Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Neue Freundschaft und die alte nicht vergessen

<p>Am Morgen darauf stand die Wirtin unter der Haustür und hielt ihre Umschau über das Wetter und was sich etwa über Nacht ereignet habe&period; Da kam der Bursche der Frau Menotti dahergegangen&semi; der war zugleich Herr und Knecht auf dem schönen&comma; fruchtreichen Gute der Frau&comma; denn er verstand die Garten- und Feldarbeit und regierte und besorgte alles selbst und hatte es gut&period; Darum pfiff er auch fortwährend&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als er nun vor der Wirtin stand&comma; stellte er das Pfeifen ein wenig ein und sagte&colon; wenn der junge Musikant von gestern Abend noch nicht weiter sei&comma; so solle er zur Frau Menotti herüberkommen&comma; das Büblein wolle ihn noch einmal geigen hören&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; ja&comma; wenn es der Frau Menotti nur nicht zu stark pressiert«&comma; sagte die Wirtin&comma; indem sie beide Arme in die Seite stemmte&comma; zum Zeichen&comma; daß sie nicht in der Eile sei&period; »Vorderhand liegt der Musikant oben in seinem guten Bett und schläft noch tapfer&comma; und ich gönne ihm seinen Schlaf&period; Der Frau Menotti könnt Ihr sagen&comma; ich wolle ihn einmal vorbeischicken&comma; denn er gehe nicht weiter&comma; sondern ich habe ihn auf- und angenommen für gut&semi; denn er ist ein verlassenes Waisenkind&comma; das nicht wußte&comma; wohin&comma; und nun ist er wohl versorgt«&comma; setzte sie mit Nachdruck hinzu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Bursche ging mit seinem Auftrag&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Wirtin ließ den Rico ganz fertig schlafen&comma; denn sie war eine gutmütige Frau&comma; nur dachte sie zuerst an den eigenen Profit und dann nachher an den der anderen&period; Als Rico endlich von selbst erwachte&comma; hatte er alle Müdigkeit ausgeschlafen und kam ganz frisch die Treppe herunter&period; Da winkte ihm die Wirtin in die Küche hinein und stellte ein großes Becken voll Kaffee vor ihn auf den Tisch und legte einen schönen&comma; gelben Maiskuchen daneben&period; Dann sagte sie&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»So kannst du’s alle Tage haben&comma; wenn du willst&comma; und am Mittag und Abend noch viel besser&comma; denn da kocht man für die Gäste und da bleibt immer etwas übrig&period; Dann kannst du für mich auslaufen und daneben geigen&comma; wenn’s nötig ist&comma; und kannst bei uns daheim sein&comma; und hast deine eigene Kammer und mußt nicht mehr in der Welt herumziehen&period; Jetzt kannst du nur sagen&comma; ob du willst&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da antwortete Rico zufrieden&colon; »Ja&comma; ich will«&comma; denn so viel konnte er ganz gut in der Wirtin Sprache sagen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun ging sie gleich mit ihm durch das ganze Haus und durch die Scheune und den Stall und in den Krautgarten und zum Hühnerhof&comma; und von all den Plätzen aus erklärte sie ihm die Umgebung und die Richtung&comma; wo es zum Krämer ging und zum Schuhmacher und noch zu mehreren anderen wichtigen Leuten&period; Rico gab genau acht&comma; und um ihn zu prüfen&comma; schickte die Wirtin ihn gleich an drei oder vier Orte&comma; allerhand Sachen zu holen&comma; wie Öl&comma; Seife und Faden und einen geflickten Stiefel&comma; denn sie hatte bemerkt&comma; daß Rico einzelne Worte ganz gut sagen konnte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico besorgte alles richtig&comma; das gefiel der Wirtin wohl und gegen Abend sagte sie&colon; »Nun kannst du mit der Geige zur Frau Menotti gehen und dort bleiben&comma; bis es Nacht wird&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Darüber freute sich Rico sehr&comma; denn da kam er an dem See vorbei und nachher zu den schönen Blumen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am See angekommen&comma; lief