Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Moni der Geißbub
(Johanna Spyri, 1886)

Moni kann nicht mehr singen

<p>Moni kam am folgenden Morgen genauso still und niedergeschlagen wie am Abend vorher den Weg zum Badehaus daher&period; Leise holte er die Geißen des Wirts heraus und stieg weiter hinauf&comma; aber er sang keinen Ton&comma; er schickte keinen Jodel in die Luft hinauf&period; Er ließ seinen Kopf hängen und machte ein Gesicht&comma; als fürchtete er sich vor etwas&period; Hier und da blickte er auch scheu um sich&comma; ob ihm nicht jemand nachkomme und ihn etwas fragen wolle&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Moni konnte gar nicht mehr lustig sein&period; Er wußte erst selbst nicht so recht&comma; warum&quest; Er wollte sich freuen&comma; daß er das Mäggerli gerettet hatte und einmal singen&comma; aber er brachte nichts heraus&period; Der Himmel war heute mit Wolken bedeckt&comma; und Moni dachte&comma; wenn die Sonne komme&comma; würde er schon wieder lustiger werden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als er oben angekommen war&comma; fing es ganz tüchtig zu regnen an&period; Er flüchtete unter den Regenfelsen&comma; denn es goß bald in Strömen vom Himmel herunter&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Geißen kamen auch heran und stellten sich da und dort unter die Felsen&period; Die vornehme Schwarze hatte gleich ihren schönen glänzenden Pelz schonen wollen und war noch vor dem Moni unter den Felsen gekrochen&period; Sie saß jetzt hinter dem Moni und schaute aus dem behaglichen Winkel vergnügt in den strömenden Regen hinaus&period; Das Mäggerli stand vor seinem Beschützer unter dem vorragenden Felsen und rieb zärtlich sein Köpfchen an seinem Knie&period; Und dann schaute es erstaunt zu ihm auf&comma; denn Moni sagte kein Wort&comma; das war das Zicklein nicht gewohnt&period; Auch seine Braune scharrte zu seinen Füßen und meckerte&comma; denn er hatte den ganzen Morgen noch nichts zu ihr gesagt&period; Moni saß nachdenklich da&period; Er hatte sich auf seinen Stecken gestützt&comma; den er bei solchem Wetter immer zur Hand nahm&comma; damit er an den steilen Stellen nicht ausrutschen konnte&period; Denn an Regentagen zog er Schuhe an&period; Jetzt&comma; da Moni stundenlang unter dem Regenfelsen saß&comma; hatte er Zeit zum Nachdenken&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt überdachte Moni&comma; was er dem Jörgli versprochen hatte&period; Und es kam ihm nun nicht anders vor&comma; als ob der Jörgli etwas genommen habe und er selbst dasselbe tue&period; Schließlich hatte ihm der Jörgli doch auch etwas für sein Schweigen gegeben&period; Er hatte etwas getan&comma; was unrecht war&comma; und der liebe Gott war jetzt gegen ihn&comma; das fühlte er in seinem Herzen&period; Es war ihm recht&comma; daß es dunkel war und regnete und er unter dem Felsen verborgen war&period; Denn er hätte doch nicht wie sonst in den blauen Himmel hinaufsehen dürfen&comma; er fürchtete sich jetzt vor dem lieben Gott&period; Aber auch noch andere Dinge mußte Moni denken&period; Wenn nun wieder das Mäggerli über einen steilen Felsen hinunterfiele&comma; und er wollte es holen&comma; und der liebe Gott würde ihn nicht mehr beschützen&comma; wenn er auch nicht mehr zu ihm beten und rufen dürfte&comma; dann hätte er keine Sicherheit mehr&period; Und wenn er dann ausrutschte und mit dem Mäggerli tief über die zackigen Felsen hinunterfiele und beide ganz zerrissen und zerschmettert unten im Abgrund lägen…<&sol;p>&NewLine;<p>O nein&comma; sprach er ängstlich zu sich&comma; so durfte es doch nicht kommen&period; Er mußte dafür sorgen&comma; daß er wieder beten und vor den lieben Gott kommen konnte mit allem&comma; was ihm auf dem Herzen lag&period; Dann konnte er auch wieder fröhlich sein&comma; das fühlte Moni&period; Er wollte sich von der Last befreien&comma; die ihn bedrückte&comma; er wollte gehen und alles dem Wirt sagen—aber dann&quest; Dann