Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

4. Kapitel

Die Sonne ging über einer ruhigen Welt auf und schien über das Dorf wie ein Segensspruch. Nach dem Frühstück hielt Tante Polly Hausandacht. Sie begann mit einem aus den kräftigsten Bibelstellen bestehenden, mit ein bißchen eigenen Gedanken verbrämten Gebet. Und von dieser Höhe aus gab sie ein grimmiges Kapitel des mosaischen Gesetzes zum besten — wie vom Sinai herab. Danach gürtete Tom, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, seine Lenden und machte sich ans Werk, sich seine Bibelverse einzutrichtern. Sid hatte die natürlich schon am Tage vorher gelernt. Tom brachte es mit Aufbietung aller Energie auf fünf Verse — die er aus der Bergpredigt gewählt hatte, da er keine kürzeren finden konnte.

Nach einer halben Stunde hatte Tom eine unbestimmte, allgemeine Idee von seiner Lektion. Weiter kam er nicht, denn seine Gedanken spazierten durch das ganze Gebiet menschlichen Denkens, und seine Finger hatten allerhand zerstreuende Nebenbeschäftigungen. Schließlich nahm Mary sein Buch, um ihn zu überhören, und er machte krampfhafte Anstrengungen, um seinen Weg durch den Nebel zu finden.

„Selig sind die — ä — ä — ä —“

„Die da arm sind —“

„Ja — arm sind; selig sind, die da arm sind — ä — ä — ä —“

„Im Geiste —“

„Im Geiste; selig sind, die da arm sind im Geiste, denn sie — sie —“

„Ihrer —“

„Denn ihrer; selig sind, die da arm sind im Geiste, denn ihrer — ist das Himmelsreich!“

„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie — sie — ä — ä —“

„So — —“

„Denn sie s — o —“

„S — o — l — l —?“

„Denn sie soll —. Ach was, ich weiß nichts weiter!“

„Sollen —“

„Ach so: sollen! Denn sie sollen — denn sie sollen — ä —ä — sollen Leid tragen —, denn sie sollen — ä — sollen — was? Warum sagst du mir‘s nicht. Mary! Sei doch nicht so eklig!“

„Ach, Tom, du armer, dickköpfiger Kerl, ich quäl‘ dich ja nicht. Das fällt mir gar nicht ein. Du mußt dich halt nochmal dahinter setzen. Nur nicht mutlos. Tom, du wirst es schon zwingen — und wenn du‘s kannst, Tom, geb ich dir ganz, ganz was Schönes! Na also, sei ein braver Junge!“

„Meinetwegen. — Du, Mary, was ist es denn?“ „Jetzt noch nicht, Tom. Wenn ich sage, ‘s ist was Schönes, dann ist‘s was Schönes!“

„Da hast du recht, Mary. Na also, ich werd‘s noch mal tun!“

Und er machte sich nochmal darüber. Und unter dem doppelten Ansporn der Neugier und der Erwartung des Gewinnes machte er sich mit solcher Vehemenz darüber, daß er einen schönen Erfolg hatte.

Mary gab ihm ein nagelneues Taschenmesser, zwölf und einen halben Pence mindestens im Wert; ein Schauer des Entzückens fuhr ihm durch die Glieder. Es ist wahr, zum Schneiden war das Messer nicht gerade zu brauchen, aber es war ein echtes „Barlow“ und von unaussprechlicher Pracht; und wenn unter den Burschen des „Wild-West“ die Behauptung aufgestellt worden ist, dieses Messer trage seine Bezeichnung als „Waffe“ durchaus zu Unrecht, so ist das eine kolossale Lüge; so ist‘s, mögen sie sagen, was sie wollen. Tom versuchte die Tischkante damit anzuschneiden, und war eben in voller Tätigkeit, als man ihn abrief, um zur Sonntagsschule Staat zu machen.

Mary gab ihm einen Zinneimer und Seife, und er ging zur Tür hinaus und setzte den Eimer auf eine kleine Bank; dann tauchte er die Seife ins Wasser und legte sie daneben; krempelte sich die Ärmel auf, ließ das Wasser auslaufen, ging in die Küche zurück und begann hinter der Tür sich das Gesicht mit dem Tuch eifrig abzutrocknen.

