Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Wie Wiselis Weg gefunden wird
(Johanna Spyri)

Auf dem Schlittenweg

<p>Draußen vor der Stadt Bern liegt ein Dörflein an einem Berghang&period; Ich kann hier nicht sagen&comma; wie es heißt&comma; aber ich will es ein wenig beschreiben&period; Wer dann dahinkommt&comma; der kann es gleich erkennen&period; Oben auf der Anhöhe steht ein einzelnes Haus mit einem Garten daran&comma; voll schöner Blumen von allen Arten&period; Das gehört dem Oberst Ritter und heißt Auf dem Hang&comma;&period; Von da geht es hinunter&period; Dann stehen auf einem kleinen&comma; ebenen Platz die Kirche und daneben das Pfarrhaus&period; Dort hat die Frau des Obersten als Pfarrerstochter ihre fröhliche Kindheit verlebt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Etwas weiter unten kommen das Schulhaus und noch einige Häuser&comma; und dann steht links am Weg noch ein Häuschen ganz allein&period; Davor liegt auch ein Gärtchen mit ein paar Rosen und ein paar Nelken und ein paar Resedastöckchen&comma; daneben aber sind Beete mit Zichorien und Spinat bepflanzt&comma; mit einer niederen Hecke von Johannisbeersträuchern umgeben&period; Alles ist da immer in bester Ordnung und kein Unkraut zu sehen&period; Dann geht der Weg wieder bergab den ganzen langen Hang hinunter bis auf die große Straße&comma; die an der Aare entlang ins Land hinausführt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Dieser ganze lange Hang bildete zur Winterszeit den herrlichsten Schlittenweg&comma; der weit und breit zu finden war&period; Zehn Minuten lang konnte man da auf dem Schlitten sitzen bleiben&comma; ohne abzusteigen&period; Denn war man vom Haus des Obersten an bei diesem ersten&comma; steilen Absatz einmal recht in Fahrt gekommen&comma; so gingen die Schlitten vorwärts ohne Nachhilfe bis hinunter auf die Aarestraße&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Diese unvergleichliche Schlittenbahn machte auch das Lebensglück einer großen Schar von Kindern aus&comma; die alle&comma; sobald nur die alte Schulstubentür sich öffnete&comma; herausstürzten&comma; ihre Schlitten vom Haufen rissen&comma; den sie im Vorhof bildeten&comma; und mit Windeseile zum Schlittenweg rannten&comma; wo die Stunden verflogen&comma; man wußte nicht&comma; wie&period; Denn unten am Berg war man immer so schnell und beim Hinaufsteigen dachte man so eifrig ans nächste Hinunterfahren&comma; daß man rasch wieder oben war&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So brach immer zum großen Schrecken der Kinder die Nacht viel zu früh herein&comma; denn dies war die Zeit&comma; da fast alle nach Hause gehen mußten&period; Da folgte dann gewöhnlich noch ein ziemlich stürmisches Ende&comma; denn da wollte man schnell noch einmal fahren und dann noch einmal und dann nur noch ein einziges Mal&period; Und so mußte dann alles noch in größter Eile zugehen&comma; das Aufsitzen und das Abfahren und wieder die Rückkehr den Berg hinauf&period; Da war auch ein Gesetz errichtet worden&comma; daß keiner hinunterfahren sollte&comma; während die anderen hinaufstiegen&comma; sondern hintereinander sollten alle abfahren und miteinander alle zurückkehren&comma; damit kein Gedränge und Schlittenverwickelungen entstehen könnten&period; Manchmal aber gab es doch allerlei ungesetzliche Verwirrungen&comma; besonders auf diesen drangvollen Schlußfahrten&comma; da dann keiner zuletzt sein und etwa noch zu kurz kommen wollte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So war es auch an einem hellen Januarabend&comma; da vor Kälte die Schlittenbahn laut knisterte unter den Füßen der Kinder und der Schnee nebenan auf den Feldern so hart gefroren war&comma; daß man hätte darauf fahren können wie auf einer festen Straße&period; Die Kinder aber waren alle glühend rot und heiß dazu&comma; denn eben waren sie im angestrengten Lauf den ganzen Berg hinaufgelaufen und hatten ihre Schlitten nachgezogen&period; Und nun wurden die Schlitten rasch gewendet&comma; die Kinder stürzten sich darauf&comma; denn es hatte Eile&period; Drüben stand schon hell der Mond am Himmel&comma; und die Betglocke hatte auch schon geläutet&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Buben hatten aber alle gerufen&colon; "Noch einmal&excl; Noch einmal&excl;" Und die Mädchen waren einverstanden&period; Aber beim Aufsitzen gab es eine Verwirrung und einen großen Lärm&period; Drei Buben wollten durchaus auf demselben Platz mit ihren Schlitten stehen&comma; und keiner wollte auch nur einen Zentimeter zurückweichen und später abfahren&period; So drückten sie einander auf die Seite hin&comma; und der breite Chäppi wurde von den beiden anderen so gegen den Rand des Weges hin gestoßen&comma; daß er ganz in den Schnee hineinsank mit seinem schweren Schlitten und fühlte&comma; daß er unter ihm stecken blieb&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Eine große Wut ergriff ihn bei dem Gedanken&comma; daß die anderen nun abfahren würden&period; Er schaute um sich&period; Da fiel sein Blick auf ein kleines&comma; schmales Mädchen&comma; das neben ihm im Schnee stand&period; Es war ganz bleich und hielt beide Arme in seine Schürze gewickelt&comma; um es