Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

11. Kapitel

<p>Kurz nach neun Uhr wurde das ganze Dorf durch die schreckliche Neuigkeit alarmiert&period; Obwohl sich damals noch niemand etwas von einem Telegraphen träumen ließ&comma; flog die Nachricht doch von Mund zu Mund&comma; von Haus zu Haus&comma; mit fast telegraphischer Eile&period; Natürlich gab der Schullehrer für nachmittags frei&period; Man hätt&OpenCurlyQuote;s ihm sehr übel genommen&comma; hätte er&OpenCurlyQuote;s nicht getan&period; Ein blutiges Messer war bei der Leiche gefunden und durch ein paar Leute als das des Muff Potter rekognosziert worden — so hieß es&period; Und man sagte ferner&comma; ein verspäteter Bürger habe Muff Potter in der Gegend des Verbrechens um ein oder zwei Uhr getroffen&comma; wie er sich in einem Wassergraben wusch&comma; und Muff Potter sei plötzlich ausgerissen — alles verdächtige Umstände&comma; besonders das Waschen&comma; was sonst gar nicht zu Potters Gewohnheiten gehörte&period; Man sagte auch&comma; der Ort sei nach dem „Mörder&OpenCurlyDoubleQuote; durchsucht &lpar;das Volk ist nicht träge&comma; belastende Momente zu suchen und zu einem Urteilsspruch zu gelangen&rpar;&comma; daß er aber nicht gefunden worden sei&period; Reiter waren nach allen Himmelsrichtungen ausgesandt&comma; und der Sheriff hatte die beste Hoffnung&comma; man werde ihn &lpar;nicht den Sheriff&excl;&rpar; noch vor der Nacht erwischt haben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der ganze Ort war unterwegs nach dem Kirchhof&period; Toms Herzeleid schwand&comma; und er schloß sich der Prozession an&comma; nicht weil er nicht tausendmal lieber anderswohin gegangen wäre&comma; als vielmehr unter dem Zwang eines schrecklichen&comma; unerklärlichen Antriebs&period; An dem gräßlichen Schauplatz angelangt&comma; zwängte er seinen kleinen Körper durch die Menge und genoß den ganzen traurigen Anblick&period; Es schien ihm eine Ewigkeit&comma; seit er hier gewesen&period; Jemand packte seinen Arm&period; Er fuhr herum&comma; und sein Blick traf auf Huckleberry&period; Dann sahen beide wie auf Verabredung seitwärts und fürchteten&comma; es möge ihnen jemand das Einverständnis vom Gesicht lesen können&period; Aber alles schwatzte durcheinander und achtete nur auf den schrecklichen Anblick vor sich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Armer Bursche&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; „Armer&comma; junger Bursche&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; „Eine Lehre für Leichenräuber&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; „Muff Potter muß hängen für das da&comma; wenn man ihn erwischt&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Das waren so die Bemerkungen&comma; die fielen&comma; und der Geistliche sagte&colon; „Es war ein Gericht&period; <em>Seine<&sol;em> Hand ist hier sichtbar&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; In diesem Augenblick erschauerte Tom von Kopf bis zu Fuß&comma; denn seine Augen fielen auf des Indianer-Joes gleichgültiges Gesicht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Menge begann zu flüstern und zu tuscheln&period; „Er ist&OpenCurlyQuote;s&comma; er ist&OpenCurlyQuote;s&excl; Er kommt&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Wo&comma; wo&quest;&OpenCurlyDoubleQuote; fragten zwanzig Stimmen&period; „Muff Potter&excl; Hallo&comma; er steht still&excl; Seht mal&comma; er kommt <em>hierher<&sol;em> zurück&excl; Laßt ihn nicht entwischen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Leute&comma; die in den Zweigen der Bäume über Tom saßen&comma; sagten&comma; er habe nicht den geringsten Versuch gemacht&comma; zu entschlüpfen&comma; er stand nur und schaute zweifelnd und wie erstarrt um sich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Teuflische Frechheit&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; sagte einer der Umstehenden&period; „Wagt&OpenCurlyQuote;s&comma; zurückzukommen und sein Werk ganz ruhig zu betrachten&excl; Hat wohl nicht gedacht&comma; schon Gesellschaft hier zu finden&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Menge teilte sich jetzt&comma; und der Sheriff kam ostentativ hindurchgeschritten&comma; Potter am Arm führend&period; Des armen Burschen Gesicht sah blaß aus&comma; und aus