Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Wolken am schönen Gardasee

<p>Es kam ein schöner Herbstsonntag&comma; und drüben in Riva sollte am Abend Tanz sein und Rico hinüberfahren&comma; um zu spielen&period; So konnte er den Tag nicht mit Stineli und den anderen zubringen&semi; das war schon mehrmals verhandelt worden die Woche durch&comma; denn es war ein Ereignis für alle&comma; wenn Rico nicht kam&comma; und Stineli suchte alles mögliche hervor&comma; um der Sache noch eine gute Seite abzugewinnen&colon; »Du fährst dann im Sonnenschein über den See und kommst unter dem Sternenhimmel wieder zurück&comma; und wir denken die ganze Zeit an dich«&comma; hatte es ihm gesagt&comma; als er zuerst anzeigte&comma; daß ein Tanzsonntag folge&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Rico kam am Samstagabend mit seiner Geige&comma; denn Stinelis größte Freude war sein Spiel&period; Rico spielte schöne Weisen&comma; eine nach der anderen&comma; aber sie waren alle traurig&comma; und es war auch&comma; als machten sie ihn wieder traurig&comma; denn er schaute auf seine Geige mit einer Düsterkeit&comma; als tue sie ihm das größte Leid an&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Auf einmal steckte er seinen Bogen weg&comma; lang noch ehe es zehn geschlagen hatte&comma; und sagte&colon; »Ich will gehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Frau Menotti wollte ihn festhalten&comma; sie begriff nicht&comma; was ihm einfiel&period; Stineli hatte ihn immer angesehen&comma; während er spielte&semi; jetzt sagte es nur&colon; »Ich gehe noch ein paar Schritte mit dir&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&excl;« rief Silvio&comma; »geh nicht fort&comma; bleib da&comma; Stineli&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; ja&comma; Stineli«&comma; sagte Rico&comma; »bleib du nur da und laß mich gehen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Dabei sah er Stineli gerade so an wie damals&comma; als er vom Lehrer weg dem Holzstoß zu kam und sagte&colon; »Es ist alles verloren&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli ging zu Silvios Bett und sagte leise&colon; »Sei brav&comma; Silvio&semi; morgen erzähl’ ich dir die allerlustigste Geschichte vom Peterli&comma; aber mach jetzt keinen Lärm&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Silvio hielt sich wirklich still&comma; und Stineli ging dem Rico nach&period; Als sie am Gartenzaun standen&comma; kehrte Rico sich um und deutete auf die erleuchtete Stube&comma; die so wohnlich aussah vom Garten her&comma; und sagte&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Geh wieder&comma; Stineli&semi; dort gehörst du hinein und bist daheim dort&comma; und ich gehöre auf die Straße&comma; ich bin nur ein Heimatloser&comma; und so wird es immer sein&semi; darum laß mich nur gehen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; nein&comma; so lass’ ich dich nicht gehen&semi; Rico&comma; wo gehst du jetzt hin&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»An den See«&comma; sagte Rico und ging der Brücke zu&period; Stineli ging mit&period; Als sie an der Halde standen&comma; hörten sie unten die leisen Wellen flüstern und lauschten eine Weile&period; Dann sagte Rico&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Siehst du&comma; Stineli&comma; wenn du nicht da wärst&comma; so ginge ich gleich fort&comma; weit fort&comma; aber ich wüßte auch nicht wohin&period; Ich muß doch immer ein Heimatloser sein und mein ganzes Leben lang so in Wirtshäusern geigen&comma; wo sie lärmen&comma; wie wenn sie von Sinnen wären&comma; und in einer Kammer schlafen&comma; wo ich lieber nicht mehr hineinginge&semi; und du gehörst nun zu ihnen in das schöne Haus&comma; und ich gehöre nirgends hin&period; Und siehst du&comma; wenn ich da hinabsehe&comma; so denke ich&colon; hätte mich doch die Mutter hier hineingeworfen&comma; ehe sie sterben mußte&comma; so wäre ich kein Heimatloser geworden&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli hatte mit Kummer im Herzen dem Rico zugehört&semi; aber wie er diese letzten Worte sagte&comma; da bekam es einen großen Schrecken und rief aus&colon; »O Rico&comma; so etwas darfst du gar nicht sagen&period; Du hast gewiß lange dein Unser-Vater nicht mehr gebetet&comma; darum sind dir diese bösen Gedanken gekommen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Nein&comma; ich habe es nicht mehr gebetet&comma; ich kann es nicht