Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

9. Kapitel

Um halb neun wurden Tom und Sid, wie gewöhnlich, zu Bett geschickt. Sie sprachen ihre Gebete, und Sid war bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete in peinvoller Ungeduld. Als es ihm schien, daß es bald wieder Tag werden müsse, hörte er es zehn Uhr schlagen. Das war zum Verzweifeln. Er hätte um sich schlagen mögen, wie es seine Nerven verlangten, aber er fürchtete, Sid aufzuwecken. So lag er still und starrte in die Dunkelheit. Es war so schrecklich still! Allmählich begannen aus der Stille heraus kleine, geheimnisvolle, kaum hörbare Stimmen sich bemerkbar zu machen.

Zuerst vernahm er nur das Ticken der Uhr. Dann begannen morsche Balken geheimnisvoll zu brechen. Auch im Fußboden regte es sich. Es war kein Zweifel, daß Geister ihr Wesen trieben. Ein dumpfer, sich regelmäßig wiederholender Ton drang aus Tante Pollys Schlafzimmer herauf. Und jetzt begann das eintönige Zirpen einer Grille, das keine menschliche Macht zum Schweigen zu bringen vermag. Dann wieder ließ das unheimliche Klopfen des Totenkäfers in einem Balken über seinem Kopf Tom erschauern — gewiß waren irgend jemandes Tage gezählt. Jetzt erfüllte das langgezogene Heulen eines Hundes die nächtliche Stille und wurde sofort durch ein noch entfernteres Heulen beantwortet. Tom lag halb betäubt. Er glaubte, alle Zeit habe aufgehört und die Ewigkeit beginne. Trotz aller Anstrengung schlief er ein. Die Uhr schlug elf, aber er hörte nichts mehr. Und dann mischte sich in seine halbbewußten Träume ein höchst melancholisches Katzengeheul. Das Aufreißen eines benachbarten Fensters schreckte ihn in die Höhe. Der wütende Ruf: „Hol der Teufel die verfluchte Katze!“ und der Anprall einer leeren Flasche gegen die Rückwand von Tante Pollys Holzschuppen ermunterten ihn vollends; eine Minute später war er völlig angekleidet, stieg aus dem Fenster und noch auf allen Vieren am Dach eines kleinen Anbaues entlang. Während dieses Spazierganges miaute er ein- oder zweimal halblaut, dann kletterte er auf das Dach des Holzschuppens und sprang von dort zur Erde. Huckleberry Finn war da mit seiner toten Katze. Die Jungen machten sich davon und verschwanden in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das nasse Gras des Kirchhofes.

Es war ein Kirchhof in der althergebrachten Art des Westens. Er lag auf einem Hügel, über ein und eine halbe Meile vom Dorfe entfernt. Umgeben war er von einem halb morschen alten Zaun, der sich bald nach innen, bald nach außen lehnte und doch sich immer noch aufrecht erhielt. Gras und Unkraut überwucherten den ganzen Gottesacker. Die meisten der älteren Gräber waren längst eingesunken. Nicht ein einziger Grabstein war zu sehen. Roh geschnitzte, wurmstichige Holzkreuze steckten auf den Hügeln, einen Anhalt suchend und keinen findend. „Zum ewigen Gedächtnis“, das und ähnliches war auf einige gemalt, aber man konnte es meistens nicht mehr lesen — auch nicht bei hellem Tageslicht. Ein leichter Wind säuselte in den Bäumen, und Tom argwöhnte, daß es Stimmen von Toten sein könnten, die sich über die Störung ihrer Ruhe beklagten.

Nur leise, mit verhaltenem Atem, wagten die beiden zu sprechen, Zeit und Stunde und die trostlose Schwermut und Verlassenheit ihrer Umgebung bedrückten ihren Geist. Sie fanden das neugeschaufelte Grab, das sie suchten, und stellten sich in den Schutz und Schatten dreier mächtiger Ulmen, welche, ein paar Schritte vom Grabe entfernt, sich dicht aneinander drängten.

