Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Am Silser- und am Gardasee
Zwei frohe Reisende

<p>Am Montag mußte die Reise erst am Abend vor sich gehen&comma; das hatte der Roßhändler dem Rico deutlich alles gesagt&comma; so daß dieser nun perfekt seinen Weg wußte&period; Nachdem nun der Abschied genommen war&comma; wanderten Rico und Stineli gegen Sils hin&comma; und am Häuschen stand die Mutter und alle die kleinen Kinder um sie herum und schauten ihnen nach&period; Der Sami ging neben ihnen her und trug den Sack auf dem Kopfe&comma; und den Korb trug Rico auf der einen und Stineli auf der anderen Seite&period; Stinelis Kleider hatten gerade beide angefüllt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Bei der Kirche in Sils sagte Stineli&colon; »Wenn uns die Großmutter noch sehen könnte&excl; Wir wollen ihr doch noch Lebewohl sagen&comma; nicht&comma; Rico&quest;« Er wollte gern und sagte Stineli&comma; daß er schon dagewesen wäre und sie nicht gefunden hätte&semi; aber Stineli wußte schon&comma; wo die Großmutter lag&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als der Postwagen heranfuhr und stillehielt&comma; rief der Kutscher herunter&colon; »Sind die zwei da&comma; die an den Gardasee hinunter müssen&quest; Ich habe schon gestern nachgefragt&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Der Roßhändler hatte sie gut empfohlen&comma; und nun rief der Kutscher&colon; »Hier herauf&comma; die anderen haben gefroren&comma; der Wagen ist voll&comma; ihr seid jung&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Damit half er ihnen auf den Sitz hinter dem Bock&comma; oben auf dem Wagen&comma; und nahm eine dicke Roßdecke hervor&comma; die deckte und stopfte er um die beiden&comma; daß sie ganz eingewickelt dasaßen&comma; und nun ging’s vorwärts&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Zum ersten Male&comma; seit sie sich wiedergesehen hatten&comma; saßen nun Rico und Stineli allein beieinander und konnten sich ungestört erzählen von allem&comma; was sie in den ganzen drei Jahren erlebt hatten&period; Das taten sie nun auch recht nach Herzenslust von Anfang an&comma; und unter dem funkelnden Sternenhimmel fuhren sie dahin und hatten keinen Schlaf die ganze Nacht vor lauter Genuß und Vergnügen&period; Am Morgen kamen sie auf den See&comma; und gerade um dieselbe Stunde&comma; wie Rico in Peschiera angekommen war&comma; so langten auch sie an und kamen den Weg hinunter&comma; dem See zu&period; Aber Rico wollte nicht&comma; daß das Stineli den See sehe&comma; bis es an seinem Plätzchen angekommen war&period; So führte er es nun zwischen den Bäumen durch&comma; bis sie auf einmal bei der kleinen Brücke herauskamen ins Freie&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da lag der See in der Abendsonne&comma; und Rico und Stineli saßen an der niederen Halde hin und schauten hinüber&period; So wie ihn Rico geschildert hatte&comma; so war er&comma; aber noch viel schöner&comma; denn solche Farben hatte Stineli noch nie gesehen&period; Es schaute hin und her nach den violetten Bergen und auf die goldene Flut und rief endlich voller Entzücken&colon; »Er ist noch schöner als der Silsersee&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico hatte ihn aber auch noch nie so schön gesehen als jetzt&comma; da er mit dem Stineli dran saß&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Im stillen hatte Rico noch eine Freude&semi; – wie konnte er den Silvio und seine Mutter überraschen&excl; Kein Mensch hatte gedacht&comma; daß er so bald zurücksein könnte&period; Bevor acht Tage um waren&comma; erwartete sie niemand&comma; und nun saßen sie schon da am See&period; Bis die Sonne unter war&comma; blieben sie an der Halde sitzen&period; Rico mußte dem Stineli zeigen&comma; wo die Mutter stand&comma; wenn sie wusch am See und er dasaß und auf sie wartete&comma; und er mußte erzählen&comma; wie sie miteinander über die schmale Brücke kamen und sie ihn an der Hand hielt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Aber