Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Was die Großmutter gelehrt hat
(Johanna Spyri)

In den Erdbeeren

<p>Während die alte Käthe so gedankenverloren erst an ihrem Spinnrad und dann in der Dämmerung saß&comma; ging es oben am Sonnenrain ziemlich laut zu&period; Hier wuchs jedes Jahr eine Fülle der schönsten&comma; saftigsten Erdbeeren&period; Wenn sie reif waren&comma; schien es oft&comma; als ob ein großer&comma; dunkelroter Teppich vom Sonnenrain herunterhinge&comma; der in der Sonne glühte&period; Der Platz war den Kindern von Hochtannen&comma; wie das kleine&comma; aus zerstreuten Häusern bestehende Bergdörfchen hieß&comma; wohlbekannt&period; Sie wußten auch recht gut&comma; daß&comma; wenn man die Beeren ausreifen ließ&comma; ein schöner Gewinn damit zu erzielen war&period; Denn diese ungewöhnlich großen&comma; saftigen Beeren wurden überall gern gekauft&period; So gaben die Kinder selbst acht aufeinander&comma; daß nicht etwa die einen zu früh die Beeren holten&comma; bevor sie die rechte Reife erlangt hatten&period; Erscholl aber an einem schönen Junitag unter den Schulkindern der Ruf&colon; "Sie sind reif am Sonnenrain&excl; Sie sind reif&excl;"&comma; dann stürzte noch an demselben Abend die ganze Schar hinaus zum Sonnenrain&period; Jedes Kind hatte einen Korb in der Hand&comma; und sie liefen&comma; so schnell sie konnten&comma; denn jedes wollte zuerst auf dem Platz sein und die schönsten und reifsten Beeren finden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die mitgebrachten&comma; Körbe&comma; Kratten genannt&comma; hatten alle dieselbe Form&comma; aber verschiedene Größen&period; Sie hatten die Form von Zylinderhüten&comma; mit dem Unterschied&comma; daß bei diesen die Öffnung unten ist&comma; wo der Kopf hineingesteckt wird&comma; bei jenen aber oben&comma; wo die Erdbeeren hineingeworfen werden&period; Wenn dann die Dämmerung gekommen war und man die Beeren nicht mehr sehen konnte&comma; wurde die Arbeit beendet&period; Dann deckte man die Kratten mit großen Blättern zu und befestigte zwei hölzerne Stäbchen kreuzweise darüber&comma; damit der Wind die Blätter nicht entführe&period; Nun stimmte man das Erdbeerlied an&comma; und voller Fröhlichkeit zog die ganze Schar heimwärts&period; Alle sangen aus vollen Kehlen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Erdbeeren rollen&comma;<br&sol;>Die Kratten all&comma; die vollen&comma;<br&sol;>Erdbeeren mit Stielen&comma;<br&sol;>Jetzt trägt man sie heim die vielen&comma;<br&sol;>Erdbeeren an Ästen&comma;<br&sol;>Die meinen sind die besten&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Am schnellsten und am fleißigsten aber von allen war die Enkelin der alten Waschkäthe&comma; das lustige Trini&period; Immer wußte es&comma; wo die schönsten Beeren standen und wo noch am wenigsten gepflückt worden war&period; Dann schoß es dahin und rupfte mit einer Gewandtheit&comma; daß kein anderes Kind schneller war und die Langsamen in seiner Nähe gar nichts erwischten&period; Auf einen kleinen Stoß kam es dem Trini dabei auch nicht an&comma; wenn ihm eine schöne Stelle besonders ins Auge fiel&comma; wo schon ein anderes Kind Beeren sammelte&period; Niemals aß es von den Früchten&comma; bis sein Kratten so voll war&comma; daß es eben noch die hölzernen Stäbchen über den Blättern festmachen konnte&comma; ohne die zarten Früchte zusammen zu drücken&period; Erst dann kamen noch einige der süßduftenden Beeren in den Mund und schmeckten herrlich nach der harten Arbeit&period; Vorher hätten sie aber dem Trini gar nicht geschmeckt&comma; denn es war ihm&comma; als gehörten sie alle der Großmutter&comma; bis keine einzige Beere mehr in den Kratten hineinging&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Trini strengte sich sehr an&comma; für