Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

30. Kapitel

Das erste, was Tom am Freitagmorgen vernahm, war eine freudige Nachricht — Familie Thatcher war in der Nacht vorher zurückgekommen! Beides, Joe und der Schatz, sanken für den Augenblick zu sekundärer Bedeutung herunter, und Becky nahm Toms ganzes Interesse in Anspruch. Er sah sie und sie verlebten wundervolle Stunden mit einigen Schulkameraden, „Blindekuh“ und „Fangen“ spielend. Der Tag war tadellos und wurde in ganz besonders befriedigender Weise beschlossen.

Becky erbettelte von ihrer Mutter die Erlaubnis, den nächsten Tag für das lang‘ versprochene und lang‘ ersehnte Picknick festzusetzen, und diese willigte ein. Das Entzücken der Kinder war grenzenlos, Toms nicht am wenigsten. Noch vor Sonnenuntergang wurden die Einladungen versandt und das gesamte junge Volk im Dorfe geriet in ein wahres Fieber von Vorfreude und angenehmer Erwartung.

Tom wurde durch seine Aufregung bis zu später Stunde wachgehalten und hoffte beständig Huck miauen zu hören und am nächsten Tage Becky und alle Teilnehmer am Picknick mit seinem Schatz in Erstaunen setzen zu können. Aber er wurde enttäuscht. Kein Zeichen ließ sich hören.

Endlich brach der Morgen an, und um zehn oder elf Uhr versammelte sich eine ausgelassene, freudestrahlende Gesellschaft bei Thatchers, alles war zum Aufbruch bereit.

Es war nicht die Gewohnheit der Erwachsenen, Picknicks mit ihrer Gegenwart zu stören. Man glaubte die Kinder unter den Fittichen von ein paar jungen Damen von achtzehn und ein paar jungen Herren von dreiundzwanzig oder so sicher genug. Das alte Dampfboot war für die Gelegenheit gemietet worden. Bald war der ganze Weg von der lustigen, mit Vorratsbeuteln bepackten Bande erfüllt. Sid war krank und hatte zu Hause bleiben müssen; Mary blieb gleichfalls, um ihm Gesellschaft zu leisten.

Das letzte, was Mrs. Thatcher zu Becky sagte, war: „Komm‘ nur nicht zu spät zurück. Vielleicht wird‘s besser sein, Kind, du bleibst zur Nacht bei einem von den Mädchen, das näher bei der Überfahrt wohnt.“

„Dann bleib‘ ich bei Susy Harper, Mama!“

„Schon gut. Und benimm dich ordentlich und treib‘ keinen Unsinn!“

Sobald sie fort waren, sagte Tom zu Becky: „Du — ich will dir sagen, was wir tun! Statt zu Joe Harper zu gehn, klettern wir auf den Hügel rauf und gehn zur Witwe Douglas. Die hat sicher Eiscreme! Sie hat fast immer was — ‘nen ganzen Haufen. Und sie wird sich schrecklich freuen, uns zu haben!“

„Ach, das wird schön werden!“ Dann dachte Becky einen Augenblick nach und sagte: „Aber was wird Mama sagen?“

„Woher soll sie‘s denn erfahren?“

Das Mädchen überlegte sich die Sache und sagte zögernd: „Ich denk‘ doch, ‘s ist unrecht — aber —“

„Aber — Unsinn! Deine Mama erfährt‘s nicht, was schad‘s also? Sie will doch nur, daß du irgendwo gut aufgehoben bist, und glaub‘ nur, sie würd‘ selbst gesagt haben, du solltst dahin gehen, wenn sie nur dran gedacht hätt‘. Ich weiß, sie hätt‘s!“

Die glänzende Gastfreundschaft der Witwe Douglas war ein verlockender Köder. Das und Toms Beredsamkeit behielten die Oberhand. So wurde beschlossen, niemand was von dem Programm für die Nacht zu sagen.

Plötzlich fiel Tom ein, Huck könne gerade in dieser Nacht kommen und das Zeichen geben. Der Gedanke machte ihn ein wenig nachdenklich. Schließlich konnte er‘s aber doch nicht übers Herz bringen, das Projekt mit der Witwe Douglas aufzugeben. Und warum sollte er es aufgeben — war das Zeichen in der letzten Nacht nicht gekommen, warum sollte es denn wohl gerade in dieser Nacht kommen? Die Aussicht auf das sichere Vergnügen des Abends schlug die unbestimmte auf den Schatz aus dem Felde. Und — wie Kinder sind — er beschloß ganz der stärkeren Anziehungskraft zu folgen und sich während des ganzen Tages keinen Gedanken an das Geld zu gestatten.