mehr&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das war dem Stineli ein erschreckliches Wort&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»O&comma; wenn das die Großmutter wüßte&comma; Rico«&comma; rief es jammernd aus&comma; »sie müßte noch einen rechten Kummer für dich ausstehen&period; Weißt du&comma; wie sie gesagt hat&colon; ›Wer sein Unser-Vater vergißt&comma; dem geht es schlecht&excl;‹ O komm&comma; Rico&comma; du mußt es wieder lernen&comma; ich will dich’s gleich lehren&period; Du kannst es bald wieder&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und Stineli fing an und sagte mit warmer Teilnahme seines Herzens zweimal hintereinander dem Rico das Unser-Vater vor&period; Wie es nun so tief beteiligt den Worten folgte&comma; so bemerkte Stineli&comma; daß da gerade für den Rico viel Trostreiches darin vorkam&comma; und wie es zu Ende war&comma; sagte es&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Siehst du&comma; Rico&comma; weil doch dem lieben Gott das ganze Reich gehört&comma; so kann er dir schon noch eine Heimat finden&comma; und ihm gehört auch alle Kraft&comma; daß er sie dir geben kann&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Jetzt kannst du sehen&comma; Stineli«&comma; entgegnete Rico&comma; »wenn der liebe Gott eine Heimat in seinem Reich für mich hätte und auch die Kraft hat&comma; daß er mir sie geben könnte&comma; so will er nicht&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja&comma; aber du mußt auch etwas bedenken«&comma; fuhr Stineli fort&comma; »der liebe Gott kann auch bei sich selbst sagen&colon; ›Wenn der Rico etwas von mir will&comma; so kann er auch einmal beten und kann mir’s sagen&period;‹«<&sol;p>&NewLine;<p>Dagegen wußte Rico nichts mehr einzuwenden&period; Er schwieg eine kleine Weile&comma; dann sagte er&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sag noch einmal das Unser-Vater&comma; ich will’s wieder lernen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli sagte es noch einmal&comma; dann konnte es der Rico wieder und hatte sich’s recht eingeprägt&period; Nun gingen sie friedlich heim&comma; jedes auf seine Seite&comma; und Rico mußte noch immer an das Reich und die Kraft denken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>An dem Abend aber&comma; wie er in seiner stillen Kammer war&comma; betete er von Herzen demütig&comma; denn er fühlte&comma; daß er im Unrecht war&comma; zu denken&comma; der liebe Gott sollte ihm geben&comma; was ihm mangelte&comma; und er hatte ihn ja gar nie darum gebeten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli trat gedankenvoll in den Garten ein&period; Es erwog bei sich selbst&comma; ob es über alles mit der Frau Menotti reden wollte&semi; vielleicht könnte sie für den Rico eine andere Beschäftigung finden&comma; als dies Geigen zum Tanz in den Wirtshäusern&comma; das ihm so zuwider war&period; Aber der Gedanke&comma; die Frau Menotti mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen&comma; verging ihm&comma; als es in die Stube eingetreten war&period; Silvio lag glühendrot auf seinem Kissen und atmete heftig und ungleich&comma; und am Bette saß die Mutter und weinte ganz kläglich&period; Silvio hatte einmal wieder einen seiner Anfälle und große Schmerzen gehabt&comma; und ein wenig Zorn&comma; daß das Stineli fort war&comma; mochte das Fieber noch vermehrt haben&period; Die Mutter war so niedergeschlagen&comma; wie Stineli sie noch nie gesehen hatte&period; Als sie sich endlich ein wenig ermuntern konnte&comma; sagte sie&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Komm&comma; Stineli&comma; setz dich da neben mich&comma; ich möchte dir etwas sagen&period; Sieh&comma; es liegt mir etwas so schwer auf dem Herzen&comma; daß ich manchmal meine&comma; ich könne es fast nicht mehr tragen&period; Du bist freilich jung&comma; aber du bist ein vernünftiges Mädchen und hast schon viel gesehen&comma; und ich meine&comma; es würde mir schon leichter werden&comma; wenn ich mit dir darüber reden könnte&period; Du siehst ja&comma; wie es mit dem Silvio ist&comma; mit meinem einzigen Söhnlein&period; Nun habe ich aber nicht nur das Leid seiner Krankheit&comma; die ja nie heilen kann&comma; sondern ich muß oft bei mir selbst sagen&colon; es ist vielleicht eine Strafe von Gott&comma; weil wir unrechtes Gut behalten haben und genießen&comma; wenn wir es schon nicht an uns ziehen und behalten wollten&period; Ich will dir’s aber von