Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Vom This, der doch etwas wird
(Johanna Spyri, 1886, empfohlenes Alter: ab 10 Jahre)

Alle gegen einen

<p>Wenn man den Seelisberg von der Rückseite her besteigt&comma; kommt man auf eine frische&comma; grüne Wiese&period; Man bekommt fast Lust&comma; sich dort unter die friedlich weidenden Tiere zu mischen und auch einmal ein wenig von dem schönen&comma; weichen Gras zu kosten&period; Die sauberen&comma; wohlgenährten Kühe ziehen lieblich läutend immer hin und her&period; Denn jede trägt am Hals ihre Glocke&comma; damit man immer hört&comma; wo sie ist&period; So kann sich keine Kuh unbemerkt dorthin verlaufen&comma; wo die von Sträuchern bedeckte Felswand liegt&comma; über die sie hinunterstürzen könnte&period; Es ist außerdem ein ganzes Rudel Buben dort&comma; die schon acht geben können&period; Aber die Glocken sind doch notwendig und tönen so freundlich hin und her&comma; daß keiner sie entbehren möchte&period; Am Bergabhang stehen hie und da vereinzelt die kleinen&comma; hölzernen Häuser&comma; und nicht selten rauscht daneben ein schäumender Bach ins Tal hinab&period; 'Am Berghang' heißt es hier oben und mit Recht&comma; denn nicht eines der Häuschen steht auf ebenem Boden&period; Es ist&comma; als wären sie irgendwie an den Berg hingeworfen worden und da hängengeblieben&period; Man begreift gar nicht&comma; wie sie da oben an den Hang hingebaut werden konnten&period; Vom Weg unten sehen sie alle gleich nett und freundlich aus mit den offenen Galerien und der kleinen&comma; hölzernen Treppe am Haus&period; Steigt man aber hinauf und kommt in ihre Nähe&comma; so sieht man&comma; daß ein großer Unterschied zwischen ihnen ist&period; Gleich die zwei ersten am Hang sehen in der Nähe ganz verschieden aus&period; Sie stehen nicht weit voneinander&comma; und zwischen ihnen stürzt der größte Bergbach der Gegend&comma; der schäumende Schwemmebach&comma; hinunter&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Am ersten Häuschen blieben auch an den schönsten Sommertagen alle die kleinen Fenster immer fest geschlossen&comma; und die einzige Luft&comma; die hineindrang&comma; kam durch die Löcher der zerbrochenen Scheiben&period; Das war aber nicht viel&comma; denn die Löcher waren wieder mit Papier verklebt&comma; damit man im Winter drinnen nicht frieren mußte&period; An dem hölzernen Treppchen waren die Stufen alle halb abgebrochen&period; Und die Galerie war so zerfallen&comma; daß es ein Wunder war&comma; daß alle die kleinen Kinder&comma; die da herumrutschten und stolperten&comma; nicht Arme und Beine brachen&period; Sie hatten jedoch alle gesunde Glieder&comma; aber recht unsaubere&period; Die Kinder waren alle mit Schmutz überdeckt&comma; und ihre Haare hatten noch nie einen Kamm gesehen&period; Vier dieser kleinen Schlingel krochen den Tag über da herum&comma; und am Abend kamen vier größere Kinder dazu&period; Drei kräftige Buben und ein Mädchen&comma; die auch nicht besonders sauber und ordentlich aussahen&comma; aber doch ein wenig besser als die Kleinen&period; Denn sie konnten sich doch schon selbst waschen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Häuschen über dem Bach drüben hatte einen ganz anderen Charakter&period; Da sah es schon unten vor der kleinen Treppe so sauber und aufgeräumt aus&comma; als sei der Erdboden ein ganz anderer als dort drüben&period; Die Stufen sahen immer so aus&comma; als wären sie eben gescheuert worden&period; Und oben auf der Galerie standen drei schöne Nelkenstöcke und dufteten den ganzen Sommer lang ins Fenster hinein&period; Eines von den kleinen&comma; hellen Fenstern stand offen und ließ die schöne&comma; sonnige Bergluft herein&period; Dort konnte man meistens eine noch kräftig aussehende Frau sitzen sehen&comma; mit schönem&comma; weißem Haar&comma; das sie sehr ordentlich unter das schwarze Häubchen zurückgestrichen hatte&period; Sie flickte gewöhnlich an einem Männerhemd aus