Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
In der Schule

<p>Rico war bald neun Jahre alt und hatte schon zwei Winter hindurch die Schule besucht&comma; denn im Sommer gab es da droben in den Bergen keine Schule&semi; da hatte der Lehrer seinen Acker zu bebauen und zu grasen und zu hauen wie alle anderen Leute&comma; zur Schule hatte dann niemand Zeit&period; Das tat aber dem Rico nicht besonders leid&comma; er wußte sich schon zu unterhalten&period; Wenn er sich am Morgen dort auf die Schwelle gestellt hatte&comma; so blieb er stehen&comma; schaute hinaus mit träumenden Augen und bewegte sich nicht&comma; und so konnte er stundenlang stehen&comma; wenn nicht drüben am anderen Häuschen die Türe aufging und ein kleines Mädchen herauskam und lachend zu ihm herüberschaute&semi; dann lief Rico schnell hinüber&comma; und die Kinder hatten sich schon wieder viel zu sagen seit gestern Abend&comma; wo sie sich zuletzt gesehen hatten&comma; ehe Stineli ins Haus gerufen wurde&period; Stineli hieß das Mädchen und war gerade so alt wie Rico&semi; sie hatten miteinander angefangen in die Schule zu gehen und waren in derselben Klasse&comma; und schon von jeher waren sie immer beieinander gewesen&comma; denn es war ja nur ein schmaler Weg zwischen ihren Wohnungen und sie waren die allerbesten Freunde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hatte auch nur diese einzige Freundschaft&comma; denn mit den Buben ringsherum hatte er keine Freude&comma; und wenn sie sich prügelten und auf dem Boden herumwarfen und sich auf die Köpfe stellten&comma; dann ging er davon und schaute nicht einmal zurück&period; Wenn sie aber riefen&colon; »Jetzt wollen wir einmal den Rico abprügeln«&comma; dann stand er still und stellte sich geradeauf hin und machte gar nichts&semi; aber er schaute sie mit den dunkeln Augen so merkwürdig an&comma; daß ihn keiner packte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber beim Stineli war’s ihm wohl zumute&period; Es hatte ein lustiges Stumpfnäschen und darüber zwei braune Augen&comma; die lachten immerfort&comma; und um den Kopf hatte es zwei dicke&comma; braune Zöpfe gebunden&comma; die sahen sehr sauber aus&comma; denn das Stineli war ein ordentliches Mädchen und wußte sich zu helfen&semi; es war auch in einer guten Schule Tag für Tag&period; Stineli war wohl kaum neun Jahre alt&comma; aber es war die älteste Tochter und mußte der Mutter überall helfen&comma; und da war viel zu tun&period; Denn nach dem Stineli kamen noch&colon; das Trudi und der Sami und der Peterli&comma; und das Urschli und das Anne-Deteli und der Kunzli&comma; und dann noch das Ungetaufte&period; Immerfort rief man nach dem Stineli aus allen Ecken&comma; und es war dabei so flink geworden&comma; daß ihm alles aus der Hand lief wie von selbst&period; Den Kleinen hatte es immer schon drei Strümpfe und zwei Schuhe angezogen und festgebunden&comma; eh’ das Trudi dem einen&comma; dem es helfen sollte&comma; nur die Beine dazu in die rechte Stellung gebracht hatte&period; Und wenn in der Stube die kleinen Kinder und in der Küche die Mutter miteinander dem Stineli riefen&comma; dann rief der Vater noch aus dem Stall herüber&comma; er hatte dort die Kappe verlegt oder die Peitsche war verknüpft&comma; und das Stineli mußte ihm helfen&comma; denn es fand die Kappe immer gleich&comma; sie war meistens auf dem Futterkasten&comma; und seine gelenkigen Finger brachten die Peitschenschnur gleich auseinander&period; So war das Stineli immerfort im Laufen und am Arbeiten&comma; aber es war ganz lustig und munter dabei&comma; und im Winter war es froh über die Schule&comma; denn dann wanderte es dahin und wieder heim mit dem Rico&comma; und in der Pause gingen sie auch zusammen&period; Und im Sommer war es wieder froh&comma; da gab es schöne Sonntagabende&comma; da es hinaus durfte&semi; dann zog es aus mit dem Rico&comma; der schon lange drüben unter der Tür gewartet hatte&comma; und sie liefen Hand in Hand über die große Wiese hin nach der bewaldeten Anhöhe drüben&comma; die weit in den See hinausgeht wie eine Insel&period; Dort oben saßen sie unter den Tannen und schauten in den grünen See hinunter und hatten einander so viel zu erzählen und zu fragen&comma; und es war ihnen so wohl&comma; daß das Stineli sich die ganze Woche und durch alles durch freute&comma; denn es wurde immer wieder Sonntag&period;<&sol;p>&NewLine;<p>In dem Häuschen aber war noch jemand&comma; der dann und wann nach dem Stineli rief&comma; das war die alte Großmutter&period; Die rief aber nicht&comma; damit es ihr noch helfe&comma; sondern sie hatte ihm etwa einen Blutzger zu geben&comma; der ihr in die Hand kam&comma; oder sonst etwas&comma; denn Stineli war ihr Liebling und sie sah es mehr als sonst irgend jemand&comma; wie viel das Stineli schon tun mußte für sein Alter&comma; mehr als die meisten Kinder&period; Darum gab sie ihm gern etwas&comma; daß es auch wie andere Kinder am Jahrmarkt etwas kaufen könne&comma; etwa ein rotes Bändeli oder ein Nadelbüchsli&period; Die Großmutter war auch gegen Rico sehr gut und sah die Kinder gern beisammen und tat auch manchmal etwas für das Stineli&comma; daß es mit dem Rico noch ein wenig draußen bleiben durfte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>An den Sommerabenden saß sie immer vor dem Häuschen auf dem Holzstumpf&comma; der da lag&semi; und oft standen Stineli und Rico bei ihr und sie erzählte ihnen etwas&period; Wenn