wurde Jörgli seinen Vater nicht überreden&comma; und der Wirt würde das Mäggerli totstechen&period; O nein&excl; Das konnte er nicht aushalten&comma; und er sagte&colon; "Nein&comma; ich tue es nicht&comma; ich sage nichts&period;" Aber es war ihm nicht wohl dabei und sein schlechtes Gewissen wurde immer größer&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So verging dem Moni der ganze Tag&period; Er kehrte abends so lautlos heim&comma; wie er morgens gekommen war&period; Und als unten beim Badehaus Paula stand und schnell zum Geißenstall herübersprang und teilnehmend fragte&colon; "Moni&comma; was fehlt dir&quest; Warum singst du denn gar nicht mehr&quest;"—da wandte er sich scheu ab und sagte&colon; "Ich kann nicht&period;" Und so schnell wie möglich machte er sich mit seinen Geißen davon&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Paula sagte oben zu ihrer Tante&colon; "Wenn ich doch nur wußte&comma; was der&nbsp&semi;Geißbub hat&comma; er ist ja ganz verändert&comma; man kennt ihn gar nicht mehr&period;&nbsp&semi;Wenn er doch nur wieder sänge&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Es wird der schreckliche Regen sein&comma; der den Buben so verstimmt"&comma; meinte die Tante&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Nun kommt auch alles zusammen&period; Wir wollen doch heimgehen&comma; Tante"&comma; bat Paula&comma; "das Vergnügen hier ist aus&period; Erst verliere ich mein schönes Kreuz&comma; und es ist nicht mehr zu finden&period; Dann kommt dieser endlose Regen&comma; und nun kann man nicht einmal mehr den lustigen Geißbuben zuhören&period; Wir wollen fort&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Die Kur muß zu Ende gemacht werden&comma; da kann ich dir nicht helfen"&comma; erklärte die Tante&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Dunkel und grau war es auch am folgenden Morgen&comma; und der Regen strömte unausgesetzt nieder&period; Moni brachte seinen Tag ebenso zu wie den vorhergegangenen&period; Er saß unter dem Felsen&comma; und seine Gedanken gingen ruhelos immer im Kreise herum&period; Immer wenn er zu sich sagte&colon; "Jetzt will ich gehen und das Unrecht gestehen&comma; damit ich wieder zum lieben Gott aufsehen darf"&comma; da sah er wieder das Zicklein unter dem Messer vor sich&period; Er dachte nach&comma; und sein schlechtes Gewissen plagte ihn so sehr&comma; daß er am Abend ganz müde war und im strömenden Regen heimschlich&comma; als merkte er nichts davon&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Beim Badehaus stand der Wirt in der Hintertür und fuhr den Moni an&colon; "Komm einmal mit den Geißen her&comma; sie sind naß genug&excl; Was kriechst du auch wie eine Schnecke den Berg hinunter&excl; Ich wundere mich schon die ganze Zeit über dich&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>So unfreundlich war der Wirt noch nie gewesen&comma; im Gegenteil&comma; immer hatte er dem fröhlichen Geißbuben die freundlichsten Worte zugerufen&period; Aber Monis verändertes Wesen gefiel ihm nicht&comma; und dazu war er noch schlechter Laune&comma; denn Fräulein Paula hatte ihm ihren Verlust geklagt&period; Sie hatte behauptet&comma; das kostbare Kreuz könne nur im Haus oder unmittelbar vor der Haustür verloren gegangen sein&period; Denn sie sei an jenem Tag nur herausgegangen&comma; um abends den heimkehrenden Geißbuben singen zu hören&period; Daß man aber sagen sollte&comma; es könne in seinem Haus ein so wertvolles Ding verloren gehen&comma; ohne daß man es wieder erhalte&comma; machte ihn sehr böse&period; Er hatte auch am Tag vorher das ganze Dienstpersonal versammelt&comma; es verhört und bedroht und endlich dem Finder eine Belohnung ausgesetzt&period; Das ganze Haus war in Aufruhr über den verlorenen Schmuck&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als Moni mit seinen Geißen an der Vorderseite des Hauses vorbeiging&comma; stand Paula dort&period; Sie hatte auf ihn gewartet&comma; es