er nach der kleinen Brücke und saß ein wenig nieder&comma; denn da lag wieder alle die Schönheit vor ihm&comma; das Wasser und die Berge im goldenen Duft&comma; und er konnte fast nicht mehr weg&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber er tat es doch&comma; denn er wußte&comma; daß er nun tun mußte&comma; was ihn die Wirtin hieß&comma; weil er dafür bei ihr wohnen durfte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als er in den Garten trat&comma; hörte ihn schon das Büblein – denn die Tür stand immer offen – und es rief&colon; »Komm und spiel wieder&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Frau Menotti kam heraus und gab dem Rico freundlich die Hand und zog ihn in das Zimmer hinein&period; Es war eine große Stube&comma; und man sah durch die breite Tür schön in den Garten und auf die Blumen hinaus&period; Das kleine Bett des kranken Bübleins stand gerade der Tür gegenüber und daneben standen nur Tische und Stühle und schöne Kasten im Zimmer&comma; aber kein Bett mehr&comma; denn des Nachts wurde das kleine Bett ins Nebenzimmer gebracht&comma; wo auch dasjenige der Mutter stand&semi; und am Morgen trug man das Bettchen mit dem Insassen wieder in die schöne&comma; frohe Stube hinaus&comma; wo jeden Morgen die Sonne einen glänzenden Streifen über den ganzen Fußboden hinwarf und das Herz des Bübleins fröhlich machte&period; Neben dem Bettchen standen zwei kleine Krücken&comma; und von Zeit zu Zeit nahm die Mutter den Kleinen aus seinem Bett und leitete ihn auf den Krücken ein paarmal die Stube auf und nieder&comma; denn er konnte weder gehen noch stehen&semi; seine Beinchen waren völlig lahm&comma; er hatte sie nie gebrauchen können&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als Rico in die Tür trat&comma; schnellte sich das Büblein empor an einer langen Schnur&comma; die von der Decke bis auf sein Bett herunterhing&comma; denn es konnte nicht aus eigener Kraft aufsitzen&period; Rico trat herzu und schaute das Büblein schweigend an&period; Es hatte ganz dünne Ärmchen und kleine magere Finger und ein so kleines Gesicht&comma; wie Rico nie an einem Buben gesehen hatte&comma; und aus dem Gesichtchen heraus schauten zwei große Augen den Rico ganz durchdringend an&comma; denn das Büblein&comma; das wenig Neues vor Augen sah und nach viel neuen und nie gesehenen Dingen dürstete&comma; schaute alles ganz scharf an&comma; das auf seinen einsamen Weg kam&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Wie heißest du&quest;« fragte das Büblein jetzt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Rico«&comma; war die Antwort&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Und ich Silvio&period; Wie alt bist du&quest;« fragte es weiter&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Bald elf Jahre alt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Und ich auch bald«&comma; sagte das Büblein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; Silvio&comma; was du sagst«&comma; fiel die Mutter ein&semi; »noch nicht völlig vier bist du&comma; so schnell geht’s nicht&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Spiel wieder&excl;« sagte nun der kleine Silvio&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Mutter setzte sich an ihren Platz neben dem Bettchen&comma; und Rico stellte sich etwas weiter unten hin und fing an zu geigen&period; Silvio konnte es nicht genug bekommen&semi; sobald der Rico ein Stück fertig hatte&comma; so ertönte sein&colon; »Spiel wieder&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>So hatte Rico alle seine Stücke wohl sechsmal durchgespielt&semi; da ging die Mutter weg und kam wieder mit einem Teller voll von den goldgelben Trauben und sagte&comma; nun müsse Rico ausruhen und sich auf den Stuhl setzen an das Bett und Trauben essen mit dem Silvio&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Dann ging sie ein wenig in den Garten hinaus und sah ihren Sachen nach und war froh darüber&comma; denn