Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

13. Kapitel

Tom zögerte nun nicht länger. Ihn erfüllte ein finsterer, verzweifelter Gedanke. Er wäre ein verlassener, freundloser Junge dachte er. Niemand liebte ihn. Wenn sie merken würden, wozu sie ihn getrieben, würden sie vielleicht betrübt sein. Er hatte versucht, das Rechte zu tun und brav zu werden, aber man ließ ihn nicht. Da man sich durchaus von ihm befreien wollte, mochte es so sein. Und man würde ihn für die Folgen verantwortlich machen — warum auch nicht? Welches Recht haben Freundlose, sich zu beklagen? Ja, sie hatten ihn zum äußersten getrieben, er würde ein Leben voll Verbrechen führen; ‘s gab keine Wahl. — Inzwischen war er weit hinunter zu „Meadow-Land“ gekommen, und die Schulglocke tönte lockend an sein Ohr — sie wollte ihn wohl zurückhalten. Er seufzte bei dem Gedanken, nie, nie wieder den alt-vertrauten Ton hören zu sollen — es war sehr hart, aber mußte sein; da er in die kalte Welt hinausgetrieben war, mußte er sich unterwerfen — aber er vergab ihnen! Dann kamen Tränen — schwer und bitter.

Gerade in diesem Augenblick begegnete ihm sein Herzensfreund Joe Harper — mit trüben Augen und zweifellos einen großen, schrecklichen Entschluß im Herzen. Offenbar waren hier „zwei Seelen und ein Gedanke.“ Tom seine Augen mit dem Ärmel trocknend, begann etwas herauszustottern von einem Entschluß, aus grausamer und liebloser Behandlung zu fliehen, in die weite Welt zu gehen und nie wiederzukommen und schloß damit, daß er hoffe, Joe werde ihn nicht vergessen.

Aber es zeigte sich, daß Joe im Begriff gewesen, an Tom das gleiche Verlangen zu stellen und ihn zu diesem Zweck gesucht hatte. Seine Mutter hatte ihn gezüchtigt, weil er Rahm getrunken haben sollte, den er nie gesehen, von dem er überhaupt gar nichts wußte; es war klar, sie mochte ihn nicht mehr und wollte nichts von ihm wissen, sie wollte ihn einfach los sein. Da sie es so wollte, war für ihn nichts zu tun, als nachzugeben. Er hoffte, sie würde glücklich sein und nie bereuen, daß sie ihren armen Jungen in die fühllose Welt hinausgetrieben hatte, zu leiden und zu sterben.

Indem die beiden Burschen trübselig weiterschlichen, machten sie einen neuen Bund, einander beizustehen, Brüder zu sein und sich nie zu trennen, bis sie der Tod einst von ihren Kümmernissen erlösen werde. Dann begannen sie Pläne zu schmieden. Joe war dafür, Eremit zu werden, in einer elenden Hütte aus Stroh zu liegen und einmal vor Kälte, Mangel und Kummer zu sterben. Aber, nachdem er Tom angehört hatte, sah er ein, daß ein Verbrecherleben voll von aufregenden Abenteuern vorzuziehen sei und stimmte zu, Pirat zu werden.

Drei Meilen unterhalb St. Petersburgs, an einem Fluß, wo der Mississippi die Kleinigkeit von einer Meile Breite hatte, war eine lange, schmale, bewaldete Insel, mit einer Sandbank an der Spitze, die wählten sie als Rendezvouzplatz aus. Sie war unbewohnt, lag fern der heimatlichen Küste, gegenüber einem dichten und völlig unbewohnten dickichtartigen Walde. So wurde die Jackson-Insel gewählt. Wer der Gegenstand ihrer Seeräuberei sein sollte, war eine Frage, die sie weiter nicht bekümmerte. Dann suchten sie Huckleberry Finn auf, und er verband sich ihnen sofort, denn ihm war jede Karriere recht; er war einverstanden. Sie trennten sich einstweilen, um sich an einer einsamen Stelle auf der Sandbank, zwei Meilen oberhalb des Dorfes um ihre Lieblingsstunde, das heißt, um Mitternacht, wieder zu treffen. Es befand sich dort ein kleines Holzfloß, das sie zu kapern beschlossen. Jeder sollte Haken und Stricke mitbringen und solchen Proviant, den er auf möglichst unauffällige und geheime Weise würde stehlen können — wie es sich für Ausgestoßene schickt. Und bevor noch der Nachmittag um war, hatten sie sich den Genuß verschafft, das Gerücht auszustreuen, das Dorf werde sehr bald „was hören“. Alle, denen diese geheimnisvolle Mitteilung wurde, hatte man gebeten, „den Mund zu halten und zu warten.“

