Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Silvio wünscht mit Nachdruck

<p>In dem kleinen Silvio arbeitete aber die Aufregung weiter&comma; und als er nun wußte&comma; daß der Rico zwei Tage hintereinander keinen Augenblick kommen würde&comma; fing er schon am frühen Morgen an mit Grimm auszurufen&colon; »Nun kommt der Rico nicht&excl; Nun kommt der Rico nicht&excl;« und fuhr mit kleinen Zwischenpausen so fort bis zum Abend&comma; und am folgenden Tag fing er wieder an beizeiten&period; Am dritten Tage aber hatte ihn diese Tätigkeit so ausgetrocknet&comma; daß er war wie ein Häuflein Stroh&comma; das ein kleiner Funke gleich in helle Flammen bringen kann&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico erschien am Abend noch ganz angewidert von dem Tanzlärm&comma; bei dem er gewesen war&period; Seit er nun wußte&comma; daß er nirgends daheim war&comma; hatte der Gedanke an das Stineli eine neue Gewalt bekommen&comma; und er sagte bei sich&colon; »Da ist nur das Stineli auf der ganzen Welt&comma; zu dem ich gehöre und das sich um mich bekümmert&period;« Und es kam ein großes Heimweh nach dem Stineli über ihn&period; Er saß auch kaum an Silvios Bett&comma; so sagte er&colon; »Siehst du&comma; Silvio&comma; nur einzig beim Stineli ist es einem wohl und sonst gar nirgends&period;« Kaum waren diese Worte ausgesprochen&comma; so schnellte sich der Kleine augenblicklich in die Höhe und rief mit aller Kraft&colon; »Mutter&comma; ich will das Stineli haben&period; Das Stineli muß kommen&semi; einzig nur beim Stineli ist es einem wohl und sonst gar nirgends&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Mutter war herzugetreten&comma; und da sie oft Ricos Erzählungen vom Stineli und seinen kleinen Geschwistern mit vieler Befriedigung zugehört hatte&comma; wußte sie schon&comma; von wem die Rede war&comma; und sagte&colon; »Ja&comma; ja&comma; mir wär’ es schon recht&comma; ich könnte ein Stineli schon brauchen für dich und mich&semi; wenn ich nur eins hätte&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber auf diese unbestimmte Auslassung ging Silvio gar nicht ein&comma; denn er war völlig Feuer und Flamme für seine Sache&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Jetzt kannst du gleich eins haben«&comma; rief er weiter&semi; »der Rico weiß&comma; wo es ist&comma; er muß es holen&semi; ich will das Stineli haben alle Tage und immerfort&semi; morgen muß es der Rico holen&comma; er weiß&comma; wo es ist&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Wie nun die Mutter sah&comma; daß der Kleine sich alles ausdachte und ganzen Ernst aus der Sache machen wollte&comma; fing sie an&comma; ihn auf alle Weise abzumahnen und auf andere Gedanken zu bringen&comma; denn sie hatte mehrmals erzählen hören&comma; was für unglaubliche Gefahren der Rico auf seiner Reise zu bestehen hatte&comma; und wie es das größte Wunder sei&comma; daß er lebendig habe bis nach Peschiera herunterkommen können&comma; und was für ein schreckhaft wildes Volk dort oben in den Bergen lebe&period; So wußte sie ja&comma; daß kein Mensch so ein Mädchen herunterholen würde&comma; am wenigsten ein zartes Bürschlein wie Rico&semi; er konnte ja ganz elend zugrunde gehen&comma; wenn er so etwas beginnen würde&comma; und dann hätte sie die Verantwortung auf sich&period; Das wollte sie nicht auch noch&comma; sie hatte schon genug&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Sie stellte dem Silvio die ganze Unmöglichkeit der Sache vor und sprach ihm von vielen schreckhaften Ereignissen und bösen Menschen&comma; die den Rico verfolgen und umbringen könnten&period; Aber diesmal half alles nichts&period; Der kleine Silvio mußte sich die Sache in den Kopf gesetzt haben&comma; wie noch nichts in seinem Leben&semi; denn was die Mutter auch vorbrachte und wie sehr sie in Eifer geriet vor Besorgnis&comma; sobald sie innehielt&comma; sagte Silvio&colon; »Der Rico muß es holen&comma; er weiß&comma; wo es ist&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da sagte die Mutter&colon; »Und wenn er’s auch weiß&comma; meinst du denn&comma; der Rico wolle so in die Gefahr und ins Gottversuchen hinauslaufen&comma; wenn er es haben kann wie hier und gar zu keinen bösen Menschen mehr gehen