sie konnte fast gar nie von dem Bette des Kleinen weggehen&comma; er litt es nicht und schrie dann immer jämmerlich&semi; so war es eine rechte Wohltat für die Frau&comma; daß sie einmal hinausgehen konnte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Unterdessen verstanden sich die beiden drinnen vortrefflich&comma; denn auf Silvios Fragen konnte Rico ganz gut antworten&semi; auch konnte er sich leicht verständlich machen&comma; wo er etwa nicht gleich das rechte Wort wußte&comma; und die Unterhaltung war dem Silvio sehr kurzweilig&period; Die Mutter konnte auch die Blumenbeete und die Weinreben und die schönen Feigenbäume im Acker und ringsum alles ansehen&comma; ohne daß der Silvio ein einziges Mal gerufen hätte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber als sie nun hereinkam und es bald zu dämmern anfing und Rico aufstand&comma; um fortzugehen&comma; da schlug der Silvio einen großen Lärm an und hielt den Rico fest am Wämschen mit beiden Händen und wollte ihn nicht loslassen&comma; wenn er nicht gleich verspreche&comma; er komme morgen wieder und alle Tage&period; Aber die Frau Menotti war eine vorsichtige Frau&semi; sie hatte den Bericht der Wirtin auch ziemlich verstanden und beschwichtigte nun den Silvio und versprach ihm&comma; gleich in den ersten Tagen zu der Wirtin zu gehen und mit ihr zu sprechen&comma; denn der Rico könne nichts versprechen so von sich aus&comma; er müsse folgen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Endlich ließ der Kleine das Wämschen los und gab Rico die Hand&comma; und dieser ging ungern aus der Stube weg&period; Er wäre lieber dageblieben&comma; wo es so still war und alles so gut aussah und Silvio und die Mutter so freundlich mit ihm waren&period; –<&sol;p>&NewLine;<p>Es vergingen wenige Tage&comma; da trat eines Abends die Frau Menotti ganz aufgeputzt in die »Goldene Sonne« ein&comma; und die Wirtin lief ihr entgegen und führte sie in den oberen Saal hinauf&period; Da fragte denn Frau Menotti ganz höflich&comma; ob es der Frau Wirtin nicht ungelegen wäre&comma; ihr für ein paar Abende der Woche den Rico zu überlassen&semi; er unterhalte ihr das kranke Büblein so gut und sie wollte gern erkenntlich sein dafür in jeder gewünschten Weise&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es schmeichelte der Wirtin&comma; daß die wohlangesehene Frau Menotti sie so um einen Dienst zu bitten kam&comma; und es wurde gleich festgesetzt&comma; daß Rico an jedem freien Abend kommen würde&comma; und Frau Menotti übernahm dagegen&comma; für Ricos Bekleidung zu sorgen&comma; so daß die Wirtin überaus befriedigt war mit der Einrichtung&semi; denn nun hatte sie keinen Heller für den Knaben auszugeben und den reinen Gewinn von ihm&period; So schieden die Frauen beide in der größten Zufriedenheit voneinander&period; –<&sol;p>&NewLine;<p>So vergingen für Rico die Tage&period; In kurzer Zeit sprach er so geläufig italienisch&comma; als hätte er es immer gekonnt&period; Und einmal hatte er es auch gekonnt&semi; so fiel ihm eins nach dem anderen ohne Mühe wieder ein&comma; und er hatte ein gutes Ohr und sprach wie ein völliger Italiener&comma; so daß sich alle Leute darüber verwundern mußten&period; Die Wirtin konnte ihn so gut brauchen&comma; wie sie nicht einmal erwartet hatte&comma; denn seine Geschäfte machte er so sauber und ordentlich&comma; wie sie selbst manches nicht machen konnte&comma; denn sie hatte die Geduld nicht&comma; und wenn etwas mußte aufgerüstet werden zu einem Fest&comma; etwa zu einer Hochzeit&comma; so mußte es Rico tun&comma; denn er wußte&comma; was schön war&comma; und konnte es machen&period; Wenn er seine Aufträge ausrichten mußte&comma; so war er wieder da&comma; ehe die Wirtin nur denken konnte&comma; er sei am Ort angekommen&comma; denn er brauchte keine Zeit zur Unterhaltung&period; Wenn jemand ihn ausfragen wollte&comma; so kehrte er sich auf der Stelle um und ging davon&period; Das gefiel der Wirtin besonders&comma; als