Aber Mary entriß ihm das Tuch und sagte: „Schämst du dich nicht, Tom? Du sollst nicht immer so schlecht sein. Ein bißchen Wasser schadet dir wahrhaftig nicht.“

Tom war einen Augenblick in Verwirrung. Der Eimer wurde wieder gefüllt, und diesmal blieb er eine Weile darüber gebeugt stehen, Mut sammelnd. Ein tiefer Seufzer — und los! Als er dann wieder in die Küche zurückkam, beide Augen geschlossen, und nach dem Tuch griff, tropften Schmutz und Wasser von seinem Gesicht herunter — ein ehrenvolles Zeichen seines Mutes. Aber als er hinter dem Tuche wieder auftauchte, sah er durchaus noch nicht einwandfrei aus; das reine Gebiet hörte an Mund und Ohren auf. Jenseits dieser Linie breitete sich eine undurchdringlich schwarze Fläche bis in den Nacken aus. Mary nahm ihn jetzt in die Mache und als sie mit ihm fertig war, sah er wie ein tadelloser Gentleman aus, fleckenlos und mit hübschen Sonntagslocken in gleichmäßiger Verteilung. (Er selbst haßte diese Locken von Herzen und versuchte, sie auf den Kopf niederzubürsten; denn er hielt Locken für weibisch, und sie erfüllten sein Leben mit Bitterkeit.) Dann kam Mary mit einem Anzuge, den er während zweier Jahre nur an Sonntagen getragen hatte und der allgemein nur als die „anderen Kleider“ bezeichnet wurde — woraus man auf den Stand seiner Garderobe schließen kann. Das Mädchen schubste ihn noch ein bißchen zurecht, nachdem er sich selbständig angezogen hatte. Sie verlieh ihm einen gewissen (ganz ungewohnten) Schein von Zierlichkeit, zog den Hemdkragen herunter, bürstete ihn ab und krönte ihn mit seinem farbigen Strohhut. So sah er außerordentlich sanftmütig und behaglich aus. Und er fühlte sich auch so. Sein Widerwillen gegen ganze und saubere Kleider war unverwüstlich. Er hoffte, Mary werde wenigstens die Stiefel vergessen, aber diese Hoffnung wurde zunichte. Sie bestrich sie, wie es sich gehört, mit Talg und brachte sie ihm. Jetzt verlor er die Geduld und sagte, er solle immer tun, was er nicht möchte. Aber Mary sagte überredend: „Na, komm, Tom, sei ein braver Bursche!“ So fuhr er brummend in seine Stiefel. Mary war bald fertig, und die drei Kinder gingen zur Sonntagsschule, ein Ort, der Tom gründlich verhaßt war. Aber Sid und Mary gingen sehr gern hin.

Die Zeit der Sonntagsschule war von neun bis halb zehn Uhr; dann kam der Gottesdienst. Zwei der Kinder blieben stets mit Vergnügen zur Predigt da, das dritte blieb auch — ja, aber aus anderen Gründen. Die hochlehnigen, schmucken Kirchenstühle konnten über dreihundert Personen fassen; das Gebäude selbst war klein, vollgestopft — mit einer Art fichtenem Kasten als Turm darauf.

An der Tür blieb Tom ein bißchen zurück und hielt einen sonntäglich gekleideten Kameraden an: „Sag, Bill, hast du ein gelbes Billett?“

