Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

32. Kapitel

Kehren wir jetzt wieder zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück. Mit der übrigen Gesellschaft trieben sie sich durch die finsteren Gänge, die bekannten Wunder der Höhle betrachtend — mit hochtrabenden Bezeichnungen wie „Gesellschaftszimmer“, „Kathedrale“, „Aladins Palast“ usw. ausgestattete Wunder. Als dann das lustige Fangen und Verstecken begann, beteiligten sich Tom und Becky eifrig daran, bis auch das allmählich langweilig wurde. Darauf spazierten sie eine gewundene Felsgasse hinunter, indem sie mit hochgehaltenen Kerzen die halb von Spinnweben verdeckten Namen, Daten, Postorte und Mottos lasen, mit denen die Wände verziert waren.

Als sie so allein und plaudernd weitertrieben, merkten sie schließlich, daß sie sich bereits in einem Teil der Höhle befanden, der keine solchen Inschriften aufwies. Sie kritzelten ihre eigenen Namen mit Kerzenrauch unter einen Felsvorsprung und gingen weiter. Plötzlich kamen sie an eine Stelle, wo eine Quelle, über Geröll herunterrieselnd und Kalkstückchen mit sich treibend, durch endlose Jahrhunderte einen kleinen Niagara über in ewige Finsternis gehüllte unveränderbare Felsen bildete. Tom zwängte seinen kleinen Körper darunter, um den Wasserfall zu illuminieren. Er fand, daß er eine Art natürliche steinerne Treppe in die Tiefe verbarg, welche zwischen schmalen Wänden eingeklemmt war. Die Begierde, den Entdecker zu spielen, ergriff ihn sofort. Becky stimmte ihm bei, und sie machten zur Sicherheit wieder ein Rauchzeichen und machten sich auf die Suche. Sie verfolgten diesen Weg, brachten tief in den tiefsten Abgründen der Höhle noch mehrere solche Zeichen an und trieben sich dann kreuz und quer herum, um Dinge zu entdecken, mit denen sie die Oberwelt verblüffen könnten. Irgendwo fanden sie eine große Höhle, von deren Wölbung eine große Menge schimmernder Tropfsteine, von der Länge und dem Umfange eines Mannes herunterhingen. Staunend und sich verwundernd gingen sie hindurch und plötzlich mündete die Höhle in einen engen Gang, und dieser brachte sie zu einem bezaubernd schönen Springbrunnen, dessen Becken mit einer Eisschicht glänzenden Kristalls bedeckt war. Er befand sich in der Mitte eines hallenartigen Raumes, dessen Wände getragen wurden von einer Reihe phantastisch geformter, aus Tropfstein gebildeter Säulen, das Resultat durch Jahrtausende ruhelos fallender Wassertropfen. Unter der Wölbung hatten sich riesige Ballen von Fledermäusen gebildet, viele tausend aneinander hängend; die Lichter schreckten die Tiere auf, und sie kamen hundertweise herunter, quiekend und wahnsinnig auf die Flammen der Kerzen losstürzend. Tom kannte ihre Art und die Gefahr, die hier entstand. Er griff Becky bei der Hand und zog sie in den ersten sich auftuenden Gang; und nicht zu früh, denn eine Fledermaus löschte mit ihrem Flügel Beckys Licht aus, während sie aus der Höhle rannten. Die Tiere verfolgten die Kinder noch eine gute Strecke, aber die Flüchtlinge stürzten sich in jeden neuen Gang und entgingen so schließlich der gefährlichen Situation. Tom entdeckte einen unterirdischen See, dessen düsteres Wasser weit entfernt sich im Schatten des Unbekannten verlor. Tom wollte seine Ufer umwandern, meinte aber, es möchte besser sein, sich vorher zu setzen und eine Weile zu ruhen. Jetzt, zum erstenmal legte sich die tiefe Stille der Umgebung gleich einer feuchten Hand auf die Gemüter der Kinder.