seinen Augen sprach die Furcht&comma; die ihn beherrschte&period; Als er vor dem Ermordeten stand&comma; zuckte er wie unter einem Hieb zusammen&comma; verbarg das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ich hab&OpenCurlyQuote;s nicht getan&comma; Freunde&period;&OpenCurlyDoubleQuote; schluchzte er&period; „Auf Ehr&OpenCurlyQuote; und Seligkeit&comma; ich tat&OpenCurlyQuote;s nicht&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Wer hat dich denn angeklagt&quest;&OpenCurlyDoubleQuote; schrie eine Stimme&period; Dieser Hieb saß&period; Potter nahm die Hände vom Gesicht und schaute in sichtbarster Hilflosigkeit um sich&period; Er sah Joe und rief aus&colon; „O&comma; Joe&comma; du versprachst mir&comma; niemals —&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ist das Euer Messer&quest;&OpenCurlyDoubleQuote; Und es wurde vom Sheriff vorgehalten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Potter wäre umgefallen&comma; wenn man ihn nicht aufgefangen und ihn auf die Erde niedergelassen hätte&period; Dann sagte er&colon; „Dacht&OpenCurlyQuote; ich mir&OpenCurlyQuote;s doch&comma; wenn ich nicht zurückkäme und —&OpenCurlyDoubleQuote;&comma; er schauderte&period; Dann erhob er seine kraftlose Hand mit müder Gebärde und flüsterte&colon; „Sag&OpenCurlyQuote;s ihnen&comma; Joe&comma; sag&OpenCurlyQuote;s ihnen — &OpenCurlyQuote;s ist nichts mehr zu machen&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Dann standen Huckleberry und Tom stumm und starr und hörten den kaltherzigen Lügner ganz gemütlich Bericht erstatten&semi; sie erwarteten jeden Augenblick&comma; Gottes Blitzstrahl werde ihn treffen&comma; und wunderten sich&comma; ihn solange unberührt stehen zu sehen&period; Und nachdem er geendet hatte und gesund und heil blieb&comma; dachten sie nicht mehr daran&comma; ihren Eid zu brechen und des armen Gefangenen Leben zu retten&comma; denn es war zweifellos&comma; daß Joe sich dem Satan verschrieben hatte&comma; und es wäre wohl gefährlich gewesen&comma; sich mit einer solchen Macht einzulassen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Warum liefst du nicht davon&quest; Warum&comma; zum Teufel&comma; kamst du hierher zurück&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Konnt&OpenCurlyQuote; nicht anders — ich <em>konnt&OpenCurlyQuote;<&sol;em> nicht anders&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; stöhnte Potter&period; „Ich <em>wollt&OpenCurlyQuote;<&sol;em> wohl fortlaufen&comma; aber ich konnt&OpenCurlyQuote; nirgends hinkommen als <em>hierher<&sol;em>&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Und er fing wieder an zu schluchzen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Joe wiederholte seinen Bericht&comma; ebenso ruhig&comma; ein paar Minuten später und beschwor ihn auf Verlangen&comma; und die Burschen&comma; die den Lichtstrahl immer noch nicht hervorbrechen sahen&comma; wurden dadurch in ihrem Glauben&comma; daß er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe&comma; noch mehr bestärkt&period; Er war mit einem Schlage für sie der Gegenstand des unheimlichsten Interesses geworden&comma; wie nichts anderes&comma; und sie konnten die bezauberten Blicke nicht von ihm wenden&period; Sie beschlossen innerlich&comma; ihn nachts&comma; wenn sich einmal die Gelegenheit böte&comma; zu belauern&comma; in der Hoffnung&comma; seines schrecklichen Herrn und Meisters ansichtig zu werden&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Joe half den Körper des Ermordeten aufheben und auf einen Karren laden&comma; um ihn fortzuschaffen&period; Und es ging ein Flüstern durch das schaudernde Volk&comma; daß die Wunde ein wenig zu bluten anfinge&excl; Die Knaben hofften&comma; dieser glückliche Umstand werde den Verdacht in die wahre Richtung lenken&period; Aber sie waren enttäuscht&comma; als mehrere der Leute sagten&colon; „Er war nur drei Schritt von Muff Potter entfernt&comma; als es geschah&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Toms schreckliches Geheimnis&comma; seine furchtbare Mitwisserschaft störte seinen Schlaf während mehr als einer Woche&semi; und eines Morgens beim Frühstück sagte Sid&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Tom&comma; du wirfst dich im Schlaf herum und sprichst so viel&comma; daß du mich die halbe Nacht