Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

22. Kapitel

Die Ferien nahten heran. Der Lehrer, immer streng, wurde jetzt noch strenger und genauer, denn er wollte sich am Examenstage mit seiner Schule von der besten Seite zeigen. Rute und Lineal kamen jetzt selten zur Ruhe — besonders bei den kleinen Burschen. Nur die größten Jungen und die jungen Damen von achtzehn bis zwanzig kamen ohne Prügel davon.

Und Mr. Dobbins‘ Prügel waren noch dazu ganz ausgesucht. Denn obwohl er unter seiner Perücke einen vollkommen kahlen und glänzenden Schädel barg, stand er doch erst in mittleren Jahren und fühlte durchaus noch keine Schwäche in seinen Muskeln. Als der große Tag herannahte, trat alle Tyrannei, die in ihm war, zutage; er schien ein grausames Vergnügen daran zu finden, das kleinste Verbrechen zu bestrafen. Die Folge davon war, daß auch die kleinsten Burschen ihre Tage in Schrecken und Angst verbrachten, ihre Nächte in finsterem Rachebrüten. Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich zu spielen. Aber er blieb stets Sieger. Die Vergeltung, welche jeder Rachetat folgte, war so ausgiebig und großartig, daß die Jungen stets schmählich geschlagen den Kampfplatz verließen. Schließlich zettelten sie eine gemeinsame Verschwörung an und heckten einen Plan aus, der einen blendenden Erfolg versprach. Sie entdeckten sich dem Anstreicherlehrling, setzten ihm ihre Idee auseinander und forderten seine Beihilfe. Der hatte seine eigenen Gründe, davon entzückt zu sein, denn der Lehrer wohnte in seines Vaters Familie und hatte ihm hinreichend Anlaß gegeben, ihn zu hassen. Des Lehrers Frau wollte in wenigen Tagen zu einem Besuch aufs Land gehen, und so stand der Ausführung des Planes nichts entgegen. Der Lehrer pflegte sich für große Gelegenheiten dadurch vorzubereiten, daß er sich einen hübschen kleinen Rausch zulegte, und der Anstreicherlehrling sagte, daß, wenn am Examenstage des Lehrers Zustand die rechte Höhe erreicht haben würde, er die Sache schon machen wolle, während jener seinen Nicker mache; er wolle ihn dann noch eben zur rechten Zeit wecken und zur Schule expedieren.

Als die Zeit erfüllet war, trat dann das interessante Ereignis ein. Um acht Uhr des Abends war das Schulhaus festlich erleuchtet und mit Girlanden und Festons von Papier und Blumen geschmückt. Der Lehrer thronte in seinem großen Sessel auf einem erhöhten Podium, die schwarze Tafel hinter sich. Er sah leidlich angeheitert aus. Zwei Reihen Bänke auf jeder Seite und sechs ihm gegenüber wurden durch die Würdenträger des Ortes und die Eltern der kleinen Gesellschaft eingenommen. Zu seiner Linken, hinter den Reihen der Erwachsenen, war für diese Gelegenheit eine geräumige Plattform aufgestellt, auf der die Schüler saßen, die an den Übungen des Abends teilnehmen sollten. Reihen von kleinen Stöpseln zu einem höchst unleidlichen Zustand des Mißbehagens zurecht gewaschen und angezogen; Reihen von tölpelhaften größeren Jungen; weiß-strahlende Bänke von Mädchen und jungen Damen, in Leinen und Musselin gekleidet und augenscheinlich stolz auf ihre nackten Arme, ihren von der Großmama geerbten Schmuck, ihr Spitzwerk von rotem und blauem Band, und die Blumen in ihrem Haar. Der Rest des Saales war von unbeteiligten Schülern und Schülerinnen angefüllt.

Die Prüfung begann. Ein sehr kleiner Bengel stand auf und deklamierte mit schafsmäßigem Gesicht:

Kaum glaubt ihr, daß so‘n kleiner Mann
Hier vor euch stehn und sprechen kann — usw.

sich selbst mit den peinlich abgemessenen, krampfhaften Bewegungen begleitend, wie sie eine Maschine gemacht haben würde — noch dazu eine etwas aus der Ordnung geratene Maschine. Aber er schlüpfte leidlich, wenn auch zu Tode geängstigt, durch und erhielt ‘ne hübsche Menge Applaus, als er seine gezwungene Verbeugung produzierte und sich zurückzog.