Drei Meilen unterhalb des Dorfes legte das Dampfboot an einem bewaldeten Hügel an. Die Gesellschaft schwärmte hinaus und bald hallten die entlegensten Teile des Waldes und die unzugänglichsten Höhen von Geschrei und Lachen wider. Alle Mittel, heiß und müde zu werden, wurden gewissenhaft angewandt, und allmählich strömten alle Ausflügler zurück zum Lager, mit tüchtigem Hunger ausgestattet und dann begann die Vernichtung der guten Sachen. Nach dem Frühstück wurde eine erfrischende Ruhepause im Schatten breitästiger Eichen gemacht. Dann rief auf einmal jemand: „Wer will mit zur Höhle?“

Alles wollte. Bündel von Kerzen wurden zusammengerafft und geradenwegs hinauf auf den Hügel. Die Mündung der Höhle war hoch oben, ein offenes Tor in der Form des Buchstabens A. Die massive eichene Tür stand offen. Dahinter tat sich ein kleiner Raum auf, kalt wie ein Eiskeller und von der Natur durch solide Kalkmauern eingefaßt, die von kalter Feuchtigkeit bedeckt waren.

Es war romantisch und geheimnisvoll, hier in tiefer Dunkelheit zu stehen und auf die grünen, in der Sonne glänzenden Laubmassen hinauszuschauen. Aber der überwältigende Eindruck nahm schließlich doch bedeutend ab und das Umhertollen begann wieder. Jeden Augenblick wurde eine Kerze angezündet, dann stürzte sich alles auf den, der sie trug, ein Kampf und mutige Verteidigung folgten, aber die Kerze war bald zu Boden geschlagen oder ausgeblasen, und dann gab‘s allgemeines Gelächter und eine neue Jagd. Aber alles hat ein Ende. Allmählich begab sich der Zug tiefer in die Höhle hinab, immer tiefer, wobei der flackernde Schein der Lichter die mächtigen Felswände fast bis zu ihrer vollen Höhe von sechzig Fuß ungewiß beleuchtete.

Der Weg war hier nicht mehr als acht oder zehn Fuß breit. Alle paar Schritt taten sich noch engere, hohe Gänge nach beiden Seiten auf, denn die Douglashöhle war nichts als ein wildes Labyrinth von verzweigten Gängen, die überall auseinander liefen, um sich doch immer wieder zu treffen. Man sagte, es könne jemand viele Tage und Nächte durch dies unglaubliche Gewirr von Gängen und Spalten irren, ohne jemals das Ende der Höhle zu finden; und daß er tiefer und immer tiefer, bis in den Mittelpunkt der Erde dringen könne, und es wäre doch immer dasselbe — Labyrinth unter Labyrinth, und nirgends ein Ende. Niemand „kannte“ die Höhle; das war unmöglich. Die meisten der jungen Leute kannten einen Teil davon und so leicht wagte sich niemand über diesen bekannten Teil hinaus. Tom Sawyer kannte so viel von der Höhle wie alle anderen.

Ungefähr dreiviertel Meilen marschierte man in geschlossenem Zug durch den Hauptgang, dann begannen sich einzelne Haufen und Paare seitwärts in die Nebengänge zu zerstreuen, durch die unheimlichen Gänge laufend, um sich schließlich zu gegenseitiger Überraschung an irgend einem Punkt wieder zu treffen. Man konnte wohl eine halbe Stunde auch hier im bekannten Teil herumstreifen, ohne einander zu begegnen.

Schließlich kam Paar auf Paar zur Höhle zurückgeschlendert, mit Talg bespritzt, kalkbeschmiert und ganz berauscht von den Herrlichkeiten des Tages. Dann waren alle ganz überrascht, daß sie so wenig auf die Zeit geachtet hatten und es schon fast Nacht war. Schon seit einer halben Stunde hatte die Schiffsglocke zum Aufbruch gemahnt. Indessen, auch diese Art, die Abenteuer des Tages zu beschließen, war romantisch und deshalb befriedigend. Als das Dampfboot mit seiner ausgelassenen Fracht vom Ufer abstieß, kümmerte sich niemand ‘nen Deut um die versäumte Zeit — außer dem Kapitän.

Huck befand sich bereits auf seinem Wachposten, als die Lichter des Dampfbootes an der Landungsstelle vorbeiglitten. Er hörte keinen Ton an Bord, denn das Volk war so zahm geworden, wie man zu sein pflegt, wenn man sich halbtot gehetzt hat.