Dann warteten sie lange schweigend auf das, was da kommen sollte. Das Husten einer entfernten Eule war der einzige Ton, der die tiefe Stille zuweilen unterbrach. Toms Beklemmung wuchs. Er mußte durchaus sprechen. So sagte er mit flüsternder Stimme: „Hucky, glaubst du, daß die Toten es leiden werden, daß wir hier sind?“

Huckleberry gab flüsternd zurück: „Ich wollte, ich wüßte es. ‘s ist schrecklich traurig hier, nicht?“

„Ich glaub‘ wohl!“

Während der nächsten Minuten schwiegen beide, die Frage innerlich weiter verarbeitend. Dann wisperte Tom wieder: „Sag, Hucky — meinst du, daß Hoss Williams uns sprechen hört?“

„O, sicher, wenigstens sein Geist.“

Nach einer Pause Tom wieder: „Hätt‘ ich doch nur Herr Williams gesagt! Aber ich hab‘s ja nie anders gehört. Alle nennen ihn einfach Hoss.“

„Ja. Tom, man kann gar nicht vorsichtig genug sein in dem, was man über die Leute da unten sagt.“

Dies war ungemütlich, und die Unterhaltung erstarb wieder. Plötzlich packte Tom seinen Kameraden am Arm und raunte: „Pscht!“

„Was denn, Tom?“ Und die beiden drängten sich klopfenden Herzens aneinander.

„Pscht! Da ist‘s wieder! Hast du denn nichts gehört?“

„Ich —“

„Da! Nun hörst du‘s doch!“

„Herr Gott, Tom, sie kommen! Sie kommen ganz bestimmt! Was tust du?“

„Ich? Nichts! Meinst du, daß sie uns sehen werden?“

„O, Tom, die sehen in der Dunkelheit wie die Katzen. — Ich wollte nur, ich wär‘ nicht hergekommen!“

„Ach was, fürchte dich nicht! Ich glaub‘ nicht, daß sie uns was tun! Wir haben ja nichts Schlechtes getan. Wenn wir ganz still sind, werden sie uns vielleicht gar nicht bemerken!“

„Ich will‘s versuchen, Tom, aber, Herr Gott, ich bin halb tot vor Angst!“

„Still!“

Sie steckten die Köpfe zusammen und wagten kaum zu atmen. Dumpfes Stimmengewirr wurde vom anderen Ende des Kirchhofes hörbar.

„Sieh, sieh doch!“ flüsterte Tom. „Was ist das?“

„‘s ist Teufelsspuk! Ach, Tom, wie schrecklich!“

Ein paar unbestimmte Figuren tauchten aus der Dunkelheit auf, eine altertümliche Blendlaterne mit sich führend, welche die Umgebung mit zahllosen Lichtstreifen erhellte. Schaudernd flüsterte Huckleberry: „Ganz gewiß, es sind Teufel! Drei auf einmal! Gott, Gott, Tom, wir sind verloren! Weißt du kein Gebet?“

„Ich will‘s versuchen, aber sei doch nicht so bange! Sie werden uns ja nicht erwischen. Müde bin ich, geh zur Ruh —“

„Pscht!“

„Was gibt‘s Huck?“

„Das sind ja Menschen! Einer wenigstens! Die eine Stimme gehört dem alten Muff Potter!“

„Ist das gewiß?“

„Wenn ich dir‘s doch sage! Nur ganz still! Er wird uns schwerlich bemerken! Besoffen, wie gewöhnlich — erbärmlicher, alter Trunkenbold!“

„‘s ist schon gut, ich bin ja ganz still! — Jetzt bleiben sie stehen — sie können‘s nicht finden — jetzt kommen sie wieder näher — heiß — kalt — wieder heiß — riesig heiß! Da — da sind sie jetzt ganz in der Nähe! — Du, Huck, ich kenne die zweite Stimme — ‘s ist die von Indianer-Joe.“

„‘s ist richtig! Diese mörderische Bestie! Ich wollt‘ fast lieber, es wären Teufel! Was sie wohl vorhaben?“

Mit dem Tuscheln war‘s jetzt aus; die drei waren beim Grab angelangt und standen kaum ein paar Fuß vom Versteck der beiden Abenteurer.