Gegen Mitternacht kam Tom mit einem gekochten Schinken und ein paar Kleinigkeiten an und blieb in dichtem Gestrüpp auf einem kleinen Ufervorsprung stehen, den Platz der Zusammenkunft überschauend. Es war sternklar und totenstill, der gewaltige Strom lag ruhig — gleich einem Ozean. Tom lauschte einen Augenblick, aber kein Ton störte die Stille. Dann ließ er ein langgezogenes, besonderes Pfeifen hören. Es wurde von unten beantwortet. Tom pfiff nochmals; auch dieses Signal wurde ebenso erwidert. Dann sagte eine vorsichtige Stimme:

„Wer ist da?“

„Tom Sawyer, der ‚schwarze Rächer des spanischen Meeres‘. Nennt eure Namen!“

„Huck Finn, ‚der Bluthändige‘ und Joe Harper, ‚der Schrecken der Meere‘.“ Tom hatte diese Namen aus seinen Lieblingsbüchern gewählt.

„‘s ist gut. Gebt die Losung!“

Zwei heisere Stimmen stießen dasselbe schreckliche Wort gleichzeitig in die betrübende Nacht hinaus: „Blut!“ Darauf rollte Tom seinen Schinken über den Abhang und ließ sich selbst ebenso hinunter, bei dem Experiment Kleider und Haut in Mitleidenschaft ziehend. Es gab zwar einen bequemen, leichten Weg die Küste entlang bis unterhalb des Ufervorsprungs, aber er ermangelte der Anregung durch Schwierigkeit und Gefahr, die doch so wertvoll sind für einen Seeräuber.

Der ‚Schrecken der Meere‘ hatte eine Speckseite mitgebracht und hatte sich mit dem Hierherschleppen fast ausgerenkt. Finn, ‚der Bluthändige‘, hatte einen kleinen Kessel gestohlen und eine Quantität halb trockene Tabakblätter, auch ein paar Maiskolben, um Pfeifen daraus zu machen. Aber keiner der Piraten rauchte oder kaute — außer er selbst. Der ‚schwarze Rächer des spanischen Meeres‘ sagte, man könne ohne Feuer nichts anfangen. Das war ein weiser Gedanke; Zündhölzer waren zu der Zeit noch völlig unbekannt. Sie sahen ein Feuer flackern auf einem großen Floß, hundert Meter oberhalb, schlichen heimlich hin und setzten sich in den Besitz einer Fackel. Sie machten eine bedeutende Unternehmung daraus, alle Augenblicke „Pst!“ sagend und dann und wann plötzlich innehaltend und den Finger an die Lippen legend; markierten Dolchstöße und gaben Befehle in düsterstem Tone, daß, wenn der Feind angriffe, er eins haben solle, denn „ein toter Mann verrät nichts.“ Sie wußten allerdings ganz gut, daß die Schiffer alle im Dorfe unten seien, um zu schlafen oder zu trinken, das war aber kein Grund für sie, diese Sache in nicht seeräubermäßiger Weise zu betreiben.

Sie fuhren sogleich ab, Tom kommandierend, Huck am Hinterteil, Joe vorn sitzend. Tom stand in der Mitte, lichtbeschienen und mit verschränkten Armen und gab mit lauter, strenger Stimme seine Befehle.

„Laviert und bringt‘s Schiff vor den Wind!“

„Ganz recht, Herr!“

„Tüchtig, tüch—tig!!“

„Wohl, wohl, Herr.“

„‘nen Strich abfallen lassen!“

„Abgefallen ist, Herr!“

Wie sie so beständig und eintönig in der Mitte des Stromes dahintrieben, war es selbstverständlich, daß diese Befehle nur der Form wegen gegeben wurden und in Wirklichkeit an niemand gerichtet waren.

„Was für Segel führt‘s Schiff?“

„Hauptsegel, Toppsegel und Klüversegel, Herr.“

„Bramsegel rauh! Bringt‘s vor den Wind, sechs von euch an die Vortopmarssegel! Vorwärts, Leute, lustig!!“