Becky sagte: „Weißt du, drauf geachtet hab‘ ich ja nicht, aber es scheint mir so lange her, seit ich die andern gehört hab‘.“

„Na, Becky, denk‘ doch nur, wir sind doch tief unter ihnen, und ich weiß nicht, wie weit nördlich oder südlich oder westlich oder was sonst. Können sie hier unmöglich hören.“

Becky wurde ängstlich. „Möcht‘ doch wissen, wie lang‘ wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieber umkehren.“

„Ja, denk auch, ‘s ist besser. Vielleicht ist‘s besser.“

„Kannst du den Weg finden, Tom? Für mich ist‘s ein reiner Irrgarten.“

„Denk wohl, ich könnt ‘n finden. Aber dann die Fledermäuse, wenn die uns die Kerzen ausmachen, ist‘s ‘ne schreckliche Sache. Laß uns ‘nen anderen Weg versuchen, wo wir nicht durch müssen.“

„Ja, aber ich hoff‘, wir werden uns nicht verlaufen. ‘s wär doch zu gräßlich.“

Und das Kind schüttelte sich schaudernd beim bloßen Gedanken an die furchtbare Möglichkeit.

Sie verfolgten einen Gang lange Zeit schweigend, nach jeder neuen Öffnung schauend, ob sich dort nicht eins ihrer Merkmale sehen lasse; aber nichts war zu sehen. So oft Tom seine Untersuchung anstellte, durchforschte Becky sein Gesicht nach einem ermutigenden Zeichen, und er sagte zuversichtlich: „O, ‘s ist schon recht! Der da ist‘s noch nicht, aber wir werden schon zum rechten kommen!“ Aber bei jedem mißlungenen Nachforschen fühlte er weniger und weniger Zuversicht, und schließlich begann er auf gut Glück in jeden sich öffnenden Gang einzulenken, in der verzweifelten Hoffnung, zu finden, was so bitter not tat. Er sagte immer noch: „‘s wäre recht,“ aber auf seinem Herzen lastete solch lähmende Angst, daß die Worte ihren Klang verloren hatten und klangen, als habe er gesagt: „Alles ist verloren.“ Becky, halbtot vor Furcht, schmiegte sich an ihn und versuchte, krampfhaft die Tränen zurückzuhalten, aber sie kamen doch. Schließlich sagte sie: „O, Tom, was tun die Fledermäuse. Laß uns denselben Weg zurückgehen! Wir kommen ja weiter und immer weiter ab.“

Tom blieb stehen „Horch,“ sagte er.

Tiefe Stille; so tiefe Stille, daß sogar ihr Atem hörbar wurde. Tom schrie. Der Schall dröhnte durch die hohlen Gänge und erzeugte hundertfaches Echo, um in der Ferne in einem schwachen Ton zu ersterben, der wie höhnisches Lachen klang.

„O, tu‘s nicht wieder, Tom! ‘s ist zu gräßlich,“ flehte Becky.

„‘s ist gräßlich, aber ‘s muß sein, Becky. Sie könnten uns doch hören, weißt du.“

Und er schrie abermals. Dieses „könnte“ war ebenso schrecklich wie das höhnische Lachen, es sprach so völlige Hoffnungslosigkeit daraus. Die Kinder verharrten in Schweigen und lauschten. Aber nichts war zu hören. Plötzlich wandte Tom sich auf demselben Weg zurück und beeilte seine Schritte. Es dauerte gar nicht lange, da enthüllte eine gewisse Unsicherheit in seinen Bewegungen Becky eine neue schreckliche Tatsache: er konnte den Weg nicht wiederfinden!

„Ach, Tom, du hast keine Zeichen mehr gemacht!“

„Becky, was war ich für ‘n Esel! Was für ‘n Esel! Dachte gar nicht dran, daß wir wieder zurück müßten. Und jetzt kann ich den Weg nicht mehr finden; ‘s geht ja so durch‘nander!“

„Tom, Tom, wir sind verloren! wir sind verloren! Nie, nie wieder kommen wir aus dieser gräßlichen Höhle heraus! Ach, warum sind wir nicht bei den anderen geblieben!“

Sie sank nieder und brach in so herzzerreißendes Weinen aus, daß Tom von dem Gedanken gepackt wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren. Er setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie, sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, sie weinte sich aus, klagte sich an, zerfloß in nutzloser Reue; und das ferne Echo gab alles als höhnisches Gelächter zurück. Tom bat sie, wieder Mut zu fassen, und sie sagte, sie könne es nicht. Er begann, sich selbst bitter anzuklagen, da er sie in diese fürchterliche Lage gebracht habe. Dies wirkte. Sie sagte, sie wolle wieder Hoffnung zu fassen versuchen, sie wolle sich aufraffen und ihm folgen, wohin er sie auch führen würde, wenn er nur so etwas nicht wieder reden wolle; denn er sei nicht schlimmer als sie selbst.