sie es bemerkte&comma; und es flößte ihr einen solchen Respekt ein vor dem Jungen&comma; daß sie ihn selbst nicht ausfragte&comma; und so kam es&comma; daß eigentlich niemand wußte&comma; wie er nach Peschiera gekommen war&semi; aber es hatte sich eine Geschichte verbreitet&comma; die nahm jedermann an&comma; daß er als ein verlassenes Waisenkind da droben in den Bergen schlecht gehalten und bös behandelt worden&comma; da sei er entlaufen und habe viele Gefahren bestanden auf der langen Reise und sei endlich hier angekommen&comma; wo die Leute nicht so roh seien wie in den Bergen&comma; und hier sei er gern&period; Und wenn die Wirtin die Geschichte erzählte&comma; so ermangelte sie nicht&comma; hinzuzusetzen&colon; er verdiene es auch&comma; daß es ihm so gut gegangen sei und er den Schutz unter ihrem Dache gefunden habe&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als der erste Tanzsonntag kam&comma; da versammelten sich in der »Goldenen Sonne« so erstaunlich viele Leute&comma; daß man gar nicht wußte&comma; wo sie alle untergebracht werden könnten&comma; denn jeder wollte den kleinen fremden Musikanten sehen und hören&comma; und diejenigen&comma; die ihn schon gehört hatten am ersten Abend&comma; kamen zuallererst und wollten mit ihrem Lied beginnen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Wirtin lief hin und her im Feuer der Arbeit und glänzte&comma; als wäre sie selbst zur »Goldenen Sonne« geworden&comma; und wenn sie auf ihren Mann traf&comma; so sagte sie jedesmal siegreich&colon; »Hab’ ich’s nicht gesagt&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hörte erst einen Tanz an von den drei Geigern&comma; die gekommen waren&comma; und die Melodien fielen ihm so ins Ohr und in die Finger&comma; daß er gleich nachher mitspielen konnte&comma; und nun wußte er den Tanz für immer&period; So kam es&comma; daß er am späten Abend&comma; als man aufhörte zu tanzen&comma; alle Tänze mitspielen konnte&comma; die überhaupt gespielt wurden&comma; denn jeden hatte man zu öfteren Malen durchgenommen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am Ende mußte auch noch das Peschiera-Lied gesungen werden&comma; von Rico begleitet&comma; und war schon den ganzen Abend ein Lärm gewesen&comma; so kamen nun die Gemüter erst noch recht ins Feuer und es ging zu&comma; daß Rico ein paarmal dachte&colon; jetzt fahren sie aufeinander und schlagen sich alle tot&period; Aber es war alles in Freundschaft gemeint&period; Und ihm selbst wurde eine so ohrenzerreißende Anerkennung gespendet&comma; daß er nur immer dachte&colon; wenn’s doch bald fertig wäre&comma; denn nichts war dem Rico so tief zuwider&comma; wie ein großer Lärm&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am Abend sagte die Wirtin zu ihrem Manne&colon; »Hast’s gesehen&quest; Schon das nächste Mal brauchen wir nur noch zwei Geiger&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und der Mann war sehr zufrieden und sagte&colon; »Man muß dem Buben etwas geben&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Zwei Tage nachher war Tanz droben in Desenzano&comma; und Rico wurde auch mit den Geigern hingeschickt&semi; jetzt konnte man ihn schon ausleihen&period; Es war da derselbe Lärm und Spektakel&comma; und wenn auch das Peschiera-Lied nicht mußte gesungen werden&comma; so ging es nun über anderen Dingen ganz gleich laut zu&comma; und Rico dachte von Anfang bis zu Ende&colon; »Wenn’s nur fertig wäre&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Er brachte eine ganze Tasche voll Geld heim&semi; das ließ er alles ungezählt auf den Tisch hinausrollen&comma; als er zurückkam&comma; denn es gehörte der Wirtin&comma; und sie lobte ihn und stellte ein schönes Stück Apfelkuchen vor ihn hin&period; Am Sonntag nachher war schon wieder Tanz drüben in Riva&comma; und diesmal freute sich Rico&comma; denn Riva war jener Ort drüben über dem See&comma; wo dieser von Peschiera aus anzusehen war wie eine sonnige Bucht&comma; um