Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Sonnenschein am Gardasee

<p>So waren zwei Jahre dahingeflogen&comma; immer ein Tag genußreicher als der andere&period; Da wußte Stineli&comma; daß nun die Zeit seiner Abreise gekommen war&comma; und es mußte stark mit sich kämpfen&comma; daß es nicht den Mut verlor&comma; denn fortgehen und vielleicht nie wiederkommen&comma; das war der schwerste Gedanke&comma; der noch je auf sein Herz gefallen war&period; Auch der Rico wußte&comma; was nun sein sollte&comma; und er sagte manchen Tag lang nur noch die notwendigsten Worte&period; Da wurde es der Mutter Menotti ganz unheimlich zumute und sie forschte der unbekannten Ursache nach&comma; denn sie hatte schon lange vergessen&comma; daß das Stineli sollte konfirmiert werden&period; Als nun diese Besorgnis herauskam&comma; sagte die Mutter Menotti beruhigend&colon; »Man kann schon noch ein Jahr warten«&comma; und so lebten alle in Freuden ein Jahr weiter&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber im dritten Jahr kam Bericht von Bergamo&comma; es sei da einer angekommen aus den Bergen herunter&comma; der habe Befehl&comma; das Stineli mit nach Hause zu nehmen&period; Nun mußte es sein&semi; der kleine Silvio gebärdete sich wie ein Besessener&comma; aber es half nichts&comma; gegen das Schicksal konnte er nicht aufkommen&period; Die Mutter Menotti sagte die letzten drei Tage hintereinander nur immerzu&colon; »Komm nur auch wieder&comma; Stineli&semi; versprich dem Vater&comma; was er will&comma; wenn er dich nur wieder gehen läßt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Rico sagte gar nichts mehr&period; So reiste das Stineli ab&comma; und von dem Tage an lag es über dem Hause wie eine graue&comma; schwere Wolke&comma; wenn draußen die Sonne noch so schön schien&period; So blieb es vom November an bis zum Osterfest&comma; da alle Leute sich freuten&semi; aber in dem Hause blieb es ganz still&period; Und als das Fest vorüber war und draußen im Garten alles blühte und duftete&comma; viel schöner als je&comma; da saß eines Abends Rico neben dem Silvio und spielte die allertraurigste Melodie&comma; die er kannte&comma; und machte den kleinen Silvio ganz tiefsinnig&semi; aber mit einem Male ertönte aus dem Garten eine Stimme dazwischen&colon; »Rico&comma; Rico&comma; hast du keinen fröhlicheren Empfang für mich&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Silvio schrie auf wie außer sich&period; Rico warf die Geige auf das Bett und sprang hinaus&period; Die Mutter stürzte mit Schrecken herbei&period; Da erschien auf der Schwelle mit dem Rico das Stineli&period; Und wie seine Augen wieder in die Stube hereinlachten – da war der langverlorene Sonnenschein zurückgekehrt&comma; und es gab ein Wiedersehen von solcher Freude&comma; wie sich keins von allen hatte vorstellen können in der Trennung&period; Da saßen sie wieder am Tisch bei Silvios Bett und es ging an ein Fragen und Erzählen und Berichten und wieder an ein Frohlocken über das Ende der schweren Trennungszeit&semi; und es war ein solcher Festabend&comma; daß man hätte denken können&comma; diesen vier Menschen könne gar nichts mehr mangeln zu einem fertigen Glück&period; Aber dem Rico mußte es ganz anders sein&period; Mitten in der Fröhlichkeit fing er auf einmal zu staunen an&comma; wie vorzeiten&semi; doch währte es nicht so lange wie damals&comma; er mußte ziemlich bald einen befriedigenden Endpunkt gefunden haben&comma; denn plötzlich war das Staunen vorbei&comma; und mit der größten Bestimmtheit sprach er die Worte aus&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Das Stineli muß auf der Stelle meine Frau werden&comma; sonst kommt es uns noch einmal fort&comma; wir halten es nicht aus&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Silvio geriet sogleich in die äußerste Begeisterung für dieses Unternehmen&comma; und es währte gar nicht lange&comma; so waren alle einig darüber&comma; daß es so sein müsse und gar nicht anders sein könnte&period; –<&sol;p>&NewLine;<p>Am schönsten Maitage&comma; der je über Peschiera geleuchtet hatte&comma; bewegte sich ein langer Festzug von der Kirche her der »Goldenen Sonne« entgegen&period; Voran kam der hochgewachsene Rico stattlich dahergeschritten&comma; an seiner Seite das frohäugige Stineli mit einem frischen Blumenkränzlein auf dem Kopf&semi; dann kam in weichgepolstertem Wägelchen&comma; von zwei fröhlichen Peschierabuben gezogen&comma; der kleine Silvio&comma; freudeglänzend wie ein Triumphator&comma; darauf folgte die Mutter Menotti&comma; ganz gerührt und ergriffen in ihrem rauschenden Hochzeitsstaat&comma; nach ihr der Bursche mit einem Blumenstrauß&comma; der ihm die ganze Brust bedeckte&semi; und nun wogte ganz Peschiera daher in der allerlautesten Teilnahme&semi; denn das schöne Paar wollten alle sehen und mit feiern&period; Es war wie ein allgemeines Familienfest der Leute von Peschiera&comma; nun der verlorene und wiedergekehrte Peschierianer daranging&comma; sein festes Haus zu gründen in seiner Heimat&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Siegesfreude der Wirtin zur »Goldenen Sonne«&comma; als sie den Zug vor ihrem Hause ankommen sah&comma; ist nicht zu beschreiben&excl; Wo auch je nachher von irgendeiner Hochzeit&comma; hoch oder niedrig&comma; die Rede war&comma; da sagte sie mit Überlegenheit&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Das ist alles gar nichts gegen Ricos Hochzeit in der ›Goldenen Sonne‹&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>In dem Hause am Blumengarten ging der Sonnenschein nicht mehr verloren&semi; aber Stineli sorgte auch dafür&comma; daß das Unser-Vater nie wieder vergessen wurde&comma; und jeden Sonntagabend ertönte das Lied der Großmutter im hellen Chor den Garten hinaus&period;<&sol;p>

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