So setzten sie sich also wieder in Bewegung — ziellos, lediglich dem Zufall sich überlassend. Alles, was sie tun konnten, war ja, vorwärts zu gehen. Während kurzer Zeit belebte sie schwache Hoffnung, nicht auf Grund irgendwelcher Überlegung, sondern lediglich, weil es in der Natur liegt, zuversichtlich zu sein, so lange Alter und die Gewohnheit des Mißlingens ihr noch nicht die Schwingen gebrochen haben. Plötzlich nahm Tom Beckys Kerze und blies sie aus. Diese Sparsamkeit sprach schrecklich deutlich. Worte waren nicht nötig. Becky verstand, und ihre Hoffnung starb wieder. Sie wußte, Tom hatte eine ganze Kerze und drei oder vier Stückchen in der Tasche — und doch mußte er sparen!

Dann begann sich Müdigkeit geltend zu machen. Die Kinder versuchten, ihr nicht nachzugeben, denn der Gedanke, sich zu setzen und dadurch eine Menge kostbarer Zeit zu verlieren, stachelte sie wieder auf; sich bald in dieser, bald in jener Richtung fortzubewegen, war doch immerhin Fortschritt und konnte irgend welchen Erfolg haben; aber sich setzen, hieß den Tod herbeirufen und beschleunigen.

Schließlich versagten Beckys zarte Glieder den Dienst, sie setzte sich. Tom blieb bei ihr, und sie sprachen von zu Hause, ihren Freunden, ihren bequemen Betten, und vor allem — dem Tageslicht! Becky weinte, und Tom zermarterte sich das Hirn, um etwas zu ihrer Aufheiterung zu finden, aber all seine ermunternden Worte waren längst verbrauchte Argumente und klangen wie Hohn. Schließlich drückte die Erschöpfung so schwer auf Becky, daß sie in Schlaf verfiel. Tom war glücklich. Er saß da, starrte in ihr bekümmertes Gesichtchen und sah es sich immer mehr aufhellen unter dem Einfluß angenehmer Träume; schließlich breitete sich ein Lächeln darüber aus. Auch auf ihn schien aus diesen friedvollen Gesichtszügen etwas wie Frieden und Vergessenheit überzugehen, seine Gedanken verloren sich in vergangenen Tagen und zauberten schöne Erinnerungen hervor. Während er tief darin versunken war, wachte Becky mit einem reizenden, kleinen Lachen auf — aber es erstarb ihr auf den Lippen, und ein Stöhnen folgte ihm.

„O, wie konnte ich schlafen! Ich wollt‘, ich wär‘ nie, nie wieder aufgewacht! Nein, nein, Tom, ‘s ist ja nicht wahr, Tom! Schau nicht so! Ich will‘s ja nicht wiedersagen!“

„Becky, ich war so froh, daß du schliefst; jetzt bist du wieder stark, und wir werden den Weg heraus schon finden!“

„Wollen‘s versuchen, Tom! Aber ich hab‘ im Traum so ‘n schönes Land gesehen. Ich glaub‘ dahin gehen wir beide jetzt.“

„Nein, nein! Sei lieb, Becky, und laß uns gehen und ‘s versuchen.“

Sie standen auf und gingen weiter, Hand in Hand und hoffnungslos. Sie versuchten, sich vorzustellen, wie lange sie schon in der Höhle seien, aber alles, was sie wußten, war, daß es Tage und Wochen schienen, und doch war‘s nicht möglich, da ihre Kerzen ja immer noch brannten.

Eine lange Zeit war vergangen — sie hätten nicht sagen können, eine wie lange — als Tom vorschlug, leise zu gehen und zu horchen, ob sie nicht irgendwo Wasser tropfen hörten, sie müßten eine Quelle finden. Bald fanden sie wirklich eine, und Tom meinte, es sei wieder an der Zeit, auszuruhen. Beide waren schrecklich müde, doch Becky erklärte, noch weiter gehen zu können. Sie wunderte sich, daß Tom widersprach. Sie verstand das nicht. Sie setzten sich und Tom befestigte seine Kerze an der Wand vor ihnen. Wieder wurde ihnen schwer zumute. Lange herrschte tiefes Schweigen. Da wimmerte Becky: „Tom, ich bin so hungrig!“

Tom zog etwas aus der Tasche. „Kennst du das?“ fragte er.