„M — ja!“

„Was willst du dafür haben?“

„Was willst du geben?“

„Ein Stück Zuckerstange und einen Angelhaken.“

„Zeig her.“

Tom zeigte seine Tauschobjekte. Sie waren befriedigend, und das Geschäft wurde gemacht. Dann erhandelte Tom einige blaue und rote Zettel gegen ähnliche Kleinigkeiten. Er stellte die anderen Jungen, wie sie ihm in den Weg kamen, und verkaufte, indem er Zettel der verschiedenen Farben dagegen kaufte. Dann ging er in die Kirche, inmitten eines Schwarmes geputzter, lärmender Knaben und Mädchen, schlängelte sich auf seinen Platz und fing mit dem ersten besten Streit an. Der Lehrer, ein würdiger, bejahrter Mann, trat dazwischen. Dann wandte er sich einen Augenblick um, und Tom riß einen Knaben in der vorderen Bank an den Haaren und war vertieft in sein Buch, als der Knabe herumfuhr. Darauf stach er einen anderen mit einer Nadel, dieser schrie auf, und Tom erhielt abermals einen Verweis. Toms ganze Klasse war eine Musterklasse — nach seinem Muster — unruhig, vorlaut und lärmend. Als es ans Aufsagen der Lektion ging, wußte nicht ein einziger seine Verse gründlich, alles stümperte und war unsicher. Indessen — sie kamen durch, und jeder erhielt seine Bestätigung in Form eines blauen Zettels, jeder mit einem Bibelspruch darauf; jeder solcher Zettel galt für zwei aufgesagte Verse. Zehn blaue Zettel waren gleich einem roten und konnten gegen einen solchen umgetauscht werden; zehn rote machten einen gelben aus, und für diesen gab der Superintendent eine sehr einfach gebundene Bibel (heutzutage gewiß vierzig Cents wert).

Wie viele meiner Leser würden Fleiß und Aufmerksamkeit genug haben, um zweitausend Verse auswendig zu lernen, und handelte es sich um eine Doréesche Bibel? Und doch hatte Mary auf diese Weise zwei Bibeln erworben; es war das Werk zweier Jahre; ein Knabe deutscher Abkunft hatte es gar auf vier oder fünf gebracht. Einmal hatte er dreitausend Verse hergesagt, ohne zu stocken. Aber die geistige Anstrengung war zu groß gewesen, und er war von dem Tage an nicht viel besser als ein Idiot — ein böses Mißgeschick für die Schule, denn vor diesem Ereignis hatte der Superintendent bei besonderen Gelegenheiten den Knaben vortreten und „sich blähen“ lassen (wie Tom das nannte). Nur die gesetzteren Schüler gaben sich die Mühe, ihre Zettel aufzubewahren, und ihr langweiliges Werk solange fortzusetzen, bis sie Anspruch auf eine Bibel hatten. So war die Erlangung eines solchen Preises ein seltenes und bemerkenswertes Ereignis; der Sieger war an seinem Ehrentage eine so große, hervorragende Person, daß heiliger Ehrgeiz die Brust eines jeden Schülers erfüllte und oft mehrere Wochen anhielt. Es ist möglich, daß Toms Streben niemals auf einen solchen Preis gerichtet war, zweifellos aber sehnte sich sein ganzes Sein nach dem Ruhm und Aufsehen, die ein solches Ereignis mit sich brachten.

Der Geistliche stand jetzt vor der Versammlung, einen geschlossenen Psalter in der Hand und den vierten Finger zwischen die Blätter geschoben. Er befahl Ruhe. Wenn nämlich ein Sonntagsschullehrer seine gewohnte kleine Rede vom Stapel lassen will, ist ein Psalterbuch in seiner Hand so notwendig, wie die Notenblätter in der Hand eines Sängers, der im Konzert vom Podium aus ein Solo vortragen soll — wer weiß, warum? Denn niemals werden Psalterbuch oder Notenblätter beim Vortrag geöffnet.

Der Superintendent war ein schmächtiger Mann von fünfunddreißig Jahren, mit sandgelbem Ziegenbart und kurzgeschorenem sandgelbem Haar. Er trug einen steifen Stehkragen, dessen oberer Rand seine Ohren streifte und dessen scharfe Ecken bis zu den Mundwinkeln vorsprangen — eine Planke, die ihn zwang, den Kopf stets vorzustrecken und den ganzen Körper zu drehen, wenn er zur Seite blicken wollte. Sein Kinn war in eine riesige Krawatte gezwängt, die so breit und lang war, wie eine Banknote und spitze Enden hatte. Mr. Walter war äußerst ernsthaft von Aussehen und sehr gutmütig und ehrenhaft von Charakter. Und er hielt geistige Dinge und Angelegenheiten so sehr in Ehren und wußte sie so streng von allem Weltlichen zu trennen, daß seine Sonntagsschulstimme ihm selbst unbewußt einen gewissen Klang angenommen hatte, von dem sie an Wochentagen vollkommen frei war.