seine liebe Großmutter auch etwas zu tun&period; Es fühlte wohl&comma; wie aufopfernd und gut sie zu ihm war und wie hart sie immer noch arbeitete&comma; damit sie beide keinen Mangel leiden mußten&period; Es hatte auch sein Leben lang nie andere&comma; als liebevolle Worte von ihr gehört&period; Und wie oft hatte es gespürt&comma; daß sie viel lieber sich selbst als ihm etwas versagte&period; Dafür hing es auch mit dem ganzen Herzen an der Großmutter&comma; und mit ungeheurer Freude sah es die Beerenzeit wieder kommen&period; Dann konnte es täglich seinen vollen Kratten heimbringen oder ihn dahin tragen&comma; wohin er bestellt war&comma; um dann ein schönes Geldstück zu verdienen&period; Das war für die Großmutter eine große Einnahme&comma; die freilich nur eine kurze Zeit dauerte&period; Viel brachten aber nur die allergrößten Kratten ein&comma; und diese hatten das Trini und das kleine&comma; bleiche Maneli&period; Dieses konnte aber niemals seinen Kratten auch nur zur Hälfte füllen&period; Das Maneli&comma; das eigentlich Marianne hieß&comma; war mit Trini im gleichen Alter&period; Beide saßen auf derselben Schulbank&comma; aber sie sahen sehr verschieden aus&period; Trini war groß und stark und hatte feste&comma; runde Arme und rote Backen&period; Es fürchtete sich vor den größten Buben in der Schule nicht&comma; denn es wußte sich zu wehren&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Maneli aber war schmal&comma; blaß und sehr schüchtern&period; Es war ärmlich gekleidet und sah aus&comma; als bekomme es nie genug zu essen&comma; Das stimmte wohl auch&comma; denn es hatte noch fünf kleinere Geschwister und seine Mutter war oft krank&period; Der Vater&comma; der ein Tagelöhner war&comma; brachte nicht immer so viel heim&comma; daß es zu allem langte&period; Eben jetzt&comma; da die Dämmerung heranrückte&comma; hatte Trini das kraftlose Maneli mit einem heftigen Stoß auf die Seite geschoben&period; Denn es stand noch an einer Stelle&comma; die mit besonders großen Beeren bedeckt war&comma; und Trini wollte schnell seinen Kratten damit vollfüllen&period; Es gelang ihm auch&comma; und vor allen anderen rief es jetzt siegesgewiß&colon; "Voll&excl; Fertig&excl; Heim&excl; Heim&excl;" Nun riefen auch die anderen&colon; "Heim&excl; Heim&excl;" und schon hatte sich das Trini mit seinem vollen&comma; schön verpackten Kratten hingestellt&comma; um den Zug anzuführen&period; Mit heller Stimme begann es zu singen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Erdbeeren rollen&comma;<br&sol;>Die Kratten all&comma; die vollen…<&sol;p>&NewLine;<p>Als die Schar singend und jauchzend die ersten Häuser erreicht hatte&comma; stoben die Kinder plötzlich alle auseinander&comma; die einen aufwärts&comma; die anderen abwärts&period; Das Trini lief mit allen Kräften den Berg hinauf&comma; es hatte noch einen ziemlich langen Weg zu machen&period; Das Häuschen der Großmutter stand hoch oben und war das höchste von ganz Hochtannen&period; Jetzt kam das Trini am Hof der Goldäpfelbäuerin vorbei&period; Sie schaute eben über die Hecke&comma; die den Hof umschloß&comma; und als sie das Kind so vorbeirennen sah&comma; rief sie ihm zu&colon; "Komm doch einmal hierher und zeig mir deine Beeren&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>Das Trini war in seinem Eifer schon ein gutes Stück über die Stelle hinaus&comma; wo die Bäuerin stand&comma; aber es kam schnell zurück&comma; denn die Aussicht&comma; die Beeren gleich verkaufen zu können&comma; kam ihm sehr gelegen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Hast du auch etwas Rechtes&quest; Zeig her&excl;" fuhr die Bäuerin fort&comma; als das Trini an der Hecke stand und seinen Kratten zu ihr emporhob&period; "Ich kaufe sonst keine solche Ware&comma; es wächst Besseres