Becky lächelte beinahe. „‘s ist unser Hochzeitskuchen, Tom!“

„Ja — wollt‘, ‘s wär‘ so groß wie ‘n Balken, denn ‘s ist alles, was wir haben.“

„Ich hab‘s vom Picknick aufbewahrt, Tom, um davon zu träumen, wie ‘s die erwachsenen Leute mit dem Hochzeitskuchen machen — aber nun wird‘s unser —“

Sie ließ den Satz unvollendet. Tom teilte den Kuchen und Becky aß mit Appetit, während er nur daran herumknapperte. Es gab eine Menge kaltes Wasser — zum Beschluß der Mahlzeit. Bald schlug Becky vor, weiter zu gehen. Tom schwieg einen Augenblick, dann sagte er:

„Becky, kannst du‘s ertragen, wenn ich dir was sage —?“

Becky wurde totenblaß, aber sie sagte, sie dächte.

„Na also, Becky, wir müssen hier bleiben, wo‘s Trinkwasser gibt. Dies kleine Stückchen da ist unser letztes Licht!“

Nun brach Becky doch in Tränen aus und wimmerte leise. Tom tat, was er konnte, sie zu beruhigen, aber mit schwachem Erfolg. Schließlich hauchte Becky: „Tom!“

„Na, Becky?“

„Sie müssen uns doch vermissen und nach uns suchen!“

„Gewiß, müssen sie! Selbstverständlich müssen sie!“

„Suchen sie uns wohl jetzt schon, Tom?“

„Na, ich denk‘ doch, sie tun‘s! — Hoff‘ wenigstens, sie tun‘s.“

„Wann mögen Sie uns vermißt haben, Tom?“

„Denk‘ doch — wie sie zum Dampfboot zurückgingen.“

„Tom, ‘s mußte doch dunkel sein — konnten sie‘s merken, daß wir nicht kamen?“

„Glaub‘ kaum. Aber dann mußte deine Mutter es merken, wie die andern nach Haus kamen.“

Ein erschreckter Blick aus Beckys Augen brachte Tom zur Besinnung, und ihm fiel ein, daß er sich da einem traurigen Irrtum hingegeben hatte. Becky sollte zur Nacht ja gar nicht heimkommen! Die Kinder wurden still und nachdenklich. Dann belehrte ein neuer Anfall von Verzweiflung bei Becky Tom, daß sie denselben Gedanken hatte wie er — daß der Sonntagmorgen zur Hälfte vergehen konnte, bevor Frau Thatcher erfuhr, daß Becky nicht bei Harpers gewesen sei. Die Kinder hefteten die Augen auf das Kerzenrestchen und beobachteten, wie es erbarmungslos kleiner und immer kleiner wurde; sahen, wie schließlich nur noch ein halber Zoll Docht übrig war; sahen die Flamme flackern, auf und nieder, eine kleine Rauchsäule von dem Docht aufsteigen, und dann — dann herrschte der Schrecken vollkommener Finsternis.

Wie lange danach Becky allmählich zu dem Bewußtsein gelangte, daß sie weinend in Toms Armen lag, wußten beide nicht. Alles, was sie wußten, war, daß nach anscheinend sehr langer Zeit beide aus totenähnlichem Schlaf erwachten und sich ihres Elends wieder bewußt wurden. Tom meinte, es könne Sonntag sein, vielleicht auch Montag. Er versuchte, Becky zum Sprechen zu bringen, aber ihr Kummer war zu niederdrückend, sie hatte alle Hoffnung verloren. Tom tröstete sie mit der Bemerkung, sie müßten schon lange vermißt sein, und es sei kein Zweifel, daß die Suche schon begonnen habe. Er wollte schreien, vielleicht würde doch jemand kommen. Er versuchte es — aber in der Dunkelheit tönte das ferne Echo so gräßlich, daß er‘s nicht zum zweitenmal tun mochte.

Die Stunden flossen dahin, wieder stellte sich quälender Hunger ein. Ein Stück von Toms Kuchenhälfte war noch da; sie teilten und aßen sie. Aber sie schienen nur hungriger zu werden. Die armseligen Krümel erweckten nur das Verlangen nach mehr.

Plötzlich sagte Tom: „Pscht! Hörst du nichts?“

Beide hielten den Atem an und horchten. Es wurde etwas wie ein ganz entfernter Ruf hörbar. Sofort antwortete Tom, und, Becky an der Hand führend, lief er in der entsprechenden Richtung den Gang entlang. Dann horchte er wieder; wieder war der Ton hörbar, und, wie es schien, noch näher.