dann die Betglocke zu läuten anfing vom Türmchen&comma; so sagte sie&colon; »Jetzt müßt ihr jedes ein Vaterunser beten&comma; und das dürft ihr nie vergessen&comma; daß man am Abend sein Vaterunser beten muß&semi; dazu läutet die Betglocke&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Und seht&comma; Kinder«&comma; sagte die Großmutter von Zeit zu Zeit einmal wieder&comma; »ich habe schon lange gelebt und viel gesehen&comma; und ich kenne nicht einen&comma; der nicht einmal in seinem Leben sein Vaterunser nötig gehabt hätte&comma; aber manchen&comma; der es mit Angst gesucht und nicht mehr gefunden hat&comma; wenn die Not da war&period;« Dann standen Stineli und Rico ganz andächtig da und jedes betete ein Vaterunser&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt war es Mai und eine kleine Zeit mußte die Schule noch dauern&comma; lange konnte es nicht mehr sein&comma; denn es grünte unter den Bäumen und große Strecken waren ganz frei von Schnee&period; Rico stand schon unter der Tür seit einer guten Weile und stellte diese Betrachtungen an&period; Dabei schaute er immer wieder nach der Tür drüben&comma; ob sie noch nicht aufgehen wollte&period; Jetzt ging sie auf und Stineli kam herausgesprungen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Bist du schon lang dagestanden&quest; Hast du wieder gestaunt&comma; Rico&quest;« rief es lachend&period; »Siehst du&comma; heut’ ist es noch früh&comma; wir können langsam gehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule zu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Denkst du immer noch an den See&quest;« fragte Stineli im Gehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja gewiß«&comma; versicherte Rico mit ernstem Gesicht&comma; »und manchmal träumt es mir auch davon und ich sehe so große&comma; rote Blumen daran und drüben die violetten Berge&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; das gilt nicht&comma; was es einem träumt«&comma; sagte Stineli lebhaft&semi; »es hat mir auch einmal geträumt&comma; der Peterli kletterte ganz allein auf die allerhöchste Tanne hinauf&comma; und wie er auf dem obersten Zweiglein saß&comma; da war’s nur noch ein Vogel&comma; und er rief herunter&colon; ›Stineli&comma; zieh mir die Strümpf’ an&period;‹ Jetzt siehst du doch&comma; daß das nichts sein kann&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico mußte stark nachdenken&comma; wie das sei&comma; denn sein Traum konnte doch sein und war nur wie etwas&comma; das ihm wieder in den Sinn kam&period; Aber jetzt waren sie nahe beim Schulhaus angelangt und ein ganzer Trupp Kinder lärmte von der anderen Seite daher&period; Sie traten alle miteinander ein&comma; und bald nachher kam auch der Lehrer&period; Der war ein alter Mann mit dünnen&comma; grauen Haaren&comma; denn er war schon undenklich lang Lehrer gewesen&comma; so daß ihm darüber die Haare grau geworden und ausgefallen waren&period; Es ging nun an ein strenges Buchstabieren und Syllabieren&comma; dann kam das Einmaleins an die Reihe und zuletzt kam der Gesang&period; Da holte der Lehrer seine alte Geige hervor und stimmte sie&comma; und nun ging es an und alle sangen aus voller Kehle&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">»Ihr Schäflein hinunter<br&sol;>Von sonniger Höh’«&comma;<&sol;p>&NewLine;<p>und der Lehrer geigte dazu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun schaute aber der Rico so gespannt auf die Geige und des Lehrers Finger&comma; wie dieser die Saiten griff&comma; daß Rico darüber ganz das Singen vergaß und keinen Ton mehr von sich gab&period; Jetzt fiel mit einem Male die ganze Sängerherde einen halben Ton hinunter&comma; da wurde die Geige auch unsicher und fiel nach&comma; und die Sänger fielen noch tiefer&comma; und man kann gar nicht wissen&comma; wie tief hinunter alles miteinander gefallen wäre&comma; – aber jetzt warf der Lehrer die Geige auf den Tisch und rief erzürnt&colon; »Was ist das für ein Gesang&excl; Ihr unvernünftigen Schreier&excl; Wenn ich doch wissen könnte&comma; wer mir so falsch singt und einen ganzen Gesang verdirbt&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da sagte ein kleiner Bube&comma; der neben Rico saß&colon; »Ich weiß schon&comma; warum es so gegangen ist&semi; allemal geht es so&comma; wenn der Rico aufhört zu singen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Dem Lehrer war es selbst nicht so ganz unbekannt&comma; daß die Geige am sichersten ging&comma; wenn Rico fest mitsang&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Rico&comma; Rico&comma; was muß ich hören«&comma; sagte er ernsthaft&comma; zu diesem gewandt&period; »Du bist sonst ein ordentliches Büblein&comma; aber Unachtsamkeit ist ein großer Fehler&comma; das hast du jetzt gesehen&period; Ein einziger unachtsamer Schüler kann einen ganzen Gesang verderben&period; Jetzt wollen wir noch einmal anfangen&comma; und daß du aufpassest&comma; Rico&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun setzte Rico mit fester&comma; klarer Stimme ein&comma; und die Geige folgte nach&comma; und alle Kinder sangen aus allen Kräften mit&comma; so daß es ganz herrlich anzuhören war bis zum Schluß&period; Da war der Lehrer sehr zufrieden und rieb sich die Hände und tat noch ein paar feste Striche auf der Geige und sagte vergnüglich&colon; »Es ist auch ein Instrument danach&period;«<&sol;p>

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