Er begann also: „Nun, Kinder, sitzt einmal so ruhig und gesittet, als es euch nur immer möglich ist, und paßt einmal ein paar Minuten tüchtig auf, denn darauf kommt es vor allem an! Das sollten alle braven Knaben und Mädchen stets tun! Ich sehe ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausschaut — ich fürchte, sie bildet sich ein, ich wäre irgendwo draußen, vielleicht in einem Baum und hielte den Vögeln meine Rede?! (Unterdrücktes Kichern.) Ich möchte euch sagen, daß es mich glücklich macht, so viele frische, helle Kindergesichter an diesem Ort versammelt zu sehen, um zu lernen, recht tun und gut sein.“

In diesem Stil ging‘s immer weiter. Es ist nicht nötig, den Rest der Rede hierherzusetzen. Sie war ganz nach bekanntem Muster — wir alle haben sie mal gehört.

Das letzte Drittel der Rede wurde durch die Wiederaufnahme des Kampfes zwischen gewissen bösen Buben gestört und durch Unruhe und Geschwätz hier und dort, deren Wellen sogar an den Grundlagen solcher Felsen der Folgsamkeit und Bravheit, wie Sid und Mary, nagten. Aber mit dem Schwächerwerden von Mr. Walters Stimme wurde auch das allgemeine Summen schwächer, und der Schluß der Rede wurde mit stiller Heiterkeit begrüßt.

Zum guten Teil war die Unaufmerksamkeit hervorgerufen worden durch ein ziemlich seltenes Vorkommnis: das Erscheinen von Besuchern: Richter Thatcher, begleitet von einem sehr schwachen, alten Mann, einem vornehmen, mittelalterlichen Gentleman mit eisengrauem Haar, und einer würdevollen Dame, zweifellos der Frau des letzteren. Die Dame führte ein Kind an der Hand. Tom war bis dahin unruhig und schuldbewußt gewesen — er konnte den Blick aus Amy Lawrences Augen nicht ertragen — es sprach zu viel Liebe aus diesem Blick! Aber als er diesen kleinen Ankömmling sah, war seine Beklommenheit auf einmal vorbei. Im nächsten Augenblick ließ er wieder seine Künste spielen — er knuffte andere Knaben, riß sie an den Haaren, schnitt Fratzen, mit einem Wort, tat alles, was nur irgend eines Mädchens Aufmerksamkeit erregen und ihren Beifall gewinnen kann. Aber seine Exaltation wurde rasch gedämpft, er erinnerte sich seiner Erlebnisse im Garten dieses Engels; aber diese Erinnerung wurde rasch durch das Glücksgefühl, von dem sein Herz plötzlich erfüllt war, fortgeschwemmt.

Den Besuchern wurden die höchsten Ehrenbezeugungen erwiesen, und nach Beendigung von Mr. Walters Anrede führte er sie in der Schule herum. Der mittelalterliche Mann schien ein bedeutender Mann zu sein. Er war der oberste Richter des Kreises — gewiß die erhabenste Persönlichkeit, die diese Kinder bis jetzt gesehen hatten; und sie grübelten darüber, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein könne; und dann waren sie begierig auf seine Stimme und dann zitterten sie wieder davor, sie zu hören. Er war aus Konstantinopel — zwölf Meilen entfernt, — er war also durch die ganze Welt gekommen und hatte alles gesehen; diese Augen hatten das Staatshaus gesehen, von dem man sagte, es habe ein wirkliches Zinndach! Die scheue Ehrfurcht, welche diese Vorstellungen hervorriefen, war aus dem absoluten Schweigen und den starr auf ihn gerichteten Augen deutlich zu lesen.