muß&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da sah Silvio den Rico an und sagte&colon; »Du willst schon gehen und das Stineli holen&comma; Rico&comma; oder nicht&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; ich will«&comma; antwortete Rico fest&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; ihr barmherzigen Heiligen&comma; was soll das werden&comma; jetzt wird mir der Rico auch noch unvernünftig&excl;« rief die Mutter ganz erschrocken&period; »So weiß man sich ja gar nicht mehr zu helfen&period; Nimm die Geige&comma; Rico&comma; und spiel und sing etwas&comma; ich muß in den Garten«&comma; und damit lief Frau Menotti eilends unter die Feigenbäume hinaus&comma; denn sie nahm an&comma; der Silvio vergesse am schnellsten seinen Einfall wieder&comma; wenn er nicht mehr an ihr zwingen könne&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber die beiden guten Freunde drinnen spielten nicht und sangen nicht&comma; sondern brachten sich gegenseitig ganz ins Fieber mit allerhand Vorstellungen&comma; wie das Stineli geholt werden müsse und wie es dann nachher zugehen werde&comma; wenn es da sei&period; Rico vergaß gänzlich&comma; fortzugehen&comma; obschon es dunkel geworden war&comma; denn die Frau Menotti kam absichtlich noch nicht herein&comma; sie hoffte&comma; der Silvio entschlafe dann vorher&period; Endlich trat sie aber doch ein und Rico ging gleich&comma; aber mit Silvio hatte sie noch einen schweren Stand&period; Er wollte durchaus nicht die Augen zumachen&comma; bis die Mutter versprechen würde&comma; der Rico müsse das Stineli holen&semi; das konnte sie aber nicht versprechen&comma; und so kam Silvio zu keiner Ruhe&comma; bis die Mutter sagte&colon; »Sei nun zufrieden&comma; über Nacht kommt dann alles in Ordnung&period;« Denn sie dachte&comma; über Nacht vergesse er sein Begehren&comma; wie schon viele&comma; und es komme ihm etwas Neues in den Sinn&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da wurde Silvio still und schlief ein&period; Aber die Mutter hatte sich verrechnet&period; Noch war sie am Morgen kaum recht erwacht&comma; so rief Silvio aus seinem Bettchen herauf&colon; »Ist alles in Ordnung&comma; Mutter&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Als sie dies unmöglich bejahen konnte&comma; ging ein solcher Sturm los&comma; wie sie desgleichen an dem Büblein noch nie erlebt hatte&comma; und den ganzen Tag ging das Unwetter fort bis zum späten Abend&comma; und am Morgen darauf fing Silvio gerade so wieder an&comma; wie er am Abend aufgehört hatte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Eine solche Beharrlichkeit auf demselben Begehren hatte Silvio noch nie an den Tag gelegt&period; Wenn er schrie und lärmte&comma; konnte sie’s noch ertragen&semi; aber wenn nun die Stunden der großen Schmerzen kamen&comma; da wimmerte Silvio fortwährend in der kläglichsten Weise&colon; »Nur beim Stineli ist es einem wohl und sonst gar nirgends&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das schnitt der Mutter ins Herz und war ihr wie ein Vorwurf&comma; so als wollte sie nicht tun&comma; was ihm wohlmachen könnte&semi; aber wie hätte sie auch nur daran denken können&comma; sie hatte ja den Rico selbst auf Silvios Frage&colon; »Weißt du auch den rechten Weg zum Stineli&quest;« antworten hören&colon; »Nein&comma; ich weiß keinen Weg&comma; aber ich finde ihn dann schon&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Von Tag zu Tag hoffte sie&comma; durch einen glücklichen Umstand komme dem Silvio eine neue Forderung in den Sinn&comma; denn so war es sonst immer gewesen&semi; sie konnte darauf rechnen&colon; hatte er etwas begehrt&comma; wenn ihm wohl war&comma; so verwarf er es sicher&comma; sobald seine Schmerzen kamen&period; Aber diesmal war es anders&comma; und es hatte seinen guten Grund&period; Ricos Erzählungen und Aussprüche über das Stineli hatten in dem empfindlichen Gemüte des kranken Silvio die feste Überzeugung hervorgebracht&comma; daß ihm nie mehr etwas weh tun würde&comma; wenn das Stineli bei ihm wäre&period; So gebärdete sich Silvio jammervoller von Tag zu Tag&comma; und seine Mutter wußte nicht&comma; wo sie Rat und Beistand finden könnte&period;<&sol;p>

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