Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Heimatlos
(Johanna Spyri)

Wie Wiselis Weg gefunden wird
Auch noch daheim

<p>Um die gleiche Zeit&comma; da die Kinder des Obersten ihrem Hause zugingen&comma; rannte das kleine Wiseli aus allen Kräften den Berg hinunter&comma; denn es wußte&comma; daß es länger fortgeblieben war&comma; als die Mutter erwartete&comma; und das tat es sonst nicht&period; Aber heute war sein Glück so groß gewesen&comma; daß es einen Augenblick das Heimgehen vergessen hatte&semi; jetzt lief es um so mehr drauf zu und wäre fast in einen Mann hineingerannt&comma; der eben aus der Tür des Häuschens trat&comma; als es hineinstürmen wollte&semi; er ging ihm aber ganz leise aus dem Wege&comma; und das Wiseli sprang vorwärts in die Stube hinein und auf die Mutter zu&comma; die auf einem kleinen Stuhl am Fenster saß und zu Wiselis Erstaunen noch kein Licht angezündet hatte&period; »Mutter&comma; bist du böse&comma; daß ich so lang nicht komme&quest;« rief es&comma; indem es sie mit beiden Armen um den Hals faßte&period; »Nein&comma; nein&comma; Wiseli«&comma; antwortete sie freundlich&semi; »aber ich bin froh&comma; daß du da bist&period;« Jetzt fing das Wiseli der Mutter von seinem großen Erlebnis zu erzählen an&comma; wie gut der Otto mit ihm gewesen&comma; und wie es zweimal mit dem allerschönsten Schlitten hatte den Berg hinunterfahren können&period; Wie es dann mit seiner Erzählung fertig war und die Mutter noch so still dasaß&comma; fiel ihm erst ein&comma; daß sie das sonst nicht tat&comma; und es fragte verwundert&colon; »Aber warum hast du noch kein Licht&comma; Mutter&quest;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich bin so müde heut’ abend&comma; Wiseli«&comma; antwortete sie&semi; »ich konnte nicht aufstehen und Licht machen&period; Hol das Lämpchen herein und bring mir einen Schluck Wasser mit&comma; ich habe so großen Durst&period;« Wiseli lief in die Küche und kam bald zurück&comma; in der einen Hand das Licht und in der anderen eine Flasche&comma; darinnen ein roter Saft schimmerte&comma; so hell und einladend&comma; daß die durstende Kranke erfreut ausrief&colon; »Was bringst du mir Schönes&comma; Wiseli&quest;« – »Ich weiß nicht«&comma; sagte das Kind&comma; »es stand auf dem Küchentisch&comma; sieh&comma; wie es funkelt&period;« Die Mutter nahm die Flasche in die Hand und roch daran&period; »O«&comma; sagte sie&comma; begierig wieder riechend&comma; »es ist wie frische Himbeeren aus dem Wald&comma; gib mir schnell ein wenig Wasser dazu&comma; Wiseli&period;« Das Kind goß von dem roten Saft in ein Glas und füllte es mit Wasser&comma; und mit durstigen Zügen trank die Mutter den erquickenden Beerensaft hinunter&period; »O&comma; wie das erfrischt&excl;« sagte sie und übergab das leere Glas dem Kinde&period; »Stell es weg&comma; Wiseli&comma; aber nicht weit&semi; mir ist&comma; ich könnte alles austrinken&comma; so durstig bin ich&period; Wer hat mir denn diese große Erquickung gebracht&quest; Gewiß die Trine&comma; es kommt von der Frau Oberst&period;« – »War denn die Trine bei dir in der Stube&comma; Mutter&quest;« fragte das Kind&period; – Die Mutter verneinte dies&period; – »Dann ist es nicht die Trine&comma; das weiß ich«&comma; sagte das Wiseli bestimmt&semi; »sie geht jedesmal in die Stube&comma; wenn sie etwas bringt&period; Aber der Schreiner Andres war ja bei dir&comma; hat er dies nicht mitgebracht&quest;« – »Ach was&comma; Wiseli«&comma; fiel die Mutter ganz lebhaft ein&semi; »was sagst du denn&comma; der Schreiner Andres war nie bei mir&comma; was kommt dir in den Sinn&quest;« – »Er war sicher&comma; sicher&comma; ganz bestimmt hier drinnen«&comma; beteuerte Wiseli&semi; »gerade wie ich hereinkam&comma; trat er so schnell aus der Tür&comma; daß ich fast an ihn heranrannte&colon; hast du denn nichts