Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Vom This, der doch etwas wird
(Johanna Spyri, 1886, empfohlenes Alter: ab 10 Jahre)

Ein hilfreicher Engel

<p>Der Tag darauf war ein Sonntag&period; Die Kinder&comma; die an der Halde wohnten&comma; mußten nach Beckenried hinunter zur Kirche&period; Trotz des langen Weges gingen die Kinder jeden Sonntag zum Religionsunterricht&comma; denn der Herr Pfarrer hielt fest an der alten Ordnung&period; So kam eben jetzt die ganze Schar den Berghang herunter&comma; und bald saßen sie alle mit anderen Kindern so ruhig wie möglich auf den langen Bänken&comma; und der Herr Pfarrer konnte beginnen&period; Er sagte&comma; er habe ihnen das letztemal von einem zukünftigen Leben gesprochen&comma; und da sein Blick eben auf den This fiel&comma; fuhr er fort&colon; "Ich will dich auch einmal wieder etwas fragen&comma; das wirst du wohl beantworten können&comma; wenn man dir auch nicht viel zutrauen kann&period; Sag mir&colon; Wo wird es denn einmal auch dem Ärmsten und Geringsten unter uns&comma; wenn er ein frommes Leben geführt hat&comma; so wohl werden&comma; daß er kein Leid verspürt&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Bei der Schwemmebachsennhütte"&comma; antwortete der This ohne Zögern&period; Jetzt entstand ein solches Kichern&comma; daß der This ganz scheu um sich schaute&period; Ringsum waren spöttische Blicke auf ihn gerichtet&comma; und alle Kinder wollten vor verhaltenem Lachen ersticken&period; Der This beugte sich so stark vornüber&comma; als wollte er in den Boden hineinkriechen&period; Von dem&comma; was der Herr Pfarrer das letztemal erklärte&comma; hatte er nichts gehört&comma; weil er sich immer gegen heimliche Angriffe wehren mußte&period; Jetzt hatte er auf die Frage ganz nach seiner eigenen Erfahrung geantwortet&comma;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Herr Pfarrer schaute ihn fest an&period; Als er aber sah&comma; daß es dem This gar nicht zum Lachen war&comma; sondern daß er vor Scheu ganz erschrocken und zusammengeduckt dasaß&comma; da schüttelte der Herr Pfarrer nur ganz bedenklich den Kopf und sagte&colon; "Es ist nichts mit ihm zu machen&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Als aber die Religionsstunde zu Ende war&comma; da stürzte die ganze Schar hinter dem This her&comma; alle lachten überlaut und schrien durcheinander&colon; "This&comma; sind dir auf einmal in der Kirche die Käsfische in den Sinn gekommen&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"This&comma; warum hast du nicht auch etwas von den Käsfischen gesagt&quest;" Der This lief wie ein gejagtes Kaninchen davon&comma; um nur endlich dem Geschrei zu entfliehen&comma; rannte keuchend den Berghang hinauf&period; Oben wurde er nun nicht mehr verfolgt&period; Denn die anderen wollten den schönen Sonntagabend unten im Dorf genießen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der This lief immer weiter hinauf&period; Er hatte bei allem Leid jetzt einen Trost im Herzen&period; Er konnte zur Schwemmebachsennhütte hinaufflüchten und dort das freundliche Gesicht des Franz Anton sehen&period; Ganz still konnte er dort an seinem verborgenen Plätzchen sitzen und vor Verfolgung sicher sein&period; Nun saß er wieder unter den Tannen und über ihm sang der Vogel sein Lied&period; Die Schneeberge glitzerten in der Sonne&comma; und über den grünen Hängen floß da und dort ein klares Bächlein friedlich ins Tal hinab&period; Dem This wurde es so wohl&comma; daß er allen Spott vergaß und nur den einzigen Wunsch empfand&comma; gar nicht mehr weggehen zu müssen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Von Zeit zu Zeit erblickte er auch den Franz