„Hier ist es,“ sagte die dritte Stimme, worauf einer der anderen die Laterne in die Höhe hielt — sie beleuchtete des jungen Dr. Robinson Gesicht. Potter und Indianer-Joe hatten einen Schubkarren mit einem Strick und ein paar Schaufeln mitgebracht. Sie setzten ihre Last nieder und begannen, das Grab zu öffnen. Der Doktor setzte die Laterne auf das Kopfende des Grabes und setzte sich mit dem Rücken gegen eine der Ulmen nieder. Er war so nahe, daß die beiden Burschen ihn hätten berühren können.

„Hurtig, Leute,“ sagte er leise. „Der Mond wird gleich herauskommen!“

Sie grunzten was als Antwort und gruben weiter. Einige Zeit war nichts zu hören als der dumpfe Ton der Schaufeln, die ihre Ladung von Erde und Steinen abluden. Es klang sehr eintönig. Endlich stieß eine Schaufel krachend auf den Sargdeckel — zwei Minuten später hatten die Männer den Sarg herausgeschoben und niedergesetzt.

Darauf brachen sie mit ihren Schaufeln den Deckel auf, zogen die Leiche heraus und warfen sie brutal auf die Erde. Der Mond trat in diesem Augenblick hinter den Wolken hervor und beleuchtete grell die scheußliche Szene. Der Schubkarren wurde herbeigeholt, der Körper daraufgelegt, mit einer Decke eingehüllt und mit Stricken festgebunden. Potter zog ein großes Messer hervor, schnitt das überhängende Stück des Strickes ab und sagte: „So, das wär getan, Beinsäger, jetzt noch ‘nen Fünfer ‘raus, oder das da bleibt stehen.“

„‘s ist ganz richtig,“ stimmte der Indianer-Joe bei.

„Seht mal! Was soll das heißen?“ fragte der Doktor. „Ihr habt euer Geld im voraus verlangt, und ich hab‘s euch gegeben.“

„Ja — und ‘s ist das letzte Mal gewesen,“ schrie der Indianer-Joe, sich dem Doktor nähernd, der rasch aufgestanden war. „Vor fünf Jahren hast du mich vom Hause deines Vaters bei Nacht und Nebel vertrieben, als ich um was zu essen bat, und hast gesagt, ich hätt‘ wohl was anderes vorgehabt; und als ich schwor, wir würden noch mit ‘nander abrechnen, und wär‘s erst in hundert Jahren, hat mich dein Vater als Landstreicher eingesperrt. Dachtest du, ich hätt‘s vergessen? Ich hab‘ nicht umsonst Indianerblut! Und jetzt will ich‘s dir geben, und du wirst zum stillen Mann gemacht!“

Bis jetzt hatte er dem Doktor mit der Faust unter der Nase herumgefuchtelt. Plötzlich holte dieser aus und streckte den Raufbold zu Boden. Potter warf sein Messer zu Boden, und mit den Worten: „Halt einmal, du sollst meinen Freund nicht hauen!“ stürzte er sich auf den Doktor, und im nächsten Augenblick lagen beide wütend ringend, und Gras und Erde mit den Füßen zerstampfend, auf dem Grab. Der Indianer-Joe war gleich wieder auf den Beinen, seine Augen glühten unheimlich, er ergriff Potters Messer und umkreiste katzengleich die Kämpfenden, auf eine Gelegenheit lauernd. Aber auf einmal gelang es dem Doktor, sich freizumachen, er ergriff den schweren Sargdeckel und schlug Potter damit zu Boden — ebenso rasch hatte Joe seinen Vorteil wahrgenommen und stieß das Messer bis ans Heft in des jungen Mannes Brust. Der Doktor stieß einen Schrei aus und fiel auf Potter, ihn mit seinem Blute färbend; und im selben Moment verhüllten die Wolken das schreckliche Schauspiel, während die beiden zu Tode erschrockenen Burschen Hals über Kopf in der Dunkelheit verschwanden.