Das also war der große Richter Thatcher, der Bruder ihres Bürgermeisters.

Von Jeff Thatcher hieß es sogleich, er sei mit dem großen Mann verwandt, und den beherbergte die Schule! Es würde Musik für Jeffs Ohren gewesen sein, hätte er gehört, was man von ihm flüsterte.

„Sieh nur, Jim, er ist wahrhaftig vorgegangen! Donnerwetter, er will ihm die Hand geben. Er hat ihm die Hand gegeben. Bei Jingo, möchtet wohl auch Jeff sein, he?“

Mr. Walter suchte sich jetzt in Geltung zu bringen durch möglichste Geschäftigkeit, erteilte Befehle, fällte Urteile, gab Winke hier und dort und überall, und zeigte, daß er am rechten Platz sei. Darauf „zeigte“ sich der Bücherverwalter, rannte mit Stößen von Büchern herum, klapperte mit den Bücherbrettern und vollführte einen Spektakel, daß es für jeden Vorgesetzten eine wahre Lust sein mußte. Die jungen Lehrerinnen „zeigten“ sich auch, taten schön mit Kindern, die sie eben geprügelt hatten, hoben warnend ihre niedlichen Finger gegen böse Buben und streichelten brave, kleine Mädchen. Die jungen Lehrer „zeigten“ sich mit kleinen Ermahnungen und anderen Beweisen ihrer Autorität und ihrer Sorgfalt. Und alle Lehrenden beiderlei Geschlechts machten sich mit Vorliebe am Klassenpult zu tun, und es schienen Geschäfte zu sein, die fortwährend wiederholt werden mußten (und wie sie dabei ärgerlich waren!). Die kleinen Mädchen „zeigten“ sich auf verschiedene Weise, und die Knaben „zeigten“ sich mit solchem Nachdruck, daß die Luft mit Papierkugeln und halb unterdrücktem Gezänk angefüllt war. Und bei alledem saß der große Mann da, hatte ein erhabenes Richterlächeln für die ganze Schule und wärmte sich im Glanze seiner eigenen Größe, denn er „zeigte“ sich erst recht. Aber eins fehlte, was Mr. Walters Glück vollgemacht hätte, das war die Gelegenheit, einen Bibelpreis auszuteilen und eins seiner Wunderkinder zu zeigen. Mehrere Schüler hatten eine Menge kleinerer Zettel, aber niemand hatte genug. Er hätte die Welt darum gegeben, seinen kleinen Deutschen für eine einzige Stunde wiederzuhaben.

Da — trat Tom Sawyer vor, neun gelbe Zettel, neun rote und zehn blaue, und verlangte eine Bibel! Das wirkte wie ein Blitz aus heiterm Himmel! So etwas hätte Walter nicht erwartet — in den nächsten zehn Jahren sicher nicht. Aber es war nichts auszusetzen — da lagen die nötigen Zettel beisammen und nahmen sich hübsch genug aus. Tom erhielt also seinen Platz beim Richter und den anderen Auserwählten, und die unerhörte Neuigkeit wurde nach allen Himmelsgegenden ausposaunt.

Es war zweifellos die staunenswerteste Tatsache des Jahrzehnts; und so tief war die Erregung, daß sie den neuen Helden auf die Höhe des Kreisrichters hob und die Schule zwei Weltwunder aus einmal zu bestaunen hatte. Die Jungen waren durch die Bank von Neid erfüllt. Aber die am tiefsten Beleidigten waren diejenigen, welche zu spät einsahen, daß sie selbst zu diesem unerhörten Glanz beigetragen hatten, indem sie Tom Billetts verkauften für die Schätze, welche er durch Übertragung der Anstreich-Gerechtsame erworben hatte. Sie verachteten sich selbst, da sie sich durch einen listigen Betrüger hatten anführen lassen.