die herum die freundlichen weißen Häuser lagen und herüberschimmerten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da fuhren die Musikanten zusammen am Nachmittag über den goldenen See im offenen Kahn unter dem blauen Himmel hin&comma; und Rico dachte&colon; »Wenn ich so mit dem Stineli hinüberfahren könnte&excl; Wie müßte es staunen über den See&comma; an den es nicht glauben wollte&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber drüben ging derselbe Lärm los und Rico wünschte wieder fortzukommen&comma; denn von drüben herüber Riva anzusehen im stillen Abendschein&comma; war so viel schöner&comma; als hier mittendrin im Tumult zu sitzen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Wenn aber keine Tanztage waren&comma; da konnte Rico jeden Abend zu dem kleinen Silvio gehen und lange da bleiben&comma; denn die Wirtin wollte sich der Frau Menotti dienstbar erzeigen&period; Da ging Rico gern hin&comma; das war seine Freude&period; Kam er am See vorbei&comma; so ging er gegen die schmale Steinbrücke hin und setzte sich eine Weile auf den Boden&semi; denn dies war der einzige Ort&comma; wo er das Gefühl hatte&comma; er sei vielleicht daheim&period; Da kam ihm am allerlebendigsten alles vor die Augen&comma; wie es war&comma; da er noch daheim war&period; Denn was er vor sich sah&comma; hatte er damals so gesehen&comma; und hier sah er auch am deutlichsten die Mutter vor sich&period; Dort hatte sie am See gestanden und etwas ausgewaschen&comma; und von Zeit zu Zeit sah sie ihn an und sagte ihm liebevolle Worte&comma; und er saß auf demselben Plätzchen&comma; wo er jetzt saß&period; Das alles wußte er so genau&period; Da ging er immer mit Zwang weg&comma; aber er wußte&comma; daß Silvio nach ihm lauschte&period; Wenn er dann durch den Garten kam&comma; so wurde es ihm auch wieder wohl und er trat gern in das stille&comma; saubere Haus&period; Frau Menotti war in einer Weise freundlich mit ihm&comma; wie sonst niemand&comma; das fühlte er wohl&semi; sie hatte ein großes Mitleid mit dem verlassenen Waislein&comma; wie sie ihn nannte&comma; sie hatte die Geschichte auch gehört von seinem Entfliehen&period; Sie fragte den Rico nie etwas von seinem Leben in den Bergen&comma; denn sie dachte&comma; es wecke ihm nur traurige Erinnerungen&period; Sie fühlte auch&comma; daß der Rico nicht die Pflege hatte&comma; die ein Büblein von seinem Alter und von so stiller Art bedurft hätte&semi; aber sie konnte nichts machen&comma; als ihn bei sich haben&comma; soviel es anging&period; Sie legte ihm aber manchmal die Hand auf den Kopf und sagte mitleidig&colon; »Du armes Waislein&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Dem kleinen Silvio wurde der Rico täglich unentbehrlicher&semi; schon am Morgen fing er an zu jammern und nach dem Rico zu begehren&comma; und wenn seine Schmerzen da waren&comma; so schrie er noch mehr und wollte sich nicht mehr beruhigen&comma; wenn der Rico nicht kommen konnte&period; Denn seit der Rico so fließend sprechen konnte&comma; hatte Silvio eine neue unversiegende Quelle der Kurzweil bei ihm gefunden&semi; das war sein Erzählen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hatte angefangen&comma; dem Silvio vom Stineli zu erzählen&comma; und da ihm selbst dabei so wohl wurde und sein ganzes Herz aufging&comma; so wurde er dabei so lebendig und so unterhaltend&comma; daß er nicht mehr zu kennen war&period; Er wußte hundert Geschichten zu erzählen&comma; wie das Stineli einmal den Sami gerade noch am Bein erwischte&comma; als er ins Wasserloch fallen wollte&comma; und nun immerzu aus aller Kraft am Bein ziehen und dazu oben hinaus schreien mußte&comma; während der Sami unten durch schrie&comma; bis der Vater ganz langsam herbeikam&comma; denn er nahm immer an&comma; Kinder schrieen von Natur und ohne Not&period; – Und wie es dem Peterli Figuren ausschnitt und dem Urschli Hausgerät machte aus allen Stoffen&comma; von Holz und Moos und Grashalmen&period; Und