Ein kleines, verschämtes Mädchen lispelte darauf: „Mary hat ein kleines Lamm“ usw., machte einen mitleiderregenden Knicks, erhielt ebenfalls ihren Anteil am Beifall und setzte sich, hochrot und glücklich.

Jetzt trat Tom mit gemachter Zuversicht vor und begann mit donnerndem Pathos das unverwüstliche „Gib mir Freiheit oder Tod —“ unter wilden, wahnwitzigen Gebärden zu deklamieren — und blieb in der Mitte stecken. Lähmende Angst packte ihn, die Knie zitterten unter ihm, er war nahe daran, zu ersticken. Es ist wahr, er hatte des Hauses Sympathie für sich, aber auch des Hauses Schweigen, was ebenso schwer wog wie jene. Der Lehrer runzelte die Stirn, und das vervollständigte seine Verwirrung.

Tom kämpfte noch ‘ne Weile und dann marschierte er ab, völlig geschlagen. Ein schwacher Versuch des Beifalls erstarb bald wieder.

Es folgte: „Der Knabe stand auf brennendem Deck“, „Hernieder kam einst Assurs Macht“ und andere deklamatorische Perlen. Dann wurden Leseübungen sowie ein Buchstabier-Gefecht vorgeführt. Die kleine Lateinklasse bestand mit Ehren. Der Hauptschlager des Abends kam jedoch jetzt erst, die „Originalaufsätze“ der jungen Damen. Der Reihe nach trippelten sie vor bis zum Rand der Plattform, räusperten sich, hoben ihr Manuskript (von einem zierlichen Band zusammengehalten) und begannen mit lobenswerter Beachtung des Ausdrucks und der Satzzeichen zu lesen. Die Themata waren dieselben, die bei ähnlichen Gelegenheiten vor ihnen von ihren Mamas, Großmamas und zweifellos all ihren weiblichen Vorfahren bis zurück zu den Kreuzzügen, gewählt worden waren. „Freundschaft“ hieß eins, „Erinnerungen früher Tage“ ein anderes; dann „Die Religion in der Geschichte“, „Das Land der Träume“, „Die Vorteile der Kultur“, „Vergleiche der politischen Staatsformen“, „Melancholie“, „Letzte Liebe“, „Wünsche des Herzens“ usw.

Ein vorwiegender Zug in all diesen Aufsätzen war eine erzwungene, aufdringliche Schwermut; ein anderer verschwenderischer Gebrauch hochtrabender, geschwollener Redensarten; ferner die Manier, Worte und Bilder zu Tode zu hetzen; was sie aber ganz besonders unerträglich machte, waren die unleidlichen, salbungsvollen Moralpauken, womit jeder, aber auch jeder abschloß.

Was auch der Gegenstand sein mochte, jedesmal gab‘s schließlich die krampfhaftesten Anstrengungen, ihn in solche Betrachtungen auslaufen zu lassen, damit Tugend und Frömmigkeit der Verfasserin nur ja gehörig ins rechte Licht gerückt würden. Die offenbare Verlogenheit dieser Machwerke war aber doch nicht imstande, Widerwillen gegen derartige Verwirrungen des Schulunterrichts zu erzeugen, und ist es überhaupt heutzutage nicht; wahrscheinlich war es überhaupt immer so, solange die Welt steht. Es gibt einfach keine Schule unseres Landes, wo sich die jungen Mädchen nicht verpflichtet fühlen, ihre Aufsätze mit solch einem Sermon zu schließen. Und man wird finden, daß die Sermone der verlogensten und am wenigsten wirklich religiösen Mädchen immer und ausnahmslos die längsten und frömmsten sind. Aber genug davon. Ein Prophet gilt ja nichts in seinem Vaterlande. Kehren wir zum Examen zurück. Der erste der vorgelesenen Aufsätze betitelte sich: „Ist dies das Leben?“ Vielleicht kann der Leser einen Auszug daraus vertragen.