gehört&quest;« Die Mutter war eine Zeitlang ganz stille&comma; dann sagte sie&colon; »Ich habe schon gehört&comma; daß jemand leise die Küchentür aufmachte&semi; erst meinte ich&comma; du seist’s&comma; und – es ist wahr&comma; erst nachher hörte ich dich hereinrennen&period; Bist du sicher&comma; Wiseli&comma; daß es der Schreiner Andres war&comma; der zu unserer Tür herauskam&quest;« Wiseli war seiner Sache so sicher und konnte so genau der Mutter sagen&comma; wie der Rock und die Kappe vom Schreiner Andres aussahen und wie er erschrocken war&comma; als es so mit einem Male an ihn heranrannte&comma; daß die Mutter auch davon überzeugt wurde&semi; sie sagte wie für sich&colon; »Dann war es der Andres&comma; er hat es ausgedacht&comma; was mir so gut tun könnte&period;« – »Jetzt kommt mir auch etwas in den Sinn&comma; Mutter«&comma; rief auf einmal das Wiseli ganz erregt aus&comma; »jetzt weiß ich gewiß&comma; wer einmal den großen Topf Honig in die Küche gestellt hat&comma; von dem du so gern aßest&comma; und vor ein paar Tagen die Apfelkuchen&semi; weißt du&comma; Mutter&comma; du wolltest durch die Trine danken lassen&comma; als sie dir etwas Gekochtes brachte&comma; und sie sagte&comma; sie wisse von allem dem gar nichts&period; Das hat sicher alles der Schreiner Andres heimlich in die Küche gestellt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p><img style&equals;"display&colon; block&semi; margin-left&colon; auto&semi; margin-right&colon; auto&semi;" src&equals;"&sol;Johanna-Spyri&sol;Heimatlos&sol;Wie-Wiselis-Weg-gefunden-wird&sol;Auch-noch-daheim&sol;001&period;jpg&quest;m&equals;1382594656&" alt&equals;"" width&equals;"493" height&equals;"780"><&sol;p>&NewLine;<p>»Das glaube ich auch«&comma; sagte die Mutter und wischte sich die Augen&period; – »Es ist ja nichts Trauriges«&comma; sagte Wiseli ein wenig erschrocken&comma; als sie die Mutter immer wieder die Augen wischen sah&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Du mußt ihm einmal danken&comma; Wiseli&comma; ich kann es nicht mehr&period; Sag es ihm einmal&comma; ich lass’ ihm danken für alles Gute&semi; er hat es so gut mit mir gemeint&period; Komm&comma; sitz ein wenig zu mir heran«&comma; fuhr sie leise fort&semi; »gib mir auch noch einmal zu trinken&comma; und dann komm und sag mir das Verslein&comma; was ich dich gelehrt habe&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Wiseli holte noch einmal Wasser und goß von dem frischen Saft hinein&comma; und die Mutter trank noch einmal begierig davon&semi; dann legte sie müde ihren Kopf auf das niedere Gesims am Fenster und winkte das Wiseli zu sich&period; Es fand aber&comma; da liege die Mutter zu hart&comma; holte ein Kissen aus ihrem Bett herbei und legte es sorgfältig unter den Kopf&semi; dann setzte es sich dicht neben sie auf den Schemel und hielt ihre Hand fest in der seinigen&comma; und wie sie gewünscht hatte&comma; sagte es nun andächtig sein Verslein her&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">»Befiehl du deine Wege&comma;<br&sol;>Und was dein Herze kränkt&comma;<br&sol;>Der allertreusten Pflege<br&sol;>Des&comma; der den Himmel lenkt&period;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Der Wolken&comma; Luft und Winden<br&sol;>Gibt Wege&comma; Lauf und Bahn&comma;<br&sol;>Der wird auch Wege finden&comma;<br&sol;>Da dein Fuß gehen kann&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Als Wiseli zu Ende war&comma; sah es&comma; daß die Mutter am Entschlafen war&comma; sie sagte nur noch mit leisem Ton&colon; »Denk daran&comma; Wiseli&excl; Und wenn du einmal keinen Weg mehr vor dir siehst und es dir ganz schwer wird&comma; dann denk in deinem Herzen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">›Er wird auch Wege finden&comma;<br&sol;>Da dein Fuß gehen kann&period;‹«<&sol;p>&NewLine;<p>Nun