Der Preis wurde Tom überreicht, mit so viel Salbung, als der Superintendent unter solchen Umständen auftreiben konnte. Aber es war doch nicht der rechte Schwung darin, denn sein Instinkt sagte ihm, hierbei müsse ein Geheimnis walten, das wohl nicht ganz gut das Licht der Sonne vertragen würde. Es war ganz einfach unglaublich, daß dieser Knabe zweitausend Bibelverse in seinem Kopfe aufgespeichert haben sollte — ein Dutzend schon hätte zweifellos seine Kräfte überstiegen. Amy Lawrence war ganz rot vor Stolz und versuchte, es Tom zu zeigen, aber er wollte nicht sehen. Sie wunderte sich; dann grämte sie sich ein bißchen; schließlich stieg ein leiser Verdacht in ihr auf und verflog und kam wieder. Sie paßte auf. Ein heimlicher Blick verriet ihr Welten, und dann brach ihr Herz, und sie wurde eifersüchtig und wütend, und die Tränen kamen, und sie haßte alle, alle, Tom natürlich am meisten.

Tom wurde vor den Richter geführt. Aber seine Zunge klebte am Gaumen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Herz klopfte — teils infolge der Größe des Mannes, aber mehr noch, weil er ihr Vater war. Er hätte, wäre es dunkel gewesen, vor ihm niederfallen und ihn anbeten mögen. Der Richter legte die Hand auf Toms Kopf und nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Mann und fragte ihn nach seinem Namen. Der Junge stammelte, hustete und stieß endlich mühsam heraus: „Tom!“

„O nein — nicht Tom, sondern —“

„Thomas.“

„Richtig. Ich dachte mir doch, daß noch etwas fehlte. Gut. Aber ich glaube, du hast noch einen Namen, und du wirst ihn mir nennen, nicht?“

„Nenne dem Herrn deinen anderen Namen, Thomas, und sage: Herr! Nicht vergessen, was sich schickt!“

„Thomas Sawyer — Herr!“

„So — so ist‘s recht! Ein guter Junge. Ein braver Junge. Ein braver, kleiner Junge. Zweitausend Verse sind viel — sehr, sehr viel! Und Sie brauchen die Mühe, die es Ihnen bereitet hat, es ihm beizubringen, sicher nicht zu bereuen; denn Kenntnisse sind gewiß mehr wert, als irgend etwas anderes in der Welt. Sie machen große Männer und große Menschen. — Du wirst eines Tages ein großer Mann sein und ein großer Mensch, Thomas, und dann wirst du zurückblicken und sagen: Das alles verdanke ich der herrlichen Sonntagsschule meines Heimatsdorfes; alles meinen lieben Lehrern, die mich angehalten haben, zu lernen; alles dem guten Superintendenten, der mich anfeuerte und über mir wachte und mir eine wundervolle Bibel schenkte, eine herrliche, prächtige Bibel, damit ich sie immer, immer bei mir haben möge; alles meiner Erziehung! Das wirst du sagen, Thomas! Und du würdest dir mit keinem Geld deinen Schatz von zweitausend Versen bezahlen lassen — nein, wahrhaftig nicht! — Und jetzt kannst du mir und dieser Dame eine große Freude machen und uns einige deiner Verse aufsagen — du wirst es gern tun, denn wir freuen uns ja so sehr über einen fleißigen Knaben. Ohne Zweifel kennst du die Namen aller zwölf Jünger. Willst du uns also die Namen der beiden zuerst erwählten Jünger nennen?“

Tom zupfte an einem Knopf und sah möglichst einfältig aus. Er wurde rot und senkte die Augen. Mr. Walters Herz sank mit. Er sagte sich, es sei gar nicht möglich, von diesem Jungen Antwort auf die einfachste Frage zu bekommen — und den gerade mußte der Richter fragen! Doch fühlte er sich veranlaßt, zu Hilfe zu kommen und sagte: „Antworte dem Herrn, Thomas, — fürchte dich nicht!“

Tom wurde immer röter.

„Nun, ich weiß, mir wirst du es sagen,“ mischte sich hier die Dame ein. „Die Namen der zwei ersten Jünger waren —“

„David und Goliath!“

Decken wir den Schleier der Nächstenliebe über das, was nun folgte!

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