wo seid ihr dann hingegangen&quest;« fragte Stineli&period; »Hast du nie das Haus gefunden&comma; wo ihr hineingegangen seid&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>Rico verneinte es&period; »Wenn ich da hinaufgehe&comma; vom See gegen die Schienenbahn hinauf&comma; dann ist’s auf einmal&comma; als sei ich da mit der Mutter gestanden und habe auf einem Tritt gesessen und vor uns die roten Blumen gesehen&semi; aber es ist nichts mehr da&comma; und den Weg hinauf kenne ich nicht&comma; den habe ich nie gesehen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Endlich standen sie auf und gingen dem Garten zu&semi; Rico trug den Sack und Stineli den Korb&period; Wie sie in den Garten eintraten&comma; mußte Stineli überlaut ausrufen&colon; »O wie schön&comma; o die schönen Blumen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das hatte den Silvio aufgeschnellt wie eine Feder&period; Er schrie aus Leibeskräften&colon; »Der Rico kommt mit dem Stineli&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Die Mutter glaubte&comma; das Fieber habe ihn gepackt&semi; sie warf ihre Sachen dahinten im Kasten&comma; wo sie herumkramte&comma; alle übereinander und kam herbeigelaufen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>In dem Augenblick aber trat der lebendige Rico unter die Tür&comma; und vor Schrecken und Freude hätte es die gute Frau fast umgeworfen&comma; denn bis auf diesen Augenblick hatte sie heimlich immerfort die schwersten Befürchtungen ausgestanden&comma; das Unternehmen könnte dem Rico doch ans Leben gehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Hinter dem Rico kam ein Mädchen hervor mit einem so freundlichen Gesicht&comma; daß es der Frau Menotti sogleich das Herz gewann&comma; denn sie war eine Frau von schnellen Eindrücken&period; Erst mußte sie aber dem Rico beide Hände fast abschütteln vor Freude&comma; und währenddessen ging Stineli schnell an das Bettchen heran und begrüßte den Silvio&comma; und es legte seinen Arm um des Bübleins schmale Schultern und lachte ihm ganz freundlich ins Gesicht&comma; so&comma; als hätten sie sich schon lang gekannt und gern gehabt&comma; und der Silvio packte es gleich um den Hals und zog es ganz auf sein Gesicht herunter&period; Dann legte das Stineli dem Silvio ein Geschenk aufs Bett&comma; das es in die nächste Tasche gesteckt hatte&comma; um es gleich bei der Hand zu haben&period; Es war ein Kunstwerk&comma; das der Peterli von jeher allen anderen Freuden vorgezogen hatte&colon; ein Tannzapfen&comma; dem in jede kleine Öffnung zwischen den harten Schuppen ein dünner Draht eingesteckt war&period; Oben auf dem Draht war je ein komisches Figürchen von Pantoffelholz festgemacht&period; Alle diese Figürchen zappelten aber so lustig gegeneinander und verbeugten sich und hatten von Rötel und Kohle so feurig bemalte Gesichter&comma; daß der Silvio nicht mehr aus dem Lachen kam&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Unterdessen hatte die Mutter von Rico das Notwendigste vernommen&comma; daß er sicher und glücklich wieder da sei&comma; und sie kehrte sich nun zum Stineli und begrüßte es mit aller Herzlichkeit&comma; und Stineli sagte mehr mit seinen freundlichen Augen als mit seinem Munde&comma; denn es konnte gar nicht italienisch und mußte sich mit seinen romanischen Worten helfen&comma; wie es konnte&period; Aber es war nicht von schwerer Gemütsart und fand sich gleich zurecht&comma; und wo es das Wort nicht fand&comma; da beschrieb es die Sache gleich mit den Fingern und allerhand Zeichen&comma; was dem Silvio unbeschreiblich kurzweilig vorkam&comma; denn es war wie ein Spiel&comma; wo es immer etwas zu erraten gab&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun ging die Frau Menotti an den Kasten&comma; wo alles bereit lag&comma; was man zum Essen brauchte&comma; Teller und Tischtuch und das kalte Huhn und die Früchte und der Wein&period; Sowie Stineli das bemerkte&comma; lief es augenblicklich der Frau Menotti nach und trug herzu und deckte den Tisch und war