auf meinem Hof&period; Aber man sagt&comma; eingekocht sei das Zeug gut gegen allerhand Übel&period; So gib's her&excl; Was geben sie dir unten im Wirtshaus für die Beeren&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Einen Franken"&comma; antwortete das Trini&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"So&comma; das ist auch genug für solches Beerenzeug&period; Aber du mußt's haben&comma; um deiner Großmutter willen&comma; das ist eine brave Frau&comma; die viel arbeitet&period; Du bringst ihr doch das Geld heim und machst keinen Firlefanz damit&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Nein&comma; das tue ich nicht"&comma; entgegnete das Trini&period; Es sah die Bäuerin mit Augen an&comma; die denen einer kleinen&comma; wilden Katze nicht unähnlich waren&comma; denn es ärgerte sich über diesen Verdacht&period; Die Bäuerin lachte und sprach&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>"Nur nicht gleich so aufgebracht&comma; so etwas kommt auch vor&period; Aber komm&comma; wir wollen wieder gut Freund sein&excl; Da&comma; das ist der Franken für die Großmutter&comma; und wenn ich dir noch einen Münze für dich gebe&comma; so wird's dir auch nicht leid sein&period; So&comma; jetzt lauf wieder&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>Das Trini dankte hocherfreut und lief davon&comma; hörte auch nicht zu rennen auf&comma; bis es oben beim Häuschen angekommen war&period; Jetzt stürmte es in die kleine Stube hinein&comma; wo es fast dunkel geworden war&period; Nur ein letzter&comma; lichter Streifen am Abendhimmel schimmerte noch in das Fenster hinein&comma; dort wo die Großmutter saß&period; Das Trini stürzte zu ihr hin und erzählte so eifrig von seinen Erlebnissen&comma; daß immer das zweite Wort vor dem ersten heraus wollte&period; Es dauerte ziemlich lange&comma; bis die Großmutter verstanden hatte&comma; daß die Erdbeeren schon verkauft seien und ein ganzer Franken und noch ein Geldstück dazu dafür bezahlt worden war&period; Auch den mußte die Großmutter nehmen&comma; das Trini wollte kein Geld behalten&comma; denn es sollte alles der Großmutter gehören&period; Daß sie heute noch ein Geldstück über das Gewöhnliche hinaus bekam&comma; machte dem Trini eine besondere Freude&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Ja&comma; Großmutter&comma; und siehst du"&comma; fuhr das Trini immer noch halb außer Atem fort&comma; "ich war vor allen anderen zuerst fertig und hatte doch den Kratten so voll wie kein anderes Kind&period; Das Maneli hatte seinen nicht halb voll&period; Es machte auch furchtbar langsam&comma; und wenn es an einem guten Platz war&comma; an den ich auch kam&comma; so hatte ich schon wieder alles weggerupft&comma; ehe es nur eine Handvoll erwischen konnte&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Die Großmutter hatte sich sehr über die guten Nachrichten und auch über den reichlichen Gewinn des Kindes gefreut&period; Aber jetzt sagte sie ernsthaft&colon; "Aber Trineli&comma; du stößt doch nicht etwa das Maneli weg&comma; wenn es einen guten Platz gefunden hat&comma; so daß du dann die Beeren bekommst&quest; Das wäre nicht recht&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Doch&comma; freilich&comma; das tue ich schon&comma; das tut man immer&comma; Großmutter"&comma; versicherte das Trini&period; "Es muß jedes sehen&comma; daß es die meisten und die schönsten erwischt&period; Daher geht es dann natürlich immer so rauh zu&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Nein&comma; nein&comma; das mußt du mit dem kleinen&comma; schwachen Maneli nicht mehr tun"&comma; mahnte die Großmutter&period; "Siehst du&comma; es kann nicht neben dir aufkommen&comma; es ist kraftlos und kann sich nicht wehren&comma; und seine Mutter hätte die Beeren