„Sie sind‘s!“ jubelte Tom. „Sie kommen! Komm mit! Becky — jetzt ist alles gut!“

Die Freude der Gefangenen war nahezu überwältigend. Das Vorwärtskommen war indessen schwer, weil es hier zahlreiche Spalten gab, man mußte daher äußerst vorsichtig sein. Bald kamen sie an eine und mußten halten. Sie konnte drei Fuß tief sein, aber auch hundert — es war kein Hinüberkommen. Tom legte sich platt nieder und reichte so tief es ihm möglich war. Kein Boden. Sie mußten bleiben und warten, bis die Retter kommen würden. Sie horchten; augenscheinlich klangen die Rufe immer entfernter. Ein bis zwei Minuten, dann waren sie ganz verklungen! Herzbrechende Verzweiflung! Tom brüllte, bis er heiser war, aber vergebens. Er sprach Becky hoffnungsvoll zu, aber eine Ewigkeit angstvollen Wartens verging, kein Ruf ertönte.

Die Kinder tasteten zur Quelle zurück. Endlos schleppte sich die Zeit hin. Sie schliefen wieder und erwachten hungrig und trostlos. Tom glaubte, es müsse jetzt schon Dienstag sein.

Jetzt kam ihm ein neuer Gedanke. Es gab dicht dabei ein paar Seitengänge. Es würde besser sein, einige von ihnen zu untersuchen, als die Last der Verzweiflung in Untätigkeit zu tragen. Er nahm eine Drachenleine aus der Tasche, befestigte sie an einer Felskante und er und Becky gingen, Tom voran, indem sich die Leine allmählich abwickelte, vorwärts. Nach zwanzig Schritt endete der Gang in einen abfallenden Platz. Tom warf sich auf die Knie, tastete herum und suchte mit der Hand um die Ecke des Felsens herumzukommen; er machte eine heftige Anstrengung, möglichst weit zu reichen, und sah, nicht zwanzig Meter entfernt, eine menschliche Hand, ein Licht haltend, um eine Ecke erscheinen! Tom stieß ein Triumphgeschrei aus, und plötzlich folgte der Hand der dazu gehörige Körper — der des Indianer-Joe! Tom erstarrte; er konnte kein Glied rühren. Dabei war er höchst überrascht, den „Spanier“ sich Hals über Kopf davonmachen zu sehen. Er wunderte sich, daß Joe seine Stimme nicht erkannt und ihm nicht für seine Aussage vor Gericht den Hals abgeschnitten habe. Das Echo mußte also wohl seine Stimme unkenntlich gemacht haben. Zweifellos war es so, dachte er. Der Schreck hatte jeden Muskel in ihm erschlafft. Er beschloß, wenn er noch Kraft genug habe, zur Quelle zurückzukehren, dort bleiben zu wollen, und nichts solle ihn wieder veranlassen können, sich der Gefahr eines Zusammentreffens mit dem Indianer-Joe auszusetzen. Er war besorgt, Becky von dem, was er gesehen habe, nichts merken zu lassen. Er sagte, er habe nur auf gut Glück nochmals gerufen.

Aber Hunger und Trostlosigkeit wurden immer schlimmer. Nochmals eine Zeit tödlichen Einerleis an der Quelle und nochmals ein langer Schlaf brachten ihn zu einem anderen Entschluß. Sie erwachten, von rasendem Hunger gequält. Tom glaubte, es müsse Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein, und daß die Suche längst aufgegeben sei. Er schlug vor, einen anderen Gang zu untersuchen. Er war jetzt bereit, es mit Joe und allen Schrecken aufzunehmen. Aber Becky war sehr schwach. Sie war in tiefe Empfindungslosigkeit versunken und wollte nicht gestört sein. Sie erklärte, wo sie jetzt sei, warten zu wollen — und zu sterben; es werde ja nicht mehr lange dauern. Tom solle nur mit der Drachenleine weiter suchen; aber sie beschwor ihn, zuweilen wiederzukommen und mit ihr zu sprechen; und wenn die schreckliche Stunde gekommen sei, solle er bei ihr sein und ihre Hand halten — bis alles vorüber sein würde. Tom küßte sie mit erstickendem Gefühl in der Kehle und zeigte dabei nach Kräften Zuversicht, die Suchenden zu finden oder aber einen Ausweg aus der Höhle. Dann nahm er die Drachenleine und machte sich, auf Händen und Füßen kriechend, davon, von Hunger gequält und elend vor trüben Ahnungen des Kommenden.

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