Anton&comma; nach dem er beständig ausschaute&period; Dann duckte er sich aber so tief wie möglich nieder&period; Denn er hatte das Gefühl&comma; wenn der Franz Anton ihn wieder hier sehe&comma; so könnte er meinen&comma; er sei gekommen&comma; um wieder ein Butterbrot zu bekommen&period; Und er kam doch nur&comma; weil er der erste und einzige Mensch war&comma; der freundlich und liebevoll zu ihm gewesen&comma; und in dessen Nähe es ihm so wohl und sicher zumute war&comma; wie sonst nirgends auf der Welt&period; Der Senn entdeckte ihn auch heute nicht&comma; und This saß an seinem schönen Plätzchen&comma; bis die Sterne am Himmel standen und der Franz Anton wieder wie gestern vor seine Hütte hinaustrat und ausrief&colon; "Gute Nacht geb euch Gott&excl;" Dann erst lief der This wieder davon&comma; und spät wie gestern kam er auf sein Lager&comma; diesmal recht hungrig&comma; denn seit dem Morgen hatte er ja nichts mehr gegessen&period; Aber das war dem Buben heute ganz gleich&comma; er hatte sich ja so wohl gefühlt dort oben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So ging es eine ganze Woche&period; Tag für Tag&comma; sobald er einen Augenblick fand&comma; da niemand ihn sehen und vermissen konnte&comma; lief der This die Alm hinauf und setzte sich unter seine Tannenzweige&period; Von da beobachtete er die ganze Tätigkeit des Sennen von einer Minute zur anderen&period; Und nie verließ er seinen friedlichen Aufenthalt&comma; bis der Franz Anton gesagt hatte&colon; "Gute Nacht geb euch Gott&excl;" Es war ihm jetzt immer&comma; als sei der Nachtsegen auch für ihn gedacht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es waren ausnahmsweise heiße Tage&period; An dem wolkenlosen Himmel stieg jeden Morgen die Sonne wieder so hell empor&comma; wie sie am Abend niedergegangen war&period; Das Futter war besonders kräftig&comma; und Franz Anton bekam so schöne&comma; fette Milch von den Alpenkühen&comma; daß er die prächtigsten Käse daraus herstellen konnte&period; Das machte ihm Freude&comma; und schon frühmorgens konnte man ihn voller Vergnügen in seiner Sennhütte pfeifen hören&comma; so auch am Samstag dieser Woche&period; Da hörte man ihn noch viel früher als sonst&comma; denn es war einer der Tage&comma; an dem der Senn seine drei oder vier fertigen Käse an den See hinunterbrachte&period; Dort wurden sie in eines der Schiffe verladen&period; Bald hatte er sie auf seinem Rücken festgebunden und wanderte nun wohlgemut talabwärts&comma; den dicken Bergstock in der Hand&comma; die schwere Last auf dem Rücken&period; Es war der heißeste Tag des ganzen Sommers&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Je weiter hinunter er gelangte&comma; je mehr plagte ihn die übermäßige Hitze&comma; und oft sagte er zu sich&colon; "O wie will ich froh sein&comma; heute abend wieder zu meiner Hütte hinauf in die kühle Luft zu kommen&comma; hier unten ist's wie in einem Backofen&period;" Jetzt war er unten angelangt&comma; gerade als das Schiff herankam&comma; das die Käse mitnehmen sollte&period; Bald war alles verladen&comma; und Franz Anton stand einen Augenblick unschlüssig da&comma; ob er gleich wieder den Berg hinaufsteigen&comma; oder erst hier unten etwas zu sich nehmen wollte&period; Aber er fühlte keinen Appetit&comma; sein Kopf war schwer und heiß&comma; er wünschte sich nur hinaufzukommen&period; Da zog ihn jemand am Arm&period; Es war einer der Schiffsangestellten&comma; der eben beim Einladen geholfen hatte&period; "Komm&comma; Franz Anton&comma; heute ist's heiß&comma; wir wollen ein Glas Wein im Schatten trinken"&comma; sagte er und zog den Senn zu dem Wirtshaus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Franz