Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Märchen-Sammlung
(Ludwig Bechstein, empfohlenes Alter: 8 - 11 Jahre)

Der goldene Rehbock

<p>Es waren einmal zwei arme Geschwister&comma; ein Knabe und ein Mädchen&semi; das Mädchen hieß Margarete&comma; der Knabe hieß Hans&period; Ihre Eltern waren gestorben&comma; hatten ihnen auch gar kein Eigentum hinterlassen&comma; daher sie ausgehen mußten&comma; um durch Betteln sich fortzubringen&period; Zur Arbeit waren beide noch zu schwach und klein&semi; denn Hänschen zählte erst zwölf Jahre und Gretchen war noch jünger&period; Des Abends gingen sie vors erste beste Haus&comma; klopften an und baten um ein Nachtquartier&comma; und vielmals waren sie schon von guten&comma; mildtätigen Menschen aufgenommen&comma; gespeiset und getränket worden&semi; auch hatte mancher und manche Barmherzige ihnen ein Kleidungsstückchen zugeworfen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>So kamen sie einmal des Abends vor ein Häuschen&comma; welches einzeln stand&semi; da klopften sie ans Fenster&comma; und als gleich darauf eine alte Frau heraussah&comma; fragten sie diese&comma; ob sie hier über Nacht bleiben durften&period; Die Antwort war&colon; „Meinetwegen&comma; kommt nur herein&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Aber wie sie eintraten&comma; sprach die Frau&colon; „Ich will euch wohl über Nacht behalten&semi; aber wenn es mein Mann gewahr wird&comma; so seid ihr verloren&comma; denn er ißt gern einen jungen Menschenbraten&comma; daher er alle Kinder schlachtet&comma; die ihm vor die Hand kommen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Da wurde den Kindern sehr angst&semi; doch konnten sie nunmehr nicht weiter&comma; es war schon ganz dunkle Nacht geworden&period; So ließen sie sich gutwillig von der Frau in ein Faß verstecken und verhielten sich ruhig&period; Einschlafen konnten sie aber lange nicht&comma; zumal&comma; da sie nach einer Stunde die schweren Tritte eines Mannes vernahmen&comma; der wahrscheinlich der Menschenfresser war&period; Des wurden sie bald gewiß&comma; den jetzt fing er an&comma; mit brüllender Stimme auf seine Frau zu zanken&comma; daß sie keinen Menschenbraten für ihn zugerichtet&period; Am Morgen verließ er das Haus wieder und tappte so laut&comma; daß die Kinder&comma; die endlich doch eingeschlafen waren&comma; darüber erwachten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als sie von der Frau etwas zu frühstücken bekommen hatten&comma; sagte diese&colon; „Ihr Kinder müßt nun auch etwas tun&excl; Da habt ihr zwei Besen&comma; geht oben hinauf und kehrt mir meine Stuben aus&semi; deren sind zwölf&comma; aber ihr kehret davon nur elf&comma; die zwölfte dürft ihr ums Himmels willen nicht aufmachen&period; Ich will derzeit einen Ausgang tun&period; Seid fleißig&comma; daß ihr fertig seid&comma; wenn ich wieder komme&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Die Kinder kehrten sehr emsig&comma; und bald waren sie fertig&period;&nbsp&semi;Nun mochte Gretchen doch gar zu gerne wissen&comma; was in der zwölften Stube wäre&comma; das sie nicht sehen sollten&comma; weil ihnen verboten war&comma; die Stube zu öffnen&period; Sie guckte ein wenig durchs Schlüsselloch und sah da einen herrlichen kleinen goldenen Wagen&comma; mit einem goldenen Rehbock bespannt&period; Geschwind rief sie Hänschen herbei&comma; daß er auch hineingucken sollte&period; Und als sie sich erst tüchtig umgesehen&comma; ob die Frau nicht heimkehre&comma; und da von dieser nichts zu sehen war&comma; schlossen sie schnell die Türe auf&comma; zogen den Wagen samt dem Rehbock heraus&comma; setzten sich drunten hinein in den Wagen und fuhren auf und davon&period; Aber nicht lange&comma; so sahen sie von weitem die alte Frau und auch den Menschenfresser ihnen entgegenkommen&comma; gerade des Weg’s&comma; den sie mit dem geraubten Wagen eingeschlagen hatten&period; Hänslein sprach&colon; „Ach&comma; Schwester&comma; was machen wir&quest; Wenn uns die beiden Alten entdecken&comma; sind wir verloren&period;&OpenCurlyDoubleQuote; „Still&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; sprach Gretchen&comma; „ich weiß ein kräftiges Zaubersprüchlein&comma; welches ich noch von unsrer Großmutter gelernt habe&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>Rosenrote Rose sticht&semi;<br&sol;>Siehst du mich&comma; so sieh mich nicht&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>und alsbald waren sie in einen Rosenstrauch