„Mit welch überschwenglichen Gefühlen pflegt der jugendliche Geist vorwärts auf all die zu erwartenden Freudenfeste des Lebens zu schauen! Die Einbildungskraft ist geschäftig, rosig gefärbte Bilder der Freude zu malen. Im Geiste sieht sie sich als Günstling des Glückes, sieht sie sich inmitten strahlender Festlichkeiten, „die Siegerin aller Siegerinnen“. Ihre reizende Figur, in entzückende Kleider gehüllt, wirbelt durch alle Irrwege berauschender Tänze. Ihr Auge ist das glänzendste, ihr Fuß der leichteste in der ganzen jugendschönen Gesellschaft. In solch entzückenden Träumen rinnt die Zeit rasch und angenehm dahin, und die ersehnte Stunde ihres Eintrittes in die ersehnte Welt, von der sie so vielversprechend geschwärmt hat, schlägt. Wie märchenhaft erscheint alles ihren entzückten Blicken! Jedes neue Erlebnis scheint ihr schöner als das letzte. Aber bald findet sie, daß unter dieser verlockenden Hülle alles leer und schal ist. Schmeichelei, die einst ihren Stolz kitzelte, wirkt jetzt verletzend auf ihr Ohr. Der Ballsaal hat seinen Reiz eingebüßt; und mit verwüsteter Gesundheit und gebrochenem Herzen wendet sie sich ab, in dem Bewußtsein, daß irdische Freuden die Bedürfnisse der Seele nicht befriedigen können!“

Und so weiter, und so weiter. Von Zeit zu Zeit, während der Vorlesung, gab es kurzes Beifallsklatschen, von leise geflüsterten Ausrufen, wie: „Wie süß!“ „Äußerst gewandt!“ „So wahr!“ usw. begleitet, und nachdem die Sache mit einer besonders niederschmetternden moralischen Nutzanwendung beendet war, war der Applaus geradezu enthusiastisch.

Worauf ein schmächtiges, melancholisches Mädchen, dessen Gesicht die interessante Blässe besaß, die von Pillen und schlechter Verdauung herrührt, vortrat und ein sogenanntes Gedicht vorlas. Zwei Verse davon werden genügen.

Abschied eines Missouri-Mädchens von Alabama

„Leb wohl, Alabama! Wie liebe ich dich!
Doch jetzt für ‘ne Weile muß meiden ich dich!
Die Trauer um dich erfaßt mich mit Macht,
Sie hat mich um alle Freude gebracht!
Deine blühenden Wälder, wie oft sah ich sie,
Die Ströme und Seen — ich vergesse sie nie!
Ich lauschte so gerne dem Rauschen der Flut
Und frischte mich auf in Auroras Glut.
Warum verbergen mein übervoll Herz?
Warum nicht zeigen den brennenden Schmerz!
Ich scheide ja nicht aus fremdem Land,
Ich reich‘ ja nur Freunden die scheidende Hand!
hier war ich zu Hause, hier liebte man mich,
Du Tal meiner Heimat, nun meide ich dich!
Und wenn sie dich schmähen, die nie dich gekannt,
So muß ich verstummen — mein teures Land!!“

Eine dunkelhäutige, schwarzäugige und schwarzhaarige junge Dame war die nächste, machte eine ausdrucksvolle Pause, nahm eine tragische Pose ein und begann in gehaltenem Ton zu lesen.

Eine Vision

„Dunkel und stürmisch war die Nacht. Am ganzen Himmelszelt glänzte nicht ein einziger Stern, aber der dumpfe, tiefe Ton des rollenden Donners zitterte beständig im Ohr, während schreckliche Blitze in unheimlichen Windungen durch die dunklen Himmelsräume fuhren; und sie schienen die Gewalt zu verspotten, die sich der berühmte Franklin über sie angemaßt hat! Auch die ungestümen Winde fuhren unaufhörlich aus ihrer geheimnisvollen Heimat daher und fuhren herum, als wären sie gerufen worden, um die schreckliche Szene noch schrecklicher zu machen. In solchem Augenblick, so dunkel, so traurig, sehnte sich mein Geist, ach, so sehr nach menschlicher Sympathie; und

„Da plötzlich, ein Wunder, sie neben mir stand,
Die Freundin im Kummer, mit tröstender Hand!“