grobem&comma; festem Stoff&comma; das aber immer sauber gewaschen war&period; Die Frau selbst sah auch in ihrem einfachen Gewand so adrett und reinlich aus&comma; als wäre noch nie etwas Unsauberes an sie herangekommen&period; Es war Frau Vizenze&comma; die Mutter des jungen Sennen&comma; des fröhlichen Franz Anton mit den kräftigen Armen&period; Der machte den Sommer über in der oberen Sennhütte seine Käse&comma; und erst im Spätherbst zog er wieder zur Mutter herunter&comma; um den Winter bei ihr zu verbringen&period; Denn dann butterte er in der unteren Sennhütte&comma; die ganz nahe lag&period; Da über den reißenden Schwemmebach kein Steg führte&comma; waren die zwei Häuschen ganz getrennt&period; Und Frau Vizenze kannte Leute&comma; die viel weiter weg wohnten&comma; besser&comma; als diese Nachbarn über dem Bach&comma; zu denen sie nur etwa einmal am Tag stumm hinüberschaute&period; Gewöhnlich schüttelte sie dann in bedenklicher Weise den Kopf&comma; wenn sie die schwarzen Gesichter und schmutzigen Fetzen drüben an den Kindern sah&period; Sie schaute aber nicht oft hinüber&comma; denn der Anblick gefiel ihr nicht&period; Lieber betrachtete sie&comma; wenn das Feierabendstündchen kam&comma; ihre roten Nelken auf der Galerie oder sie schaute über den grünen&comma; sonnigen Abhang hinunter&comma; der vor ihrem Häuschen zum Tal hinabstieg&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die verwilderten Kinder über dem Bach gehörten dem Hälmli-Sepp&comma; wie er genannt wurde&comma; der seine Arbeit außer Haus beim Holzfällen oder Heumachen suchte&period; Außerdem trug er auch Lasten den Berg hinauf&period; So war er meistens unten im Tal oder auf den Wegen in der Umgebung&period; Die Frau hatte genug daheim zu tun&period; Aber sie schien anzunehmen&comma; so viele kleine Kinder könne man nicht in Ordnung halten&comma; und später würde es dann von selbst besser&period; So ließ sie alles gehn&comma; wie es ging&period; Und in der schönen&comma; reinen Luft blieben sie auch alle gesund und munter und ließen sich's&comma; auf dem Grasboden herumrutschend und krabbelnd&comma; wohl sein&period; Zur Sommerzeit waren die vier Größeren den ganzen Tag draußen&comma; um die Kühe zu hüten&period; Denn da geht es nicht zu wie auf den Hochalmen&comma; wo die ganze Herde zusammen weidet und nur von einem oder zwei Hirten bewacht wird&period; Die Leute vom Berghang schickten ihre Kühe auf das umliegende Weideland hinaus und mußten sie hüten lassen&period; Das ist immer eine lustige Zeit für die Buben und Mädchen&comma; die sich dort zu jeder Tageszeit zusammenfinden und allerlei fröhliche Sachen miteinander unternehmen&period; Manchmal waren die Kinder auch weiter unten im Tal bei der Kartoffelernte&comma; oder sie verrichteten andere leichtere Arbeiten auf den Feldern&period; So verdienten sie dann den ganzen Sommer über ihren Unterhalt und brachten noch manches Geldstück nach Hause&comma; das die Mutter gut brauchen konnte&period; Sie hatte ja immer noch die vier Kleinen zu ernähren und für alle acht die Kleider zu beschaffen&period; Wenn diese auch noch so einfach waren&comma; ein Hemdlein mußte doch jedes haben und die vier Großen noch ein Stück dazu&period; Eine Kuh hatte der Hälmli-Sepp auch nicht&comma; wie fast alle Bauern um ihn herum eine besaßen&comma; wenn sie auch noch so wenig Land dazu hatten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Hälmli-Sepp hieß der Mann deshalb&comma; weil die Halme auf seinem Besitztum nicht dick genug waren&comma; um eine Kuh zu erhalten&period; Er hatte nur eine Geiß und ein Stück Kartoffelland&comma; damit mußte die Frau mit den vier Kleinen den Sommer über auskommen und auch hier und da noch eines der Größeren speisen&comma; wenn es draußen keine Arbeit fand&period; Der Vater kam im Winter wohl dann und wann heim&comma; aber er brachte wenig mit&comma; denn sein Häuschen und Acker waren so verschuldet&comma; daß er das ganze Jahr über etwas abzuzahlen