verwandelt&period; Gretchen wurde zur Rose&comma; Hänslein zu Dornen&comma; der Rehbock zum Stiele&comma; der Wagen zu Blättern&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nun kamen beide&comma; der Menschenfresser und seine Frau&comma; dahergegangen&comma; und letztere wollte sich die schöne Rose abbrechen&semi; aber sie stach sich so sehr&comma; daß ihre Finger bluteten und sie ärgerlich davonging&period; Wie die Alten fort waren&comma; machten sich die Kinder eilig auf und fuhren weiter und kamen bald an einen Backofen&comma; der voll Brot stand&period; Da hörten sie aus demselben eine hohle Stimme rufen&colon; „Rückt mir mein Brot&comma; rückt mir mein Brot&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Schnell rückte Gretchen das Brot und tat es in ihren Wagen&comma; worauf sie weiterfuhren&period; Da kamen sie an einen großen Birnbaum&comma; der voll reifer&comma; schöner Früchte hing&period; Aus diesem tönte es wieder&colon; „Schüttelt mir meine Birnen&comma; schüttelt mir meine Birnen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Gretchen schüttelte sogleich&comma; und Hänschen half gar fleißig auflesen und die Birnen in den goldenen Wagen schütten&period; Und weiter kamen sie an einen Weinstock&comma; der rief mit angenehmer Stimme&colon; „Pflückt mir meine Trauben&comma; pflückt mir meine Trauben&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Gretchen pflückte auch diese und packte sie in ihren Wagen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Unterdessen aber waren der Menschenfresser und seine Frau daheim angelangt und hatten mit Ingrimm wahrgenommen&comma; daß die Kinder den goldenen Wagen samt dem Rehbock entführt&comma; gerade wie sie selbst vor langen Jahren Wagen und Rehbock gestohlen und noch dazu bei dem Diebstahl einen Mord begangen&comma; nämlich den rechtmäßigen Eigentümer erschlagen hatten&period; Der mit dem Rehbock bespannte Wagen war nicht nur an und für sich von großem Wert&comma; sondern er besaß auch noch die vortreffliche Eigenschaft&comma; daß&comma; wo er hinkam&comma; von allen Seiten Gaben gespendet wurden&comma; von Baum und Beerstrauch&comma; von Backofen und Weinstock&period; So hatten denn die Leute&comma; der Menschenfresser und seine Frau&comma; lange Jahre den Wagen auf unrechtmäßige Weise besessen&comma; hatten sich gute Eßwaren spenden lassen und dabei herrlich und in Freuden gelebt&period; Da sie nun sahen&comma; daß sie ihres Wagens beraubt waren&comma; machten sie sich flugs auf&comma; den Kindern nachzueilen und ihnen die köstliche Beute wieder abzujagen&period; Dabei wässerte dem Menschenfresser schon der Mund nach Menschenbraten&semi; denn die Kinder wollte er sogleich fangen und schlachten&period; Mit weiten Schritten eilten die beiden Alten den Flüchtlingen nach und wurden derselben bald von ferne ansichtig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Kinder kamen jetzt an einen großen Teich und konnten nicht weiter&comma; auch war weder eine Fähre noch eine Brücke da&comma; daß sie hinüber hätten flüchten können&period; Nur viele Enten waren darauf zu sehen&comma; die lustig umherschwammen&period; Gretchen lockte sie ans Ufer&comma; warf ihnen Futter hin und sprach&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ihr Entchen&comma; ihr Entchen&comma; schwimmt zusammen&comma;<br&sol;>Macht mir ein Brückchen&comma; daß ich hinüber kann kommen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Da schwammen die Enten einträchtiglich zusammen&comma; bildeten eine Brücke&comma; und die Kinder samt Rehbock und Wagen kamen glücklich ans Ufer&period; Aber flugs hinterdrein kam auch der Menschenfresser und brummte mit häßlicher Stimme&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ihr Entchen&comma; ihr Entchen&comma; schwimmt zusammen&comma;<br&sol;>Macht mir ein Brückchen&comma; daß ich hinüber kann kommen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Schnell schwammen die Entchen zusammen und trugen die beiden Alten hinüber — meint ihr&quest; Nein&excl; in der Mitte des Teiches&comma; wo das Wasser am tiefsten war&comma; schwammen die Entchen auseinander&comma; und der böse Menschenfresser nebst seiner Frau plumpten in die Tiefe und kamen um&period; Hänschen und Gretchen wurden sehr wohlhabende Leute&comma; aber sie spendeten auch von ihrem Segen den Armen viel Gutes&comma; weil sie immer daran dachten&comma; wie bitter es gewesen&comma; da sie noch arm waren und betteln gehen mußten&period;<&sol;p>