Er grübelte darüber, was für ein Boot das sein möge und warum es nicht am gewöhnlichen Ort anlege — und dann vergaß er es und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf seine eigene Angelegenheit. Die Nacht war bewölkt und dunkel. Zehn Uhr schlug‘s, das Wagengerassel schwieg, die Lichter begannen zu verlöschen, der Lärm der Fußgänger verstummte nach und nach — das Dorf ging zur Ruhe und überließ den kleinen Wächter dem Schweigen und den Gespenstern. Elf Uhr schlug‘s, und das Licht im Wirtshaus erlosch; jetzt herrschte überall Finsternis. Huck wartete, schien ihm, sehr lange Zeit, aber nichts geschah. Unruhe überkam ihn. Wenn alles umsonst war? Wenn er genarrt wurde? Warum nicht die Sache aufgeben und sich davon machen?

Da hörte er eine Stimme. Sofort war er ganz Aufmerksamkeit. Vorsichtig wurde die Gangtür geschlossen. Schnell drückte er sich in eine Ecke an der Mauer. Im nächsten Augenblick huschten zwei Männer vorbei, und einer schien etwas unter dem Arm zu haben. Das mußte die Kiste sein! So wollten sie also heute den Schatz vergraben. Ob er Tom weckte? Es wäre Wahnsinn gewesen — die Leute wären mit der Kiste entwischt und niemand hätte sie jemals gefunden. Nein, er wollte ihnen folgen; er wollte sich unter dem Schutze der Finsternis ihnen an die Fersen heften. So mit sich selbst sprechend, kam Huck hervor und glitt hinter den Männern her, leise wie eine Katze, barfuß, gerade so weit von ihnen entfernt, um nicht gesehen zu werden.

Eine Zeitlang gingen sie die Flußstraße aufwärts und wandten sich dann durch eine kleine Gasse seitwärts. Immer steil hinauf kamen sie schließlich an den Weg, der nach Cardiff Hill hinaufführte; diesen schlugen sie ein. Sie kamen am Haus des alten Wallisers vorbei, in halber Höhe des Hügels, und stiegen, ohne sich aufzuhalten, immer noch höher. Gut, dachte Huck, sie werden‘s im alten Steinbruch vergraben. Aber auch da hielten sie nicht an. Sie gingen vorbei, ganz auf den Hügel. Dann schwenkten sie in den Weg durch den großen Sumachwald ein und waren auf einmal in der Finsternis verschwunden. Huck beeilte sich die Entfernung zu verringern, denn er war sonst nicht mehr imstande, sie im Auge zu behalten. Eine Weile rannte er vorwärts; dann hielt er inne, aus Furcht, zu weit geraten zu sein; rannte wieder ein Stück vorwärts, und hielt wieder; horchte; nichts zu hören; nur, daß er das Klopfen des eigenen Herzens hörte. Der Schrei einer Eule ertönte — unheilverkündend; aber keine Fußtritte. Himmel, hatte er sie verloren? Er war im Begriff, Hals über Kopf vorwärts zu stürzen, als jemand nicht vier Fuß vor ihm sich räusperte. Das Herz fuhr Huck in die Kehle, aber er bezwang sich. Und dann stand er da, zitternd, als hätten ihn tausend Fieber auf einmal gepackt, und so schwach, daß er gleich umfallen zu müssen meinte. Er wußte, wo er war. Er wußte, er war nicht fünf Schritt von dem Zaun entfernt, der um den Grund und Boden der Witwe Douglas führte. „Famos,“ dachte er, „mögen sie‘s hier vergraben, ‘s wird nicht schwer sein, es hier wieder zu finden.“

Jetzt hörte er eine leise Stimme — eine sehr leise Stimme — die des Indianer-Joe:

„Hol sie der Teufel — muß sie grad‘ heut Gesellschaft haben — ‘s ist Licht, so spät‘s auch ist!“

„Kann nicht sehn!“

Dies war des Fremden Stimme — des Fremden aus dem Beinhaus. Tödlicher Schreck durchfuhr Hucks Herz — dies also war die „Rache!“ Sein erster Gedanke war auszureißen. Dann erinnerte er sich, wie die Witwe Douglas mehr als einmal freundlich gegen ihn gewesen sei — und wer weiß, ob diese da nicht die Absicht hatten, sie zu ermorden! Er sehnte sich nach einer Gelegenheit, sie zu warnen. Aber er wußte, er könnte ‘s nicht wagen; sie würden ihn kriegen und umbringen. All dies und noch anderes ging ihm in einem Augenblick durch den Kopf zwischen den Worten des Fremden und den nächsten Joes.