hatte&period; Sobald er nur wieder ein wenig Lohn behalten konnte&comma; kam einer&comma; dem er etwas schuldig war und nahm ihm weg&comma; soviel er fand&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So mußte die Frau mit den Kindern oft hungern&period; Sie selbst konnte keine Ordnung im Haus halten&comma; und die Arbeit ging ihr nie so recht von der Hand&period; Sie konnte auch manchmal eine ganze Zeitlang auf der verfallenen&comma; kleinen Galerie stehenbleiben&period; Anstatt zu arbeiten&comma; schaute sie über den Bach zu dem schmucken Häuschen der Sennerin hinüber&comma; dessen Scheiben in der Sonne glänzten&period; Dann sagte sie ärgerlich vor sich hin&colon; "Ja&comma; die dort kann schon putzen und alles sauberhalten&comma; die hat sonst nichts zu tun&comma; aber unsereiner&period;" Dann ging sie wieder ärgerlich in die dumpfe&comma; trostlose Stube zurück&comma; und an dem&comma; der ihr zuerst in den Weg kam&comma; ließ sie den Ärger aus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das traf nun meistens einen Buben von zehn oder elf Jahren&comma; der nicht ihr eigener war&comma; aber schon seit seiner Geburt im Häuschen vom Hälmli-Sepp wohnte&period; Dieser kleine Bursche&comma; von jedermann nur 'der dumme This' genannt&comma; sah so mager und dürftig aus&comma; daß man ihn kaum für achtjährig gehalten hätte&period; Er schaute auch so scheu und verschüchtert drein&comma; daß niemand wußte&comma; wie der This eigentlich aussah&comma; denn er blickte immer furchtsam auf den Boden&comma; wenn man zu ihm sprach&period; This hatte nie eine Mutter gekannt&period; Sie war gestorben&comma; als er kaum zwei Jahre alt war&period; Sein Vater war nicht viel später über die Felsen in die Tiefe gestürzt&comma; als er vom Heuholen in den Bergen herunterkam und den Weg abkürzen wollte&period; Seit dem Sturz war er lahm und konnte nichts mehr tun&comma; als kleine Matten zusammenflechten&comma; die er in dem großen Gasthof oben auf dem Seelisberg verkaufte&period; Der kleine This hatte seinen Vater nie anders gesehen&comma; als auf einem Schemel sitzend&comma; eine Strohmatte auf den Knien&period; Alle Leute hatten ihn den lahmen Matthis genannt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Schon seit sechs Jahren war er tot&comma; und da er im Häuschen vom Hälmli-Sepp eine kleine Kammer als Schlafstätte mit seinem Büblein gemietet hatte&comma; blieb dieser nach des Vaters Tod gleich an demselben Ort&period; Das wenige Geld&comma; das für den kleinen This von der Gemeinde bezahlt wurde&comma; war der Frau des Hälmli-Sepp sehr erwünscht&period; Und in die Kammer konnte sie nun noch zwei von ihren Buben stecken&comma; für die schon lange fast kein Platz zum Schlafen mehr da war&period; Der kleine This war schon von Natur aus ein schüchternes und stilles Büblein gewesen&period; Seinem Vater&comma; der erst seine Frau verloren&comma; dann das große Unglück gehabt hatte&comma; war aller Lebensmut vergangen&period; Und hatte er vor seinem Unglück wenig geredet&comma; so sagte er nun fast gar nichts mehr&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So saß der kleine This ganze Tage lang neben seinem Vater&comma; ohne ein Wort zu hören&comma; und so lernte er auch lange keines sagen&period; Als er dann seinen Vater verloren hatte und nun ganz zu der Familie des Hälmli-Sepp gehörte&comma; da redete er fast gar nicht mehr&comma; denn er wurde von jedem angefahren und hin und her gestoßen&comma; weil er sich nie wehrte&period; Zu all den Püffen&comma; die er von den Kindern auszustehen hatte&comma; kamen dann noch die bösen Worte der Frau&comma; wenn sie den Ärger über das saubere Häuschen der Sennerin drüben hatte&period; Der This wehrte sich aber nie&comma; denn er hatte das Gefühl&comma; die ganze Welt sei gegen ihn&comma; und so nutze doch alles nichts&period; Nach und nach wurde der Bub so scheu und verschüchtert&comma; daß man glaubte&comma; als merke er kaum&comma; was