„Ho, ho, Herr!“

„Marssegel runter! Schoten und Brassen! Vor — wärts, Jungens!“

„Ho, ho, Herr!“

Das Floß trieb in der Mitte des Stromes. Die Jungen legten sich zurecht und lagen dann still auf dem Ohr. Der Fluß ging nicht so hoch, so machten sie nicht mehr als zwei bis drei Meilen. Während der nächsten dreiviertel Stunden wurde kein Wort gesprochen. Jetzt kam das Floß dem Dorf gegenüber vorbei. Zwei oder drei Lichtpunkte zeigten, wo es lag, friedlich schlafend, dicht an der breiten Fläche des lichtbeschienenen Flusses, ohne Ahnung von dem Unerhörten, das sich hier zutrug. Der ‚schwarze Rächer‘ stand unbeweglich, die Arme gekreuzt, den letzten Blick auf den Schauplatz seiner glücklichen Jugend und seiner letzten Leiden werfend und in dem Wunsche, „sie“ könnte ihn hier sehen, draußen auf der wilden See, Gefahr und Tod mit furchtlosem Herzen ins Angesicht sehend, mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen seinem Schicksal entgegengehend. Es war nur eine Kleinigkeit für seine Einbildungskraft, Jacksons Insel aus dem Gesichtskreise des Dorfes fortzudenken, und so konnte er den letzten Blick mit gebrochenem, aber befriedigtem Herzen hinübersenden. Die anderen Piraten nahmen gleichfalls Abschied. Und sie alle schauten solange, daß sie nahe daran waren von der Strömung aus dem Bereich der Insel getrieben zu werden. Aber sie entdeckten die Gefahr noch rechtzeitig und trafen Vorkehrungen, sie abzuwenden. Um zwei Uhr morgens landete das Floß auf der Sandbank, zweihundert Meter oberhalb der Spitze der Insel, und sie wanderten hin und her, bis sie ihre Ladung geborgen hatten. Zu dem kleinen Floße gehörte auch ein altes Segel, das spannten sie in den Büschen an einer abgelegenen Stelle auf, um ihre Vorräte darunter zu bergen. Sie selbst aber wollten bei gutem Wetter in freier Luft schlafen, wie es Ausgestoßenen ziemt.

Sie machten ein Feuer an zwanzig bis dreißig Fuß im tiefsten Schatten des Waldes und kochten dann ein paar Kleinigkeiten als Abendessen in ihrer Bratpfanne und verzehrten die Hälfte des mitgebrachten Schinkens.

Es schien ihnen herrlich, in dieser wild-ungebundenen Weise im jungfräulichen Wald eines unentdeckten und unbewohnten Eilandes zu schmausen, fern von den Hütten der Menschen, und sie nahmen sich vor, nie wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Das flackernde Feuer erhellte ihre Gesichter und warf seinen roten Schein auf die Baumsäulen ihres Waldtempels und auf das Laubwerk und das Gewirr der Schlinggewächse. Als die letzte Schinkenkruste den Weg alles Eßbaren gegangen war, streckten sich die Burschen auf dem Grase aus, erfüllt von Behagen. Sie hätten einen kühleren Platz finden können, aber sie wollten sich nicht eines so romantischen Vergnügens berauben, wie es das prasselnde Lagerfeuer ihnen bot.

„Ist‘s nicht nett!“ fragte Joe.

Herrlich ist‘s!“ bestätigte Tom.

„Was würden die Jungs sagen, wenn sie uns sehen könnten?“

„Sagen? Na, die würden doch gleich sterben, um hier sein zu können — nicht, Hucky?“

„Denk wohl,“ brummte Hucky. „Mir paßt‘s schon. Möchte nirgends sein als hier. Hab‘ niemals genug zu essen gehabt — und hier kann niemand kommen und einen für ‘nen Landstreicher nehmen und anfahren.“

„‘s ist gerad ein Leben für mich,“ bekräftigte Tom. „Man braucht morgens nicht aufstehen, braucht nicht zur Schule zu gehen, sich nicht zu waschen und ähnliche Dummheiten.“

„Du siehst, Joe, ein Pirat braucht nichts zu tun, wenn er zu Hause ist, aber ein Einsiedler, der muß immerfort beten, und dann darf er keinen Scherz treiben, und immer so allein!“

„O, ‘s ist so,“ sagte Joe, „aber ich hatt‘ nicht dran gedacht — weißt du. Ich bin ein gut Teil lieber Pirat, als daß ich‘s damit versucht hätte.“

„Du mußt wissen,“ fuhr Tom fort, „Einsiedler werden die Menschen nicht mehr so viel wie früher, aber vor ‘nem Piraten haben sie immer Respekt. Und ein Einsiedler muß auf der härtesten Stelle, die er finden kann, schlafen und sich den Kopf mit Sackleinwand und Asche bedecken und draußen im Regen stehen und —“

„Warum muß er Sackleinwand und Asche auf den Kopf tun?“ fragte Huck.