wunderte sie so sehr&comma; ob er immer noch nicht wieder singen könne und lustig sei&period; Als er nun vorbeischlich&comma; rief sie&colon; "Moni&excl; Moni&excl; Bist du denn auch derselbe Geißbub&comma; der vom Morgen bis zum Abend sang&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>"'Und so blau ist der Himmel&comma;&nbsp&semi;Und ich freu mich fast zu Tod'&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>Moni hörte die Worte&comma; er gab keine Antwort&comma; aber sie machten einen großen Eindruck auf ihn&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Oh&comma; wie war's doch so anders&comma; als er den ganzen Tag singen konnte und er so fröhlich war wie seine Lieder&period; Oh&comma; wenn es doch wieder so sein könnte&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Wieder zog Moni zu seiner Anhöhe hinauf&comma; still und freudlos und ohne Gesang&period; Der Regen hatte nun aufgehört&comma; aber düster hingen ringsum die Nebel an den Bergen&comma; und der Himmel war noch voll dunkler Wolken&period; Moni setzte sich wieder unter den Felsen und kämpfte mit seinen Gedanken&period; Gegen Mittag fing der Himmel an&comma; sich aufzuklären&comma; es wurde heller und heller&period; Moni kam aus seiner Höhle hervor und schaute umher&period; Die Geißen sprangen wieder lustig hin und her&comma; auch das Zicklein war ganz übermütig vor Freuden über die wiederkehrende Sonne und machte die fröhlichsten Sprünge&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Moni stand draußen auf der Kanzel und sah&comma; wie es immer schöner und heller wurde unten im Tal und oben über dem Berge&period; Jetzt teilten sich die Wolken und der lichtblaue Himmel schaute so lieblich und freundlich herunter&period; Es war Moni&comma; als schaue der liebe Gott aus dem lichten Blau zu ihm nieder&period; Und auf einmal war es in seinem Herzen ganz klar&comma; was er tun mußte&comma; er konnte das Unrecht nicht mehr mit sich herumfragen&period; Er mußte es ablegen&period; Jetzt ergriff Moni das Zicklein&comma; das neben ihm umhersprang&comma; nahm es in seinen Arm und sagte mit Zärtlichkeit&colon; "O Mäggerli&comma; du armes Mäggerli&excl; Ich habe gewiß getan&comma; was ich konnte&comma; aber es ist ein Unrecht&comma; und das darf man nicht tun&period; Oh&comma; wenn du nur nicht sterben müßtest&comma; ich kann es nicht aushalten&excl;" Und nun fing Moni so sehr zu weinen an&comma; daß er nicht mehr weiter reden konnte&period; Und das Zicklein meckerte wehmütig und kroch tief unter seinen Arm&comma; als wollte es sich ganz bei ihm verstecken und in Sicherheit bringen&period; Jetzt hob Moni das Geißlein auf seine Schultern&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Komm&comma; Mäggerli&comma; ich trage dich noch einmal heim heute&comma; vielleicht kann ich dich bald nicht mehr tragen&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Als er mit seinen Geißen unten beim Badehaus war&comma; wartete Paula schon auf ihn&period; Moni stellte das Junge mit der Schwarzen in den Stall hinein&comma; und anstatt weiter zu ziehen&comma; wollte er an dem Fräulein vorbei ins Haus gehen&period; Sie hielt ihn an&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Immer noch ohne Gesang&comma; Moni&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ich muß etwas anzeigen"&comma; erwiderte Moni&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Anzeigen&quest; Was denn&quest; Darf ich's nicht wissen&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ich muß zum Wirt&comma; es ist etwas gefunden worden&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Gefunden&quest; Was denn&quest; Ich habe auch etwas verloren&comma; ein schönes Kreuz&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ja&comma; das ist es gerade&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Was sagst du&quest;" rief Paula in höchster Überraschung&period; "Ist es ein&nbsp&semi;Kreuz mit funkelnden