um ihn her vorging&period; Und meistens gab er auch gar keine Antwort&comma; wenn man ihn anrief&period; Er sah überhaupt immer so aus&comma; als suche er nach einem Loch&comma; wo er in die Erde hineinkriechen könnte&comma; daß ihn keiner mehr fände&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So war es gekommen&comma; daß die vier Großen vom Hälmli-Sepp&comma; der Jopp&comma; der Hans&comma; der Ulli und Lisi das schon manchmal zu ihm gesagt hatten&colon; "Du bist doch ein dummer This"&comma; und daß es die vier Kleinen auch nachsagten&comma; sobald sie nur reden konnten&period; Da sich der This niemals dagegen wehrte&comma; so hatten nach und nach alle Leute angenommen&comma; es werde wohl so sein&comma; und er wurde weit und breit nur noch 'der dumme This' genannt&period; Es war auch so&comma; als ob der This nicht arbeiten könnte&comma; wie die andern es taten&period; Sollte er helfen&comma; die Kühe zu hüten&comma; und war er mit all den anderen Buben zusammen&comma; so suchte er gleich eine Hecke oder einen Busch auf&comma; um sich dahinter zu verstecken&period; Da saß er meistens zitternd vor Furcht&comma; denn er hörte wohl&comma; wie die anderen Buben ihn mit großem Geschrei suchten&comma; daß er bei den Spielen mitmachte&comma; die sie spielen wollten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Diese Spiele endeten aber immer mit vielem Prügeln&comma; und das traf regelmäßig den This am stärksten&comma; da er sich nicht wehrte und auch nicht wehren konnte gegen die viel Stärkeren&period; So verkroch er sich&comma; sobald er konnte&comma; und inzwischen liefen seine Kühe&comma; wohin sie wollten und fraßen auf der Weide der Nachbarn&period; Das gab dann großen Ärger&comma; und jeder fand&comma; der This sei zu dumm&comma; um nur die Kühe zu hüten&comma; und keiner stellte ihn mehr an&period; Ebenso ging es bei den Arbeiten auf dem Feld&comma; wenn die Buben zum Jäten auf die Kartoffelfelder gehen sollten&period; Da warfen sie sich mit Vorliebe die Knollen der Kartoffelblüten an den Kopf&comma; schon damit die Zeit etwas schneller vergehe&period; Und jeder gab dem anderen reichlich zurück&comma; was er empfangen hatte&period; Der This gab aber nichts zurück&comma; sondern scheu und furchtsam schaute er nach allen Seiten&comma; von woher er getroffen werde&period; Das war gerade&comma; was die anderen gern wollten&period; Und so flogen ihm unter vielem Lachen von allen Seiten die Knollen an den Rücken und an den Kopf&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Während aber die anderen Zeit hatten&comma; dazwischen zu arbeiten&comma; versuchte der This nur immer auszuweichen und sich hinter den Kartoffelstauden zu verstecken&period; So war es auch mit dieser Arbeit nichts&comma; und jung und alt waren sich einig&comma; der This sei zu aller Arbeit zu dumm und aus dem This könne nie etwas werden&period; Weil er nun gar nichts verdienen und ja auch nie etwas werden konnte&comma; so wurde er auch von der Frau des Hälmli-Sepp demgemäß behandelt&period; Wenn schon die eigenen vier kleinen Kinder kaum genug zu essen hatten&comma; so geschah es meistens&comma; daß für den This gar nichts mehr übrigblieb und es dann hieß&colon; "Du wirst wohl etwas finden&comma; du bist groß genug&period;" Wie der This eigentlich ernährt wurde&comma; wußte niemand&comma; auch die Frau des Hälmli-Sepp nicht&comma; aber irgendwie lebte er doch immer&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Dem schmalen&comma; mageren Buben gab schon hier und da eine gute Frau einen Brocken Brot oder eine Kartoffel&comma; wenn er still an ihrer Tür vorbeiging&period; Betteln ging der This aber nicht&period; Satt hatte er sich in seinem Leben noch nie gegessen&period; Aber das war ihm nicht so schrecklich wie die Verfolgungen und das Auslachen der Buben&comma; vor denen er immer scheuer wurde und sich immer mehr versteckte&period;<&sol;p>

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