„Weil der Busch dir im Wege ist. So — hierher — kannst du jetzt sehn?“

„Ja. Denk auch, ‘s ist Gesellschaft da. Besser, wir geben‘s auf.“

„Aufgeben, wo ich dies Land für immer verlassen soll! Aufgeben und nie wieder ‘ne Gelegenheit haben! Sag‘ dir nochmal, was ich dir schon mal gesagt hab‘ — brauch‘ ihre Pfennige nicht — kannst du haben. Aber ihr Mann war gemein gegen mich — oft genug — und er war der Richter, der mich zu ‘nem Landstreicher gemacht hat. Und ‘s ist nicht alles! ‘s ist noch nicht der millionste Teil davon! Gepeitscht hat er mich — gepeitscht vorm Gefängnis — wie ‘nen Nigger! Das ganze Dorf konnt‘s sehen! Gepeitscht!! Verstehst du? Er ist mir zuvorgekommen — er ist tot. Aber sie soll dran!“

„Bitt‘ dich — töt‘ sie nicht! Tu‘s nicht!“

„Töten? Wer spricht von töten? Ihn würd‘ ich abschneiden, wenn er hier wär‘ — sie nicht. Wenn man sich an ‘ner Frau rächen will — die muß man an der Fratze packen! Schneid‘t ihr die Nase auf und stutzt ihr die Ohren — wie ‘nem Schwein!“

„Teufel —“

„Behalt deine verdammte Meinung für dich! Wird‘s beste für dich sein! Werd‘ sie ans Bett festbinden. Wenn sie sich zu Tode blutet — was kann ich dafür? Werd‘ nicht drum heulen, wenn sie‘s tut. Du, mein Freund — wirst mir dabei helfen — auf meine Rechnung — hab‘ dich nur dazu mitgenommen — möcht‘ für mich allein zu viel sein. Wenn du davonläufst, hau‘ ich dich zusammen — verstehst du? Und wenn ich dich töte, bring‘ ich sie auch um — und dann, denk‘ ich, kann keiner ‘rauskriegen, wer das Geschäft besorgt hat.“

„Na, wenn‘s geschehen muß, rasch dran! Je eher, desto besser — mir läufts ohnehin schon über.“

„Jetzt tun? Wo Gesellschaft da ist? Sollt‘ dir wahrhaftig nicht trauen, scheint mir! — Nichts da — wollen warten, bis die Lichter aus sind — ‘s hat keine Eile.“

Huck fühlte, daß jetzt Stillschweigen eintreten werde — schrecklicher als das mörderischste Geschrei; so hielt er den Atem an und zog sich vorsichtig zurück, wobei er die Füße vorsichtig und fest aussetzte, immer auf einem Bein balanzierend, tastend und sich auf eine Seite legend, bald auf diese; dann auf die andere; und dann knackte ein Zweig unter seinen Füßen! Er hielt den Atem an und horchte. Nichts zu hören — vollkommene Stille. Seine Dankbarkeit war grenzenlos. Nun wandte er sich um, so vorsichtig, als wäre er ein Schiff gewesen, und trabte dann rasch, aber vorsichtig davon. Beim Steinbruch angekommen, hielt er sich für sicher; so nahm er die Beine unter die Arme und rannte in gestrecktem Galopp davon. Hinunter, immer weiter hinunter, bis er das Haus des Wallisers erreicht hatte. Er klopfte an die Tür und sofort erschienen die Köpfe des alten Mannes und seiner zwei handfesten Söhne am Fenster.

„Wer spektakelt da? Was für‘n Lärm draußen? Was gibt‘s?“

„Laßt mich ein — schnell! Werd‘ euch alles sagen!“

„So — wer ist‘s denn?“

„Huckleberry Finn — schnell, laß mich rein!“

„Huckleberry Finn — so! ‘s ist ein Name, denk ich, dem sich nicht viel Türen öffnen! Aber laßt ihn ‘rein, Burschen, woll‘n sehen, was er hat.“

„In des Himmels Namen — sagt‘s niemand, daß ich euch was erzählt hab‘,“ waren Hucks erste Worte, als er hineingelassen war. „Tut‘s nicht — würd‘ sicher getötet — aber die Witwe ist oft genug freundlich gegen mich gewesen und ich werd‘s sagen — werd‘s sagen, wenn ihr versprecht, nicht zu sagen, daß ich‘s gesagt hab‘.“

„Bei St. Georg — er hat was zu sagen — oder er tät‘ nicht so,“ rief der Alte. „Heraus damit, und daß ihr‘s niemand sagt, Burschen!“

Drei Minuten später waren der Alte und seine Söhne wohlbewaffnet oben auf dem Hügel und drangen auf den Zehen in den Sumachwald ein, die Büchse in der Hand.

Huck begleitete sie nicht weiter. Er verbarg sich hinter einem Felsblock und lauschte.

Langes, angstvolles Schweigen — und dann plötzlich ein Schuß und ein Schrei!

Huck wartete nichts weiter ab. Er sprang auf und rannte den Hügel hinunter, so schnell ihn seine Beine tragen wollten.

«

»