Anfang an erzählen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Als wir uns verheirateten&comma; der Menotti und ich – er hatte mich von Riva herübergeholt&comma; wo mein Vater noch ist –&comma; da hatte Menotti hier einen guten Freund&comma; der wollte eben fort&comma; weil ihm das Land verleidet war&comma; denn er hatte seine Frau verloren&period; Er hatte ein Häuschen und einen großen Acker und Feld&comma; nicht besonders gutes Land&comma; aber eine große Strecke&period; Da wollte er&comma; daß mein Mann alles übernehme&comma; und sagte&comma; das Land trage ja nicht so viel&comma; er solle es ihm in Ordnung halten und das Haus dazu&comma; bis er wiederkomme in ein paar Jahren&period; So machten es die Freunde aus&comma; und sie hielten viel voneinander und machten nichts aus wegen Zinsen&period; Mein Mann sagte&colon; ›Du mußt deine Sache recht haben&comma; wenn du wiederkommst‹&comma; denn er wollte alles gut verwerten und verstand sich auf den Landbau&comma; und sein Freund wußte es wohl und überließ ihm alles&period; Aber gleich ein Jahr darauf wurde die Eisenbahn gebaut&comma; das Häuschen mußte weg mit dem Garten&comma; und der Acker wurde gebraucht&comma; der Schienenweg geht darüber&period; So löste mein Mann viel mehr Geld&comma; als jenes wert war&comma; und kaufte hier weiter unten gutes Land und den Garten und baute das Haus&comma; alles aus dem Geld&comma; und das Land trug mehr als das Doppelte ein hier unten&comma; so daß wir die reichsten Ernten hatten&period; Ich sagte aber manchmal zu meinem Mann&colon; ›Es gehört uns doch nicht&comma; und wir leben im Überfluß aus dem Gut eines anderen&semi; wenn wir nur wüßten&comma; wo er wäre&excl;‹ Aber mein Mann beruhigte mich und sagte&colon; ›Ich halte ihm alles in Ordnung&comma; und wenn er kommt&comma; ist alles sein&comma; und vom Gewinn&comma; den ich beiseite gelegt&comma; muß er auch seinen Teil haben&period;‹<&sol;p>&NewLine;<p>»Dann bekamen wir den Silvio&comma; und wie ich entdeckte&comma; daß das Büblein elend war&comma; da mußte ich mehr und mehr zu meinem Mann sagen&colon; ›Wir leben von unrechtem Gut&comma; es ist eine Strafe über uns&period;‹ Und manchmal war es mir so schwer&comma; daß ich fast lieber arm gewesen wäre und ohne Obdach&period; Aber mein Mann tröstete mich wieder und sagte&colon; ›Du wirst sehen&comma; wie er mit mir zufrieden sein wird&comma; wenn er kommt&period;‹ Aber er kam nie&period; Da starb mein Mann schon vor vier Jahren&semi; ach&comma; was habe ich seitdem ausgestanden und muß immer denken&colon; wie kann ich nur dem unrechten Gut abkommen ohne Unrecht&comma; denn ich sollte es doch in guter Ordnung halten&comma; bis der Freund wiederkommt&comma; und dann denk’ ich wieder&colon; wenn er nun irgendwo im Elend wäre und ich lebe unterdessen so gut aus dem Seinigen und weiß nichts von ihm&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli hatte ein großes Mitleid mit der Frau Menotti&comma; denn es konnte sich so gut denken&comma; wie es der Frau zumute war&comma; die sich ein Unrecht vorwarf&comma; das sie nicht ändern konnte&period; Und es tröstete die Frau Menotti und sagte ihr&colon; wenn man ein Unrecht gar nicht wolle und es so gern gut machen möchte&comma; dann dürfe man recht zuversichtlich den lieben Gott bitten&comma; daß er helfe&comma; denn er könne schon etwas Gutes machen aus dem&comma; was wir verkehrt gemacht haben&comma; und er wolle es auch tun&comma; wenn es uns um das Verkehrte recht leid sei&period; Das wisse es alles von der Großmutter her&comma; denn es habe sich auch einmal nicht mehr zu helfen gewußt und eine große Angst ausgestanden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Dann erzählte Stineli von dem See&comma; den Rico immer im Sinn gehabt&comma; und wie es schuld an seinem Fortlaufen gewesen sei und gefürchtet habe&comma; er sei ums Leben gekommen&period; Und es sagte&comma; es sei ihm dann auch ganz wohl geworden&comma; wie es so gebetet und alles dem lieben Gott überlassen habe&comma; und Frau Menotti müsse es nun auch so machen&comma; dann werde es ihr ganz leicht werden ums Herz&comma; denn sie könne dann immer fröhlich denken&colon; »Jetzt hat der liebe Gott die Sache übernommen&period;« Die Frau Menotti wurde ganz fromm gestimmt von Stinelis Worten und sagte&comma; sie wolle nun in Frieden zur Ruhe gehen&comma; es habe ihr recht wohl gemacht mit seiner Zuversicht&period;<&sol;p>

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