Anton war durstig und weigerte sich nicht&comma; hier ein wenig im Schatten zu sitzen&period; Er trank sein Glas in einem Zug aus&period; Dann aber stand er bald auf und sagte&comma; es werde ihm ganz unwohl hier unten in der schweren&comma; heißen Luft und er sei an kalte Milch und Wasser&comma; nicht an den Wein gewöhnt&period; Damit verabschiedete er sich und ging mit großen Schritten auf den Berghang zu&period; Aber so schwer war ihm das Steigen in seinem Leben noch nie gefallen&period; Die Mittagsonne brannte heiß auf seinen Kopf&comma; alle seine Pulse hämmerten&comma; die Füße wurden ihm so schwer&comma; daß er sie nur mit Mühe heben konnte&period; Je steiler die Alm wurde&comma; je größer wurden seine Schritte&period; Und er spornte sich selbst mit der Aussicht an&comma; daß nur noch eine Stunde&comma; dann nur noch eine halbe&comma; jetzt nur noch eine Viertelstunde heißer Mühe vor ihm liege&period; Dann würde er oben sein und könne sich zum Ausruhen auf das frische Heu werfen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jetzt war er am letzten steilen Aufstieg angekommen&period; Die Sonne brannte wie Feuer auf seinen Kopf&period; Plötzlich wurde es ihm völlig schwarz vor den Augen&comma; er schwankte&comma; und schwer stürzte er auf den Boden nieder&period; Er hatte das Bewußtsein verloren&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als am Abend der Melker mit seiner Milch in die Stube trat&comma; sah er&comma;&nbsp&semi;daß der Franz Anton noch nicht zurückgekehrt war&period; Er stellte seine&nbsp&semi;Milch in eine Ecke und ging fort&period; Er dachte nicht daran&comma; nach dem&nbsp&semi;Senn auszuschauen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war aber noch jemand da oben&comma; der hatte schon lange auf den Franz Anton gewartet&comma; das war der This&period; Schon seit ein paar Stunden hatte er an seinem verborgenen Plätzchen gesessen&period; Er kannte jeden Schritt&comma; den der Senn tat&period; Er wußte&comma; wie eine Beschäftigung auf die andere folgte&comma; so daß er sich nicht genug wundern konnte&comma; wie lange heute der Franz Anton seine Milch stehen ließ&period; Sonst goß er sie immer gleich in die verschiedenen Gefäße&period; Die eine kam zum Buttern in die großen&comma; runden Becken&comma; wo sie stehenblieb&comma; bis aller Rahm schön dick obenauf lag&period; Die andere wurde in den Käsekessel gegossen&comma; das hatte der This durch die offene Hüttentür alles genau beobachten können&period; Der Senn kam immer noch nicht&period; Der Junge fühlte&comma; daß irgend etwas geschehen sein mußte&period; Er kam jetzt leise aus seinem Versteck heraus und ging zur Sennhütte&period; Da war es still und leer unten im Hüttenraum und oben auf dem Heuboden&period; Kein Feuer prasselte unter dem Kessel&comma; kein Laut war zu hören&comma; alles wie ausgestorben&period; Ängstlich lief der This jetzt um die Hütte herum&comma; einmal hinunter&comma; dann wieder herauf und dann in einer anderen Richtung wieder hinab&period; Jetzt auf einmal—dort unten erblickte er den Franz Anton&comma; der am Boden lag&period; This sprang hinzu—da lag sein Freund mit geschlossenen Augen und stöhnte und lechzte wie ein Sterbender&period; Er sah glühend heiß aus&comma; und seine Lippen waren ganz vertrocknet&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der This stand einen Augenblick still und starrte&comma; bleich vor Schrecken&comma; auf seinen Wohltäter&period; Dann stürzte er in schnellem Lauf den Berg hinunter&period; Franz Anton hatte viele Stunden lang bewußtlos am Boden gelegen&period; Ein schreckliches Fieber hatte ihn ergriffen&period; Er litt an einem verzehrenden