so erstaunlich flink&comma; daß der Frau Menotti gar nichts mehr übrig blieb zu tun&comma; als nur verwundert zuzusehen&semi; und bevor sie nur Zeit hatte zu denken&comma; was nun folge&comma; hatte schon der Silvio alles auf seinem Brett&comma; verschnitten und vorgelegt ganz ordentlich&comma; wie es sein mußte&comma; und die rasche Bedienung gefiel dem Silvio&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da setzte sich Frau Menotti hin und sagte&colon; »So habe ich es lange nicht gehabt&comma; aber jetzt komm und sitz auch&comma; Stineli&comma; und iß mit uns&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun aßen alle fröhlich und saßen beisammen&comma; so als hätten sie immer zueinander gehört und müßten auch immer so zusammenbleiben&period; Dann fing der Rico an von der Reise zu berichten&comma; und derweilen stand Stineli auf und räumte leise alles wieder weg in den Kasten hinein&comma; denn es wußte nun schon&comma; wo jedes Ding seinen Platz hatte&period; Dann setzte es sich ganz nahe an Silvios Bett und machte Figuren mit seinen gelenkigen Fingern&comma; so daß davon der Schatten auf die Wand fiel&comma; und alle Augenblicke lachte der Silvio hell auf und rief aus&colon; »Ein Hase&excl; Ein Tier mit Hörnern&excl; Eine Spinne mit langen Beinen&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>So verfloß der erste Abend so schnell und vergnüglich&comma; daß keines begreifen konnte&comma; wo die Zeit hingekommen war&comma; als es nun zehn Uhr schlug&period; Rico stand auf vom Tisch&comma; denn er wußte&comma; daß er nun gehen mußte&semi; es war aber eine schwarze Wolke über sein Gesicht gekommen&period; Er sagte kurz&colon; »Gute Nacht&excl;« und ging hinaus&period; Aber das Stineli lief ihm nach und im Garten nahm es ihn bei der Hand und sagte&colon; »Nun darfst du nicht traurig werden&comma; Rico&semi; es ist so schön hier&comma; ich kann dir gar nicht sagen&comma; wie es mir gefällt und wie froh ich bin&comma; und das habe ich alles dir zu danken&period; Und morgen kommst du wieder und alle Tage&semi; freut es dich nicht&comma; Rico&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ja«&comma; sagte er und schaute das Stineli ganz schwarz an&comma; »und alle Abende&comma; wenn’s am schönsten ist&comma; muß ich fort und weg und gehöre zu niemandem&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ach&comma; so mußt du nicht denken&comma; Rico«&comma; ermunterte ihn Stineli&semi; »nun haben wir doch immer zueinander gehört und ich habe mich drei Jahre lang immer darauf gefreut&comma; wenn wir wieder einmal zusammenkommen werden&comma; und wenn es daheim manchmal so zuging&comma; daß ich lieber nicht mehr hätte dabei sein wollen&comma; dann dachte ich immer&colon; Wenn ich nur einmal wieder mit dem Rico sein könnte&comma; so wollte ich alles gern tun&period; Und nun ist alles so gekommen&comma; daß ich gar keine größere Freude wüßte&comma; und jetzt willst du dich gar nicht mit mir freuen&comma; Rico&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Doch&comma; ich will«&comma; sagte Rico und schaute das Stineli heller an&period; Er gehörte doch zu jemand&comma; Stinelis Worte hatten ihn wieder ins Gleichgewicht gebracht&period; Sie gaben einander noch einmal die Hand&comma; dann ging der Rico zum Garten hinaus&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Als Stineli in die Stube zurückkam und nach der Mutter Anweisung dem Silvio »Gute Nacht« sagen wollte&comma; da ging ein neuer Kampf an&semi; er wollte es durchaus nicht von sich weglassen und rief ein Mal ums andere&colon; »Das Stineli muß bei mir bleiben und immer an meinem Bette sitzen&comma; es sagt lustige Worte und lacht mit den Augen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da half nun keine Ermahnung&comma; bis zuletzt die Mutter sagte&colon; »So halt du jetzt das Stineli fest die ganze Nacht&comma; daß es nicht schlafen kann&comma; dann ist es morgen krank wie du und kann nicht aufstehen und du siehst es nicht mehr für lange