wie alle Kinder nach dem Stineli schrieen&comma; wenn sie krank waren&comma; weil sie dann vergaßen&comma; was ihnen weh tat&comma; wenn es sie verkurzweilte&period; Und dann erzählte Rico&comma; wie er mit dem Stineli auszog&comma; und wie es dann schön war&comma; und seine Augen leuchteten dann so zündend und der ganze Rico wurde so erstaunlich belebt&comma; daß der kleine Silvio ganz ins Feuer kam und immer mehr hören wollte&period; Und wenn Rico einmal stille hielt&comma; so rief er gleich&colon; »Erzähl wieder vom Stineli&excl;« Eines Abends aber kam Silvio in die alleräußerste Aufregung&comma; als Rico fortgehen wollte und dazu sagte&comma; morgen und am Sonntag dürfe er nicht kommen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Silvio schrie nach der Mutter&comma; als wäre das Haus in Flammen und er läge mitten drin&comma; und als sie im höchsten Schrecken aus dem Garten hereingestürzt kam&comma; rief er immer zu&colon; »Der Rico darf nie mehr ins Wirtshaus&comma; er muß dableiben&period; Er muß immer da sein&period; Du mußt dableiben&comma; Rico&comma; du mußt&comma; du mußt&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da sagte Rico&colon; »Ich wollte schon&comma; aber ich muß doch gehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Frau Menotti war in großer Verlegenheit&semi; sie wußte wohl&comma; was der Rico den Wirtsleuten wert war&comma; und daß sie ihn nicht bekäme&comma; unter keiner Bedingung&period; So beschwichtigte sie den Silvio&comma; wie sie nur konnte&comma; und den Rico zog sie an sich und sagte voller Mitleid&colon; »Ach du armes Waislein&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da schrie Silvio in seinem Zorn&colon; »Was ist ein Waislein&quest; Ich will auch ein Waislein sein&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun kam auch die Frau Menotti in Aufruhr und rief&colon; »Ach Silvio&comma; willst du dich noch versündigen&quest; Sieh&comma; ein Waislein ist ein armes Kind&comma; daß keinen Vater und keine Mutter hat und gar nirgends auf der Welt daheim ist&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hatte seine dunkeln Augen auf die Frau geheftet&comma; sie sahen immer schwärzer aus&comma; sie bemerkte es aber nicht&period; Sie hatte gar nicht mehr an den Rico gedacht&comma; als sie Silvio in der Aufregung die Erklärung gab&period; Rico schlich leise zur Tür hinaus und fort&period; Frau Menotti dachte&comma; er sei so leise fortgegangen&comma; damit der Kleine nicht noch einmal aufgebracht werde&comma; und es war ihr recht&period; Sie setzte sich nun an das Bettchen und sagte&colon; »Hör&comma; Silvio&comma; ich will dir’s erklären und dann mußt du diesen Lärm nicht mehr machen&period; Siehst du&comma; die Buben kann man einander nicht nur so wegnehmen&comma; denn wenn ich der Wirtin nun den Rico nehmen wollte&comma; so könnte sie kommen und mir den Silvio nehmen&period; Dann könntest du den Garten und die Blumen nie mehr sehen und müßtest allein in der Kammer schlafen&comma; wo das Roßgeschirr hängt und wo der Rico so ungern hineingeht&semi; er hat dir’s ja schon manchmal erzählt&period; Was wolltest du dann machen&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Wieder heimgehen«&comma; sagte der Kleine entschlossen&period; Er blieb aber nunmehr still und legte sich aufs Ohr&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico ging durch den Garten und über die Straße weg hinab an den See&period; Da setzte er sich auf sein Plätzchen nieder und legte seinen Kopf in beide Hände und sagte in trostlosem Ton&colon; »Jetzt weiß ich’s&comma; Mutter&semi; auf der ganzen Welt bin ich nirgends daheim&comma; gar nirgends&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und so saß er bis in die Nacht hinein in seiner großen Traurigkeit und wäre am liebsten nicht mehr aufgestanden&comma; aber in seine Kammer mußte er endlich doch wieder zurückkehren&period;<&sol;p>

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