Sobald der Mond wieder hervorkam, stand Joe über den beiden regungslos Liegenden und betrachtete sie. Der Doktor murmelte etwas Unverständliches, tat einen langen Seufzer — und war still.

„Beim Satan — der Stich sitzt,“ brummte Joe und begann die Leiche zu berauben, worauf er das verräterische Messer in Potters offene Hand steckte und sich auf den geöffneten Sarg setzte. Drei — vier — fünf Minuten verflossen, und dann begann Potter sich zu bewegen und zu stöhnen. Seine Hand schloß sich um das Messer, er hob es auf, blickte darauf und ließ es schaudernd fallen. Dann richtete er sich auf, schob die Leiche von sich und starrte verwirrt um sich. Joe anzusehen, vermied er.

„Herr Gott, Joe, wie war das?“ sagte er mit zitternder Stimme.

„‘s ist ‘ne faule Geschichte,“ entgegnete Joe grob. „Wozu tatst du‘s?“

„Ich! Ich hab‘s nicht getan!“

„Sieh mal! Na — mit solchem Geschwätz kommst du nicht los!“

Potter zitterte und wurde aschfahl.

„Ich hatte mir doch vorgenommen, nüchtern zu bleiben! Warum mußte ich auch nachts trinken. — Hab‘s ja noch im Kopf — mehr, als wie wir kamen. — Immer betrunken — völlig — auf gar nichts kann ich mich besinnen! Sag, Joe, ehrlich, alter Bursche — hab ich‘s getan?! Ich wollt‘s nicht tun — auf Ehr und Seligkeit, Joe, ich wollt‘s nicht tun! O, ‘s ist schrecklich — und er war so jung und hoffnungsvoll —“

„Na, ihr habt halt gerauft, und er gab dir eins rüber mit dem Sargdeckel, und du fielst hin. — Und dann kamst du wieder auf, wanktest und konntest dich kaum auf den Füßen halten, hobst das Messer auf — na, und stießest es ihm in den Leib, grad, wie er dir noch ‘nen tüchtigen Schlag geben wollte, und dann hast du hier wie ‘n toter Klotz gelegen bis jetzt.“

„O — ich wußte ja nicht mehr, was ich tat. ‘s kam wohl alles vom Branntwein und von der Wut — schätz‘ ich. Ich hab‘ nie vorher in meinem Leben so was getan, Joe! ‘s können‘s mir alle bezeugen. Geprügelt — ja, aber gestochen niemals, Joe. Joe, sag‘s niemand! Sag mir, Joe, daß du‘s niemand sagen willst! Sei ‘n guter Bursche! Joe! Ich hab‘ dich immer gern gehabt, Joe, und hab‘ deine Partei genommen. Weißt du nicht, Joe? Joe, du sagst es nicht, Joe, nicht?!“ Und der arme Kerl fiel auf die Knie vor den kaltherzigen Mörder und hob beschwörend die Hände.

„Na, du bist immer treu und brav zu mir gewesen, Muff Potter, und ich werd‘ dich nicht verraten. — Das ist doch wie ‘n Kerl gesprochen, he?“

„O, Joe, ja, du bist ein Engel, Joe. Ich will dich segnen, so lang ich leb‘!“ Und Potter begann zu weinen.

„Na, komm, ‘s ist jetzt genug davon. ‘s ist ‘ne verdammt schlechte Zeit zum Heulen. Mach, daß du in der Richtung fortkommst, und ich will hierhin gehen. Vorwärts, mach fort — und laß nichts liegen, zum Teufel!“

Potter setzte sich in Trab, woraus bald regelrechter Galopp wurde. Joe schaute ihm nach, brummend: „Wenn er so betäubt von dem Prügeln und voll von Schnaps ist, wie er aussieht, so wird er an das Messer erst denken, wenn er so weit fort ist, daß er‘s nicht wagt, an so ‘nen Ort zurückzukommen — Hasenfuß!“

Zwei oder drei Minuten später sah nur noch der Mond den Ermordeten, den eingebundenen Körper des Toten, den aufgebrochenen Sarg und das leere Grab. Tiefe Stille herrschte wieder wie vorher.

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