legte die Mutter sich müde hin und entschlief&comma; und Wiseli wollte sie nicht wecken&period; Es legte sich mäuschenstille an sie heran&comma; und bald schlief es auch ganz fest&period; So brannte die kleine&comma; matte Lampe in dem stillen Stübchen fort&comma; immer matter&comma; bis sie von selbst erlosch und das Häuschen dunkel dastand auf dem hellen Mondscheinplatz&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als am folgenden Morgen die Nachbarin um das Haus herum zum Brunnen ging&comma; schaute sie durch das niedere Fenster in das Stübchen herein&comma; wie sie immer tat im Vorbeimarsch&period; Da sah sie&comma; wie Wiselis Mutter auf dem Kissen schlief und wie das Kind daneben stand und weinte&period; Das kam ihr so sonderbar vor&comma; sie mußte nachsehen&comma; was da geschehen sei&period; Sie machte ein wenig die Tür auf und sagte&colon; »Was hast du&comma; Wiseli&semi; ist die Mutter kränker&quest;« Wiseli schluchzte zum Erbarmen und stöhnte hervor&colon; »Ich weiß nicht&comma; was die Mutter hat&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Das arme Kind ahnte wohl&comma; was mit der Mutter war&comma; aber es konnte ja nicht begreifen&comma; daß es sie verloren hatte&period; Sie war ja noch da&comma; aber sie war entschlafen für das ganze Erdenleben&comma; sie hörte nicht mehr&comma; wie ihr Wiseli sie rief&period; Die Nachbarin trat zu dem Kissen am Fenster und schaute die schlafende Frau an&semi; dann trat sie erschrocken zurück und sagte&colon; »Geh schnell&comma; Wiseli&comma; lauf und hol deinen Vetter-Götti&comma; er soll auf der Stelle herkommen&comma; du hast ja sonst niemand&comma; und es muß jemand zu der Sache sehen&semi; lauf recht&comma; ich will warten&comma; bis du wiederkommst&period;« Das Kind lief davon&comma; aber es konnte nicht lange so weiter laufen&comma; sein Herz war so schwer und alle seine Glieder zitterten so sehr&comma; daß Wiseli auf einmal mitten auf dem Wege sich hinsetzen und laut weinen mußte&comma; denn jetzt wurde es ihm immer deutlicher in seinem Herzen&comma; daß die Mutter nicht mehr erwachen werde&period; Es stand dann wieder auf und lief weiter&comma; aber zu weinen konnte es nicht mehr aufhören&comma; denn in seinem Herzen wurde der Jammer immer größer&period; Am Buchenrain&comma; wohl eine Viertelstunde von der Kirche weg&comma; stand das Haus von dem Vetter-Götti&comma; wo Wiseli jetzt eben ankam und weinend unter die Tür trat&period; Die Base stand in der Küche und fragte kurz&colon; »Was ist mit dir&quest;« Wiseli sagte halblaut zwischen dem Schluchzen durch&comma; die Nachbarin habe es geschickt&comma; daß der Vetter-Götti schnell komme zur Mutter&period; Die Base sah das Kind an&comma; sie mochte denken&comma; es sei mit der Mutter schlimm&comma; denn weniger barsch&comma; als sie sonst redete&comma; sagte sie&colon; »Ich will es ihm sagen&comma; geh nur wieder heim&comma; er ist jetzt nicht da&period;« Da kehrte Wiseli wieder um und kam schneller zurück&comma; als es vorwärts gekommen war&comma; denn es ging ja noch zur Mutter&period; Die Nachbarin stand vor der Tür&comma; drinnen hatte sie nicht warten wollen&comma; es war ihr nicht heimlich&period; Aber das Wiseli schlich hinein und setzte sich ganz nahe zur Mutter&comma; so wie es die Nacht durch neben ihr gesessen hatte&semi; da saß es ganz still und weinte und von Zeit zu Zeit sagte es halblaut&colon; »Mutter&excl;« Sie gab keine Antwort mehr&period; Da sagte Wiseli&comma; sich zu ihr hinbeugend&colon; »Gelt&comma; Mutter&comma; du hörst mich wohl&comma; wenn du jetzt schon im Himmel bist&comma; und ich dich nicht mehr hören kann&period;« So saß das Wiseli noch neben seiner Mutter und hielt sie fest&comma; als schon die Mittagszeit vorüber war&period; Da trat der Vetter-Götti in das Stübchen&comma; schaute sich ein wenig darin