Sie schwebte gleich einer jener Lichtgestalten, die in ihrem Sonnenflug die romantische Phantasie der Jugend malt, daher, eine Königin der Schönheit, nur mit ihrer eigenen überirdischen Lieblichkeit bekleidet. So leicht war ihr Tritt, er schien kein Geräusch hervorzubringen, und ich empfand ihre Gegenwart nur durch den magischen Schauer, der mich bei ihrer Berührung durchrieselte — sonst wäre sie gleich anderen körperlichen Schönheiten unbemerkt, ungesehen entschwebt. Strenge Trauer lag auf ihren Zügen, gleich eisigen Tränen auf dem Gewande des Dezember, als sie auf die kämpfenden Elemente draußen wies und mich aufforderte, die zwei Wesen zu betrachten.“

Zehn Seiten Manuskript waren mit diesem nächtlichen Geisterspuk bedeckt, und sie schlossen mit einem so sehr alle Hoffnungen für jeden Nichtkirchlichgesinnten vernichtenden Sermon, daß die Arbeit den ersten Preis erhielt.

Der Aufsatz wurde für die ausgezeichnetste Arbeit des Abends erklärt. Der Bürgermeister hielt, indem er der Siegerin den Preis überreichte, eine warme Ansprache, worin er sagte, es wäre weitaus „das beredsamste Ding, das er je gehört habe, und Daniel Webster selbst könnte sehr wohl darauf stolz sein.“

Beiläufig möge bemerkt werden, daß die Zahl der Arbeiten, in denen das Wort „wundervoll“ überwog, und menschliche Erfahrung „eine Seite des Lebens“ genannt wurde, die übliche Höhe erreichte.

Nunmehr schob der Lehrer, allmählich bis an die Grenze der Möglichkeit angeheitert, seinen Stuhl beiseite, zeigte dem Publikum seinen Rücken und machte sich dran, eine Karte von Amerika an die Wandtafel zu malen, um die Geographieklasse vorzunehmen. Es wollte ihm aber bei seiner unsicheren Hand nicht gelingen, und ein unterdrücktes Kichern lief durch den Saal. Er wußte, was die Uhr geschlagen hatte, und nahm sich tüchtig zusammen. Er wischte die Linien aus und zog sie nochmals. Aber er machte es diesmal noch schlechter als vorher, und das Kichern wurde lauter. Er nahm sich jetzt innerlich an den Ohren, wandte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit, als gelte es, sich nicht von der allgemeinen Heiterkeit unterkriegen zu lassen. Er fühlte, daß aller Augen an ihm hingen. Er bildete sich ein, daß es ihm diesmal gelänge, und jetzt nahm das Kichern noch mehr, es nahm ganz zweifellos zu. Und es war kein Wunder.

Es gab da eine Dachstube, die gerade über seinem Kopf durch eine Falltür verschlossen war. Durch diese Falltür erschien eine Katze, an einem um ihren Leib gelegten Strick gehalten. Ein Tuch war ihr über den Kopf gebunden, damit sie nicht schreien sollte. Indem sie langsam heruntergelassen wurde, wand sie sich aufwärts und griff nach dem Seil, wand sie sich nach unten und griff in die leere Luft. Das Kichern wurde stärker und stärker, die Katze war keine sechs Zoll mehr vom Kopf des geistesabwesenden Lehrers entfernt; tiefer, tiefer, noch ein bißchen, und sie schlug ihre Krallen in verzweifelter Wut in die Perücke, und wurde im nächsten Moment mit ihrer Trophäe in die Dachstube zurückgezogen. Und welcher Glanz von des Lehrers kahlem Schädel ausging, den der Anstreicherlehrling goldig gefärbt hatte!

Das hob die Versammlung auf. Die Jungen waren gerächt — die Ferien da!

(Anmerkung. Die oben angeführten anspruchsvollen „Aufsätze“ sind ohne jede Änderung einem Buche entnommen, betitelt „Prosa und Poesie, von einer Dame des Westens“, sind aber genau nach der Schulmädelmanier gemacht und daher viel glücklichere Beispiele, als irgendwelche Nachbildungen hätten sein können.)

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