochte sie ihm gönnen&comma; denn sie hatte ihn immer wohl gemocht&period; Und der Mann hatte seine besondere Freude an der Sache&comma; denn er hatte den Vater gekannt und konnte gar nicht begreifen&comma; daß es ihm nie in den Sinn gekommen war&comma; wie ihm der Rico aufs Haar gleich sehe&period; So nahm Rico einen freundlichen Abschied aus dem Hause&comma; und als ihm die Wirtin unter der Tür noch einmal die Hand gab&comma; empfahl sie sich noch für alle Fälle&comma; wenn er etwa mit der Zeit einmal einen Anlaß von seinem Haus aus zu geben hätte&period; Noch an demselben Abend wußte ganz Peschiera die ganze Geschichte des Rico&comma; wie sie sich zugetragen hatte&comma; und dann noch viel dazu&comma; und jedermann mochte dem Rico sein Glück gönnen&comma; und einer sagte zum anderen&colon; »Er paßt gerade als Herr auf sein Gütlein&comma; als wäre er eigens dazu geschaffen worden&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Mutter Menotti aber wußte nicht&comma; wie sie es dem neuen Besitzer gut genug machen wollte in seinem Hause&period; Sie rüstete das große Zimmer auf mit den zwei Fenstern über den Garten und auf den See hinab&semi; von der Wand schauten schöne weiße Marmorfigürchen herunter&comma; auf den Tisch kam ein duftender Blumenstrauß&comma; und das ganze Zimmer sah so sauber und festlich aus&comma; daß der Rico unter der Tür stehen blieb vor Erstaunen&comma; wie er jetzt&comma; vom Stineli geführt&comma; heraufkam&comma; wo die Mutter Menotti ihn empfangen wollte&period; Als diese ihn aber bei der Hand nahm und zum Fenster führte&comma; wo er auf den flimmernden See hinunter und bis zu den violetten Bergen hinübersah&comma; da stieg dem Rico so vieles auf im Herzen&comma; daß es ihm vor Freude und Dank übervoll wurde und er nur leise sagen konnte&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»O wie schön&excl; nun darf ich daheim sein&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>In der wohnlichen Stube mit den offenen Türen auf den Blumengarten wurde von dem Abend an&comma; da Rico sein Haus bezogen hatte&comma; von den vier Bewohnern desselben ein Tag nach dem anderen in solcher Fröhlichkeit und ungetrübtem Glücke verlebt&comma; daß keines von allen bemerkte&comma; wie rasch die Zeit dahinging&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am Tage ging der Rico seinem pfeifenden Burschen nach zu den Feigenbäumen und auf den Acker hinaus ins Maiskorn&comma; denn das mußte er nun alles behandeln lernen&period; Dann dachte der Bursche bei sich selbst&colon; »Ich kann freilich mehr als mein Meister«&comma; und der Hochmut stieg ihm ein wenig in den Kopf gegen den Rico&semi; aber am Abend klangen aus der erleuchteten Stube so schöne und herzgewinnende Weisen in den Garten hinaus&comma; daß der Bursche sich an die Hecke lehnte und stundenlang lauschte&comma; denn Musik ging ihm über alles&period; Dann sagte er zu sich&colon; »Mein Meister kann doch mehr als ich«&comma; und bekam einen großen Respekt vor ihm&period;<&sol;p>

«

»