„Weiß selbst nicht. Aber ‘s ist bestimmt so. Einsiedler tun‘s immer. Du müßtest‘s auch tun, wenn du ‘n Einsiedler wärst.“

„Heißt, wenn ich‘s möcht‘.“

„Na, was wolltest du denn tun?“

„Das weiß ich nicht. Aber ich tät‘s nicht!“

„Na, Hucky, du mußt‘s! Wie wolltest du dich drum drücken?“

„Weil ich‘s halt einfach nicht täte. Ich lief fort — glaub‘ ich.“

„Lief fort! Na, du würdest ein schöner Kerl von ‘nem Einsiedler sein! ‘ne Schande!“

Der ‚Bluthändige‘ gab keine Antwort, er hatte Besseres zu tun. Eben hatte er einen Maiskolben fertig ausgehöhlt, tat jetzt Tabakblätter hinein, drückte eine glühende Kohle drauf, machte aus einem Binsenrohr einen Stiel und stieß dicke Rauchwolken hervor; er befand sich im Zustand ausschweifendsten Behagens.

Plötzlich sagte Huck: „Was haben Piraten zu tun?“

„O, die haben zuweilen lustige Zeiten,“ belehrte Tom, „nehmen Schiffe weg und verbrennen sie, vergraben alles Gold daraus an einer unheimlichen Stelle ihrer Insel, wo Geister und solche Dinger sie bewachen, und töten alle auf dem Schiff — lassen sie über ‘ne Planke springen.“

„Und sie schleppen die Frauen auf ihre Insel,“ sagte Joe, „die Frauen töten sie nicht.“

„Nein,“ stimmte Tom zu, „sie töten keine Frauen — dazu sind sie zu edel, Und dann sind die Frauen auch immer wunderschön, immer!“

„Und tragen die aller-allerschönsten Kleider. Lauter Gold und Diamanten,“ sagte Joe wieder mit Begeisterung.

„Wer?“ fragte Huck.

„Na — die Piraten.“

Huck beschaute kritisch seine eigenen Kleider. „Ich schätze, ich wäre für ‘nen Piraten zu schlecht gekleidet,“ sagte er mit traurigem Pathos, „aber ich hab‘ keine anderen als diese.“

Aber die anderen beiden trösteten ihn damit, daß die schönen Kleider früh genug kommen würden, wenn sie nur erst mal ihr Abenteuerleben begonnen haben würden; sie machten ihm begreiflich, daß seine Lumpen es für den Anfang schon täten, obwohl es für bessere Piraten sich schickte, in anständigerer Garderobe zu erscheinen.

Allmählich wurde die Unterhaltung einsilbig und Müdigkeit begann sich auf die Augenlider der kleinen Landstreicher zu senken. Die Pfeife entfiel den Fingern des ‚Bluthändigen‘, und er schlief den Schlaf des Gerechten und des Müden.

Der ‚Schrecken des Meeres‘ und der ‚schwarze Rächer des spanischen Meeres‘ kamen nicht so leicht zum Schlafen. Sie sagten ihr Abendgebet innerlich und legten sich nieder, da niemand hier war, dessen Autorität sie hätte zwingen können, niederzuknien und es laut zu sprechen. In Wahrheit hatten sie Lust, es überhaupt nicht zu sprechen, aber sie hatten doch Furcht, soweit vom Wege abzuirren, um nicht ein plötzliches, speziell für sie bestimmtes Donnerwetter vom Himmel herabzubeschwören. Dann endlich befanden sie sich ganz dicht am Rande des Schlafes — als noch einmal ein Störenfried auftrat, der sich nicht abweisen lassen wollte. Es war das Gewissen. Sie begannen die unbestimmte Empfindung zu haben, daß sie doch wohl unrecht getan hätten, fortzulaufen. Danach dachten sie an die gestohlenen Lebensmittel und damit begann erst die rechte Selbstquälerei für sie. Sie versuchten sie von sich abzuwenden, indem sie sich des gestohlenen Zuckerwerks und der Äpfel erinnerten, die sie auf dem Kerbholz hatten. Aber das Gewissen ließ sich durch solche mageren Einwände nicht beruhigen. Es schien ihnen schließlich doch unmöglich, um die unumstößliche Tatsache herumzukommen, daß Äpfelstehlen lediglich „stibitzen“ sei, während das Forttragen von Schinken, Speckseiten und solchen Wertgegenständen nur als vollgültiger, klarer Diebstahl bezeichnet werden könne — und dagegen gab es ein Verbot in der Bibel! Worauf sie innerlich beschlossen, daß, solange sie auch bei dem Geschäft bleiben würden, ihre Seeräubereien nicht wieder durch das Verbrechen des Diebstahls gebrandmarkt werden sollten. Ihr Gewissen schloß auf dieser Grundlage denn auch Waffenstillstand, und diese merkwürdig inkonsequenten Piraten fielen in tiefen Schlummer.

«

»