Steinen&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ja&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Wo hast du's denn&comma; Moni&quest; Gib's doch her&comma; hast du's gefunden&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Nein&comma; der Jörgli von Küblis&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Nun wollte Paula wissen&comma; wer das sei&comma; und wo er wohne&comma; und auf der&nbsp&semi;Stelle jemand nach Küblis hinunterschicken&comma; das Kreuz zu holen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Ich will schon gehen&comma; und wenn er's noch hat&comma; will ich's bringen" sagte Moni&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Wenn er's noch hat&quest;" rief Paula&comma; "warum sollte er's nicht mehr haben&quest; Und woher weißt du denn von allem&comma; Moni&quest; Wann hat er's gefunden&comma; und wie hast du's denn erfahren&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>Moni schaute zu Boden&period; Er durfte nicht sagen&comma; wie alles zugegangen war&comma; und wie er geholfen hatte&comma; den Fund zu verheimlichen&comma; bis er es nicht mehr hatte ertragen können&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber Paula war sehr gut zu Moni&period; Sie nahm ihn auf die Seite&comma; setzte sich auf einen Baumstamm zu ihm hin und sagte mit der größten Freundlichkeit&colon; "Komm&comma; erzähl mir alles&comma; wie es gegangen ist&comma; Moni&comma; ich möchte so gern alles von dir wissen&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Nun faßte der Moni Zutrauen und fing an und erzählte die ganze Sache&period; Er berichtete auch&comma; daß er sich um das Leben von Mäggerli Sorgen gemacht habe und wie er so alle Freude verloren hatte und nicht mehr zum lieben Gott aufschauen durfte&period; Heute&comma; sagte er&comma; konnte er es nicht mehr länger ertragen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt redete Paula sehr freundlich mit ihm und meinte&comma; er hätte nur gleich kommen und alles anzeigen sollen&period; Und es sei recht&comma; daß er ihr jetzt alles so aufrichtig gesagt habe&comma; er solle es nicht bereuen&period; Dann sagte sie&comma; dem Jörgli könne er zehn Franken versprechen&comma; wenn sie das Kreuz wieder in Händen habe&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Zehn Franken&quest;" wiederholte Moni voller Erstaunen&period; Denn er wußte ja&comma; daß Jörgli es hatte verkaufen wollen&period; Jetzt stand Moni auf und sagte&comma; er wollte noch heute nach Küblis hinunter&comma; und wenn er das Kreuz bekäme&comma; es gleich morgen früh mitbringen&period; Nun lief er davon und konnte wieder ganz große Sprünge machen&comma; er hatte wieder ein viel leichteres Herz&comma; das schlechte Gewissen belastete ihn nicht mehr&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Daheim stellte er nur seine Geiß in den Stall&comma; sagte der Großmutter&comma; er habe noch einen Auftrag auszurichten und rannte gleich nach Küblis hinunter&period; Er fand den Jörgli daheim und sagte ihm&comma; was er getan hatte&period; Der war erst sehr aufgebracht&comma; aber als er nun erfuhr&comma; daß alles bekannt sei&comma; zog er das Kreuz heraus und fragte&colon; "Gibt sie mir auch etwas dafür&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ja&comma; jetzt kannst du sehen&comma; Jörgli"&comma; sagte Moni entrüstet&comma; "auf dem ehrlichen Weg hättest du gleich zehn Franken bekommen und auf deinem Lügenweg doch nur vier&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Jörgli war sehr überrascht&period; Jetzt reute es ihn&comma; daß er nicht gleich mit dem Kreuz ins Badehaus gegangen war&comma; nachdem er es vor der Tür aufgelesen hatte&period; Denn er hatte doch nun kein gutes Gewissen und hätte es anders haben können&period; Aber jetzt war's zu spät&period; Er übergab das Kreuz dem Moni&comma; und dieser eilte damit heim&comma; es war draußen schon dunkel geworden&period;<&sol;p>

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