Zeit&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Da ließ Silvio endlich Stinelis Arm los&comma; den er fest umklammert hatte&comma; und sagte&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>»Geh&comma; schlaf&comma; Stineli&semi; aber komm früh am Morgen wieder&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das versprach Stineli&semi; und nun zeigte Frau Menotti ihm ein sauberes Kämmerlein&comma; das auf den Garten hinausschaute&comma; von wo ein lieblicher Blumenduft durch das offene Fenster heraufstieg&period; –<&sol;p>&NewLine;<p>Mit jedem Tage wurde das Stineli nun dem kleinen Silvio unentbehrlicher&semi; wenn es nur zur Tür hinausging&comma; so sah er das für ein Unglück an&period; Dafür war er aber auch ordentlich und gut&comma; wenn es bei ihm war&comma; und tat alles&comma; was es ihn hieß&comma; und plagte seine Mutter gar nicht mehr&period; Es war auch&comma; als ob das nervöse Büblein wirklich seit Stinelis Ankunft seine großen Schmerzen verloren habe&comma; denn noch hatte er nie gejammert&comma; seit es an seinem Bette saß&comma; und doch war nun schon mancher Tag hingegangen seit jenem ersten Abend&comma; da es erschienen war&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Stineli hatte aber auch eine unerschöpfliche Fundgrube von Unterhaltungen&comma; und alles&comma; was es nur in die Hand nahm&comma; und was es tat und sagte&comma; wurde zur anmutigsten Kurzweil für den Silvio&comma; denn das Stineli hatte sich von ganz klein auf nach den kleinen Kindern richten müssen und immerfort darauf bedacht sein&comma; sie zufrieden zu erhalten mit Worten und Händen und Blicken und auf jegliche Weise mit jeder Bewegung&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So war Stineli unbewußt in seinem Sein und ganzen Wesen schon die allerangenehmste Unterhaltung&comma; die es für ein kleines&comma; empfindliches&comma; an sein Bettchen gefesseltes Büblein nur geben konnte&period; Das gelehrige Stineli hatte auch bald dem Silvio alle seine Worte abgelauscht und schwatzte ganz unverzagt mit Silvio drauf los&comma; und wo es die Worte noch verkehrte&comma; da hatte der Silvio einen Hauptspaß daran&comma; und die Sache war für ihn wie ein absichtlich erfundenes Vergnügen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Mutter konnte nie den Rico in den Garten treten sehen&comma; ohne daß sie ihm entgegenlief&comma; denn jetzt durfte sie laufen&comma; wohin sie nur wollte und wann es ihr gefiel&comma; und sie mußte ihn noch ein wenig auf die Seite nehmen&comma; um ihm zu sagen&comma; welchen Schatz er ihr ins Haus gebracht habe&comma; wie glücklich und froh der kleine Silvio sei&comma; wie in seinem ganzen armen Leben noch nie&comma; und wie sie nur gar nicht begreife&comma; daß es ein solches Mädchen geben könne&colon; mit dem Silvio sei es ganz kindlich und gerade so&comma; als habe es selbst die größte Freude an den Dingen&comma; die dem Büblein Kurzweil machten&semi; mit ihr könne es so vernünftig reden und habe eine Erfahrung in der Arbeit und im Einrichten&comma; wie kaum eine Frau&semi; und seit sie dieses Stineli im Hause habe&comma; gehe alles wie von selbst und sie habe alle Tage Sonntag&period; Kurz&comma; Frau Menotti konnte gar nicht genug Worte finden&comma; um das Stineli in allen seinen Eigenschaften zu bewundern und zu loben&comma; und der Rico hörte ihr gern zu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Wenn sie dann alle drinnen beisammensaßen und immer eins das andere freundlicher ansah&comma; so als wollte keines mehr gern vom anderen weggehen&comma; dann hätte man denken müssen&comma; das seien die glücklichsten Menschen weit umher&comma; denen nichts mehr mangele&period; Aber mit jedem Abend wurde die Wolke auf Ricos Gesicht ein wenig dunkler und schwärzer&comma; sobald es zehn Uhr schlug&comma; und wenn es auch Frau Menotti in ihrer frohen Stimmung nicht merkte&comma; so sah es doch das Stineli ganz gut und heimlich bekümmerte es sich und dachte&colon; »Es ist&comma; wie wenn ein Gewitter kommen wollte&excl;«<&sol;p>

«

»