wärmer zu haben&period; Aber es zitterte doch vor Frost an seinem ganzen dünnen Körperchen&period; Das schien dem Chäppi ein passendes Wesen zu sein um seine Wut daran auszulassen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Kannst du einem nicht aus dem Weg gehen&comma; du lumpiges Ding&quest; Du brauchst nicht hier zu stehen&comma; du hast ja nicht einmal einen Schlitten&period; Wart nur&comma; ich will dir schon aus dem Weg helfen&period;" Damit stieß der Chäppi seinen Stiefel in den Schnee hinein&comma; um dem Kind eine Schneewolke entgegenzuwerfen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es floh zurück&comma; so daß es bis an die Knie in den Schnee sank&comma; und sagte schüchtern&colon; "Ich wollte nur zusehen&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Der Chäppi stieß eben seinen Stiefel noch einmal in den Schnee&comma; als ihn von hinten eine so erschütternde Ohrfeige traf&comma; daß er fast vom Schlitten fiel&period; "Wart du&excl;" rief er außer sich vor Erbitterung&comma; denn sein Ohr sauste&comma; wie es noch kaum je gesaust hatte&period; Mit geballter Hand drehte er sich um&comma; seinen Feind zu treffen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da stand einer hinter ihm&comma; der hatte eben seinen Schlitten zum Abfahren zurecht gestellt&period; Er schaute nun ganz ruhig auf den Chäppi nieder und sagte&colon; "Probier's&excl;" Es war Chäppis Klassengenosse&comma; der el&fjlig;ährige Otto Ritter&comma; der öfter mit dem Chäppi kleine Meinungsverschiedenheiten auszutragen hatte&period; Otto war ein schlanker&comma; aufgeschossener Junge&comma; lange nicht so breit wie der Chäppi&period; Aber dieser hatte schon mehr als einmal erfahren&comma; daß Otto eine merkwürdige Gewandtheit in Händen und Füßen besaß&comma; gegen die der Chäppi sich nicht zu helfen wußte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Er schlug nicht zu&comma; aber die geballte Hand hielt er immer noch hoch&comma; und wuterfüllt rief er&colon; "Laß du mich gehen&comma; ich habe nichts mit dir zu tun&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Aber ich mit dir"&comma; entgegnete Otto kriegerisch&period; "Was brauchst du das Wiseli dorthinein zu jagen und es noch mit Schnee zu überschütten&quest; Ich habe es gesehen&comma; du Feigling&period; Fällt über ein kleines Kind her&comma; das sich nicht wehren kann&excl;" Damit kehrte er verächtlich dem Chäppi den Rücken und wandte sich dem Schneefeld zu&comma; wo das bleiche Wiseli noch immer stand und zitterte&period; "Komm heraus aus dem Schnee&comma; Wiseli"&comma; sagte Otto mit Beschützermiene&period; "Siehst du&comma; du klapperst ja vor Frost&period; Hast du wirklich gar keinen Schlitten&comma; und hast du nur zusehen müssen&quest; Da&comma; nimm meinen und fahr einmal hinunter&comma; schnell&comma; siehst du&comma; da fahren sie schon&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Das bleiche&comma; schüchterne Wiseli wußte gar nicht&comma; wie ihm geschah&period; Zwei-&comma; dreimal hatte es zugeschaut&comma; wie eines nach dem andern auf seinem Schlitten saß&comma; und gedacht&colon; Wenn ich nur ein einziges Mal ganz hinten aufsitzen dürfte&period; Nun sollte es allein hinunterfahren dürfen und dazu auf dem allerschönsten Schlitten mit dem Löwenkopf vorn&comma; der immer allen anderen zuvorkam&comma; weil er so leicht und hoch mit Eisen beschlagen war&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Vor lauter Glück stand Wiseli ganz unschlüssig da und schaute nach dem Chäppi&comma; ob er es nicht vielleicht zu prügeln gedenke zur Strafe für sein Glück&period; Aber der saß jetzt ganz abgekühlt da&comma; so als wäre gar nichts geschehen&period; Und Otto stand so schutzverheißend daneben&comma; daß das Wiseli seinen Mut zusammennahm&comma; um sein Glück zu erfassen&period; Es setzte sich wirklich auf den schönen Schlitten&comma; und da nun Otto mahnte&colon; "Schnell&comma; Wiseli&comma; fahr ab"&comma; so gehorchte es&comma; und hinunter ging's wie vom Wind getragen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>In der kürzesten Zeit hörte Otto die ganze Gesellschaft wieder herankeuchen&comma; und er rief der Kleinen entgegen&colon; "Wiseli&comma; bleib unter den Vordersten und sitz gleich noch einmal auf und fahr zu&excl; Nachher müssen wir gehen&period;" Das glückliche Wiseli setzte sich noch einmal hin und genoß noch einmal die langersehnte Freude&period; Dann brachte es den Schlitten zurück und dankte ganz schüchtern seinem Wohltäter und rannte eilig davon&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Otto fühlte sich sehr befriedigt&period; "Wo ist das Miezi&quest;" rief er in die Gesellschaft hinein&comma; die sich allmählich zerstreute&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Da ist es"&comma; ertönte eine fröhliche Kinderstimme&comma; und aus dem Knäuel heraus trat ein rundes&comma; kleines Mädchen&comma; das der Bruder Otto als kräftiger Schutzmann bei der Hand faßte und nun mit ihm zum väterlichen Haus lief&period; Denn es war heute spät geworden&period; Die erlaubte Zeit des Schlittenfahrens war lange überschritten&period;<&sol;p>

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