um und rief dann die Nachbarin herein&period; »Ihr müßt die Frau hier zurecht machen&comma; Ihr wißt schon&comma; wie ich meine«&comma; sagte er&comma; »so daß alles fertig ist zum Wegholen&period; Dann nehmt den Schlüssel zu Euch&comma; daß da nichts wegkommt&period;« Dann wandte er sich zu Wiseli und sagte&colon; »Wo sind deine Kleider&comma; Kleines&quest; Such sie zusammen und pack sie in ein Bündelchen&comma; dann gehen wir&period;« – »Wohin gehen wir denn&quest;« fragte Wiseli zaghaft&period; – »Heim gehen wir«&comma; war die Antwort&semi; »an den Buchenrain&comma; da kannst du bei uns sein&comma; du hast niemand mehr auf der Welt&comma; als deinen Vetter-Götti&period;« Das Wiseli befiel ein lähmender Schrecken&comma; – nach dem Buchenrain sollte es gehen und da daheim sein&period; Es hatte von jeher eine große Furcht vor der Base gehabt und jedesmal eine Zeitlang vor der Tür gewartet&comma; wenn es dem Vetter-Götti etwas hatte berichten müssen&comma; aus lauter Angst&comma; die Base fahre es an&period; Dann war der älteste Sohn im Hause&comma; der gewalttätige Chäppi&comma; und dann kamen noch der Hans und der Rudi&comma; die warfen allen Kindern Steine nach&period; Bei denen sollte es nun daheim sein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Wiseli stand bleich und unbeweglich vor Schrecken da&period; »Du mußt dich nicht fürchten&comma; Kleines«&comma; sagte der Vetter-Götti freundlich&semi; »es sind wohl mehr Leute bei uns im Hause als da&comma; aber das ist desto lustiger für dich&period;« Wiseli legte still seine Sachen zusammen in ein Tuch und knüpfte je zwei Zipfel davon kreuzweis ineinander&semi; dann band es sein Tüchlein um den Kopf und stand fertig da&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»So«&comma; sagte der Vetter&comma; »nun gehen wir«&comma; und schritt der Tür zu&period; Auf einmal schluchzte Wiseli laut auf&colon; »Dann muß ja die Mutter ganz allein sein&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Es war wieder zu ihr hingelaufen und hielt sie fest&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Vetter-Götti stand ein wenig verblüfft da&semi; er wußte nicht recht&comma; wie er dem Kinde erklären sollte&comma; wie es mit seiner Mutter sei&comma; wenn es das nicht von selbst begriff&comma; denn Erklären war nicht seine Sache&comma; das hatte er nie probiert&semi; er sagte also&colon; »Komm jetzt&comma; komm&excl; Ein Kleines&comma; wie du eins bist&comma; muß folgen&semi; komm und mach nur kein Geschrei&comma; das hilft gar nichts&period;« Wiseli würgte sein Schluchzen hinunter und folgte lautlos dem Vetter-Götti durch die Tür nach&period; Nur einmal sah es noch zurück und sagte ganz leise&colon; »Behüte Gott&comma; Mutter&excl;« Dann wanderte es mit seinem Bündelchen am Arm aus dem kleinen Hause&comma; wo es daheim gewesen war&period; Eben als die beiden miteinander querfeldein gingen&comma; kam von oben herunter die Trine gegangen&comma; einen gedeckten Korb am Arm tragend&period; Noch stand die Nachbarin unter der Tür und schaute dem Vetter-Götti und dem Kinde nach&period; Die Trine trat auf sie zu und sagte&colon; »Heute bring’ ich der kranken Frau was Rechtes&comma; aber ein wenig spät&comma; wir haben den Herrn Onkel zum Besuch&comma; da wird es immer spät&period;« – »Und wenn Ihr auch am Morgen früh gekommen wäret&comma; so wäret Ihr zu spät gekommen heut’&comma; sie ist in der Nacht gestorben&period;« – »Es wird doch nicht sein«&comma; rief die Trine erschrocken aus&semi; »ach du mein Trost&comma; was wird meine Frau sagen&period;« Damit kehrte die Trine um und lief stracks ihren Weg zurück&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Nachbarin trat in das stille Stüblein ein und machte Wiselis Mutter so zurecht&comma; wie sie in ihrem letzten Bettlein liegen mußte&period;<&sol;p>

«

»