wach erhältst&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom erbleichte und senkte die Augen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„&OpenCurlyQuote;s ist ein böses Zeichen&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; sagte Tante Polly mit Nachdruck&period; „Was hast du auf dem Herzen&comma; Tom&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Nichts — nichts — ich weiß nicht&period;&OpenCurlyDoubleQuote; Aber seine Hand zitterte so&comma; daß er seinen Kaffee verschüttete&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Und du schwatzt solchen Unsinn&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; fuhr Sid fort&period; „In der letzten Nacht sagtest du&colon; &comma;&OpenCurlyQuote;s ist Blut&comma; &OpenCurlyQuote;s ist Blut&comma; nichts als Blut&period;&OpenCurlyQuote; Du sagtest das immer wieder&period; Und dann sagtest du&colon; ‚Ängstigt mich nicht — ich will alles sagen&period;&OpenCurlyQuote; Sagen — was&quest; <em>Was<&sol;em> willst du sagen&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom schwamm alles vor den Augen&period; Es ist nicht zu sagen&comma; was geschehen sein würde&comma; wenn nicht plötzlich die Spannung aus Tante Pollys Gesicht gewichen wäre und sie Tom&comma; ohne es zu wissen&comma; zu Hilfe gekommen wäre&period; Sie sagte&colon; „Kann mir&OpenCurlyQuote;s denken&excl; Der schreckliche Mord ist&OpenCurlyQuote;s&period; Ich selbst träume jede Nacht davon&period; Manchmal träum&OpenCurlyQuote; ich&comma; ich selbst hätt&OpenCurlyQuote;s getan&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Mary sagte&comma; sie wäre gerade so angegriffen davon&period; Sid schien befriedigt&period; Tom ging aus der Affäre so beruhigt hervor&comma; als es nur immer möglich war&comma; simulierte während einer Woche Zahnschmerzen und band sich jede Nacht die Backen fest zu&period; Er wußte nicht&comma; daß Sid wachte und des öfteren die Bandage lockerte und dann&comma; auf den Ellbogen gestützt&comma; eine gute Weile lauerte&comma; dann wieder alles in Ordnung brachte und sich hinlegte&period; Toms Gemütsverstimmung wich nach und nach&comma; und die Zahnschmerzen begannen ihm lästig zu werden und wurden ganz abgeschafft&period; Wenn es Sid gelungen war&comma; etwas von Toms unbewußtem Murmeln aufzufangen&comma; so behielt er es jedenfalls für sich&period; Tom schien es&comma; als könnten seine Schulkameraden nicht oft genug Totenschau über Katzen halten und dadurch seine Erinnerung immer wieder auffrischen&period; Sid fiel auf&comma; daß Tom niemals den Beschauer spielen wollte&comma; obwohl er sonst doch gewöhnt war&comma; bei allem den Führer abzugeben&semi; er merkte auch&comma; daß Tom sich nie unter den Zeugen befand — und das war auffallend&period; Schließlich entging Sid durchaus nicht die entschiedene Abneigung Toms gegen diese ganze Spielerei&comma; und seine Bemühungen&comma; ihr aus dem Wege zu gehen&period; Sid grübelte darüber&comma; sagte aber nichts&period; Indessen&comma; schließlich schwand alle Unruhe und hörte auf&comma; Toms Geist zu quälen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Jeden Tag oder doch jeden zweiten in dieser traurigen Zeit passte Tom auf eine Gelegenheit&comma; um zu dem kleinen Gitterfenster zu laufen und allerhand kleine Annehmlichkeiten für den „Mörder&OpenCurlyDoubleQuote; hineinzuschmuggeln&period; Das Gefängnis war ein trübseliges&comma; kleines&comma; halbverfallenes Loch und stand in einem Sumpfe außerhalb des Dorfes&period; Wärter waren nicht aufgestellt&comma; denn es hatte selten Gäste zu beherbergen&period; Diese Geschenke halfen sehr dazu&comma; Toms Gemüt aufzuheitern&period; Die Dörfler hatten nicht übel Lust&comma; Joe beim Kragen zu nehmen und ihm wegen der Leichenberaubung den Prozeß zu machen&comma; aber so furchtbar war sein Ruf&comma; daß niemand sich fand&comma; der Lust gehabt hätte&comma; die Sache zu übernehmen&period; So wurde sie denn unterlassen&period; Vorsichtigerweise hatte Joe bei seinen Geständnissen jedesmal gleich mit der Rauferei begonnen&comma; ohne über die vorhergegangene Leichenberaubung ein Wort zu verlieren&period; Daher schien es das weiseste&comma; wenigstens vorläufig die Angelegenheit nicht vor Gericht zu ziehen&period;<&sol;p>

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