Durst&period; Von Zeit zu Zeit kam es ihm in seinem brennenden Verlangen vor&comma; er komme zum Wasser und wolle sich bücken und trinken&period; Und von der Anstrengung erwachte er für einen Augenblick&comma; denn es war nur ein Fiebertraum gewesen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Er lag immer noch auf dem Boden und konnte sich nicht rühren&period; Vergebens lechzte er nach einem Tropfen Wasser&period; Dann schwand ihm das Bewußtsein wieder&comma; und er träumte&comma; er liege unten im Sumpfloch&comma; wo er heute früh im Vorübergehen noch die schönen Erdbeeren gesehen hatte&period; Da standen sie noch&period; Oh&comma; wie sehnte er sich danach&excl; Er wollte die Hand ausstrecken&comma; aber vergeblich&comma; er konnte keine greifen&period; Aber jetzt hatte er plötzlich eine im Mund&period; Ein Engel kniete da und hatte sie ihm gegeben—und noch eine und noch eine&period; Oh&comma; wie tat ihm der Saft gut in dem ausgetrockneten Gaumen&excl; Der Franz Anton schlürfte und schluckte&comma; es war ein unsägliches Labsal&period; Er erwachte&period; War das alles Wirklichkeit&quest; Es war kein Traum&period; Da kniete neben ihm der Engel und steckte ihm wieder eine große saftige Erdbeere in den Mund&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"O du guter Engel&comma; noch eine"&comma; sagte leise der Franz Anton&period; Aber nicht nur eine&comma; fünf&comma; sechs steckte ihm der Engel in den Mund&period; Auf einmal flog ein stechender Schmerz über sein Gesicht&period; Er legte die Hand an die Stirn und konnte nur noch leise sagen&colon; "Wasser"&comma; dann war ihm das Bewußtsein wieder völlig entschwunden&period; Er konnte nicht einmal mehr die letzte Erdbeere genießen&period; Jetzt träumte er ganz schreckliche Dinge&period; Sein Kopf wurde so groß wie sein allergrößtes Butterfaß und dann immer noch größer und so furchtbar schwer&comma; daß er mit Schrecken dachte&colon; "Den kannst du nie mehr allein tragen&comma; man muß starke&comma; hölzerne Stützen unterstellen&comma; wie unter die Apfelbäume&comma; wenn sie zuviel Äpfel tragen&period;" Und jetzt fühlte er deutlich&comma; daß der Kopf ganz voll Schießpulver war&comma; das hatte einer von hinten angezündet&period; Nun brannte es da drinnen wie loderndes Feuer&comma; und gleich mußte alles zerspringen&period; Aber dann kam plötzlich ganz kalt und belebend der Schwemmebach über seine Stirn&comma; über das ganze Gesicht und in den Mund hineingeflossen&comma; und Franz Anton schluckte und schluckte und erwachte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war wahr&comma; eiskalt kam ein Guß nach dem anderen auf Stirn und Gesicht&period; Dann kam etwas an seinen Mund&comma; und er schlurfte gierig den kühlenden Trank ein&period; Über ihm standen die funkelnden Sterne&comma; das sah der Franz Anton deutlich&period; Er wußte auch&comma; daß er noch am Boden lag draußen auf der freien Alm&period; Aber das konnte doch nicht der Schwemmebach sein&comma; was so über ihn floß und ihn so ordentlich trinken ließ&period; Er konnte nicht begreifen&comma; was es war&comma; aber es war so wohltuend&comma; so erlösend von dem schweren Traum und dem schrecklichen Feuer&period; Voller Dank sagte er nur halblaut&colon; "Ach&comma; lieber Gott&comma; wie danke ich dir für deine Güte und die hilfreichen Engel&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>Das erquickende Wasserbad hörte nicht auf&comma; und zuletzt fühlte der Franz Anton eine kalte Masse auf seiner Stirn&comma; so schützend und wohltuend&comma; daß er sagte&colon; "Da kann kein Feuer mehr durch&period;" Und beruhigt schlief er jetzt ganz sanft ein und träumte nicht mehr&period;<&sol;p>

«

»