nötig&period; Sie weiß gewiß manchmal nicht&comma; wo sie für alle die kleinen Kinder Brot hernehmen soll&period; Tue das nicht mehr&comma; Trineli&comma; laß das arme Kleine ein andermal auch zu seinen Beeren kommen&period; Aber jetzt setz dich zu mir her"&comma; fuhr die Großmutter in einem anderen Ton fort&comma; "ich habe etwas mit dir zu reden&comma; du bist vernünftig genug&comma; um es zu verstehen&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Neugierig setzte sich das Kind hin&comma; denn es war noch nie vorgekommen&comma; daß die Großmutter es so ernst anblickte&comma; um mit ihm zu reden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Trineli"&comma; fing sie jetzt bedächtig an&comma; "wir müssen daran denken&comma; was du für Arbeit tun könntest&comma; wenn du nun im Frühling aus der Schule kommst&period; Der Vetter aus dem Reußtal ist heute morgen hier gewesen&period; Im Herbst könntest du zu ihm hinunterkommen und dir dort in der Fabrik etwas verdienen&period; Vielleicht würde es dein Glück sein&period; Du könntest von einem Jahr zum anderen weiterkommen und so deinen Weg machen&period; Was meinst du dazu&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Lieber will ich sterben&excl;" rief das Trini zornig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Mußt nicht so unbedacht reden&comma; Trineli"&comma; mahnte die Großmutter freundlich&period; "Sieh&comma; der Vetter will etwas für dich tun&period; Er meint es gut&comma; wir wollen ihn nicht böse machen&comma; wir wollen noch miteinander über die Sache nachdenken&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Und wenn der Vetter käme und mich tausendmal töten wollte&comma; so ginge ich doch nicht&excl;" rief das Trini&comma; und man konnte sehen&comma; wie es immer wütender wurde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Wir wollen jetzt nichts weiter sagen&period; Wenn es für dich gut ist&comma; so wird es so sein müssen&comma; Trineli&comma; und dann wollen wir's annehmen und denken&colon; 'Der liebe Gott schickt's&comma; es muß gut sein'&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Die Großmutter wollte damit das Gespräch beenden&comma; aber das Kind fing plötzlich an&comma; bitterlich zu weinen&period; Die Tränen stürzten ihm wie Bäche aus den Augen&comma; und unter heftigem Schluchzen stieß es hervor&colon; "Großmutter&comma; wer soll dir dann Holz und Wasser bringen&comma; wenn es kalt wird&quest; Was willst du denn machen&comma; wenn du wieder im kalten Winter nicht aufstehen kannst&comma; und es ist kein Mensch bei dir und zündet Feuer an und macht dir ein wenig Kaffee und bringt ihn dir&quest; Und du bist ganz allein und kannst nichts machen&comma; und wenn du rufst&comma; so kommt kein Mensch&period; Ich gehe nicht&comma; Großmutter&comma; ich kann nicht gehen&excl; Ich kann nicht&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Komm&comma; Trineli&comma; komm"&comma; sagte beschwichtigend die Alte&comma; die einen&nbsp&semi;solchen Ausbruch nicht erwartet hatte&comma; "komm&comma; wir müssen nun unser&nbsp&semi;Abendbrot essen&comma; und dann wollen wir beten und zu Bett gehen&period; Über&nbsp&semi;Nacht hat der liebe Gott auch schon manches anders gemacht&comma; als es am&nbsp&semi;Abend vorher war&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Aber das Trini mit seiner heftigen Gemütsart war nicht so schnell wieder im Gleichgewicht&period; Es konnte keinen Bissen hinunterbringen&comma; und bis tief in die Nacht hinein hörte die Großmutter sein Schluchzen und Weinen&period; Das war ein neuer Kummer für die alte Waschkäthe&period; Sie hatte nicht geglaubt&comma; daß das Kind sich so über den Vorschlag des Vetters aufregen würde&period;<&sol;p>

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