Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Rübezahl - Neue Sammlung der schönsten Sagen und Märchen von dem Berggeiste im Riesengebirge
(Rosalie Koch)

Rübezahl straft einen Spötter

Nachdem Rübezahl wiederum einmal Jahrhunderte lang die Unterwelt nicht verlassen hatte, ihm aber endlich doch die Einsamkeit und Langeweile zu drückend wurde, und als er eben deshalb in der übelsten Laune war, machte ein Erdgeist, der bei ihm in besonderer Gnade stand, den Vorschlag, doch eine Lustpartie ins Riesengebirge zu unternehmen.

Rübezahl runzelte zwar anfänglich die Stirn gewaltig über diesen Einfall, aber nach einigem Zögern willigte er endlich doch ein; in einer Minute Zeit war auch schon die weite Reise zurückgelegt, obgleich es damals noch keine Eisenbahnen gab. Der Berggeist konnte sich nämlich durch eine bloße Kraft seines Willens an jeden beliebigen Ort versetzen, und so war er denn auch jetzt schnell wie ein Gedanke mitten auf dem großen Rasenplatze, den man noch heut „Rübezahls Lustgarten“ nennt. Kaum aber schaute er von dort in das Tal hinab, wo sich jetzt Türme, Klöster, Städte und Flecken ausbreiteten, so erwachte sein alter Haß gegen die Menschen aufs neue und er rief bitter lachend aus:

„Unseliges Erdengewürm, das mich durch Falschheit und Tücke gehöhnt hat, nun sollst du mir deine Schuld büßen, und ich will dich hetzen und plagen, daß du mit Furcht und Schrecken an den Geist des Gebirges denken sollst.“

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so hörte er in der Ferne Menschenstimmen. Drei junge Gesellen wanderten durch das Gebirge, und der mutigste von ihnen rief in fröhlicher Laune: „Rübezahl! Rübezahl! komm herab, du Mädchendieb!“ —

Der Gnom wurde wütend über diesen Spott und fuhr gleich dem Sturmwind durch den düstern Fichtenwald, um den armen Schelm, der sich über ihn lustig gemacht hatte, sogleich zu erwürgen. Aber es fiel ihm ein, daß ein so grausames Exempel seiner Rache alle Wanderer aus dem Gebirge verscheuchen würde, und er alsdann keine Gelegenheit hätte, sein Spiel mit den Menschen zu treiben. Darum ließ er den Frevler einstweilen ruhig seine Straße ziehen, nahm sich aber vor, ihn den verübten Mutwillen schon noch entgelten zu lassen.

Auf dem nächsten Scheidewege trennte sich dieser von seinen beiden Reisegefährten und langte ohne besonderes Abenteuer in Hirschberg, seiner Vaterstadt, an. Rübezahl war ihm unsichtbar bis zur Herberge gefolgt, um ihn einen Possen spielen zu können; nun verließ er den Burschen, um ihn bei gelegener Zeit wieder aufzusuchen. Jetzt ging er ins Gebirge zurück und sann auf ein Mittel, sich an dem Spötter zu rächen. Da begegnete ihm von ungefähr ein Jude auf der Landstraße, der nach Hirschberg wollte und sehr reich war; diesen ersah Rübezahl sogleich zum Werkzeug seiner Rache. Er nahm alsbald die Gestalt jenes lustigen Gesellen an, der ihn mit dem Spottnamen gerufen hatte, und indem er ein Stück Weges neben dem Juden hinwanderte, sich freundlich mit ihm unterhaltend, führte er ihn unbemerkt von der Straße ab in ein Gehölz, wo er ihn überfiel und zu Boden warf und ihn des Beutels, darin der Israelit viel Gold und Geschmeide trug, beraubte. Nachdem er ihn tüchtig zerschlagen hatte, ließ er den armen geplünderten Mann halbtot im Gebüsch liegen und verschwand.

Als sich der Jude nach einigen Stunden von Schreck und Mißhandlungen erholt hatte, rief er laut um Hilfe, damit er von den Stricken befreit würde, womit ihm Hände und Füße gebunden waren. Da trat ein feiner, ehrbarer Mann zu ihm, ein ansehnlicher Bürger, wie es schien, und als er den Juden gebunden sah, befreite er ihn von den Stricken und leistete ihm jede mögliche Hilfe. Er labte ihn mit Wein und geleitete ihn dann bis Hirschberg an die Tür derselben Herberge, wo der Geselle hineingegangen war; diese pries der Fremde dem geplünderten Juden als die billigste, gab ihm noch einen Zehrpfennig und verließ ihn dann.

Wie erstaunte der Israelit, als er in der Stube des Wirtshauses seinen Räuber ganz wohlgemut am Tische sitzen und einen Schoppen Landwein trinken sah. Er wußte nicht, ob er seinen Augen trauen sollte, denn der Bursche war so froh und vergnügt, als hätte er das beste Gewissen der Welt.

Ganz still setzte sich der Beraubte in einen Winkel und sann, wie er wieder zu seinem Eigentum gelangen könne. Da er sich indes immer mehr und mehr überzeugte, daß er sich in der Person seines Räubers nicht irre, ging er heimlich zum Richter und teilte ihm den Vorfall mit. Alsbald wurden Häscher mit Spießen und Stangen zur Herberge geschickt, die das Haus umzingelten und den Verbrecher vor die Ratsversammlung führten. „Wer bist du?“ fragte der oberste Richter, „und von wannen kommst du?“

Darauf antwortete der Bursche ganz freimütig und unerschrocken: „Ich bin ein ehrlicher Schneider meines Handwerks und heiße Benedix.“

„Hast du nicht diesen Juden auf der Landstraße mörderisch überfallen und seines Geldes beraubt?“

„Ich habe diesen Mann nie zuvor mit Augen gesehen und ihn weder geschlagen, noch des Geldes beraubt; ich bin ein ehrlicher Handwerker und kein Straßenräuber.“

„Zeig einmal deine Kundschaft!“ (Das ist der Gesellenbrief eines Handwerkers.)

Benedix öffnete getrost das Wanderbündel, worin er seine Papiere verwahrt hatte. Doch wie er darin umhersuchte, klang es wie Gold. Alsbald griffen die Häscher danach und zogen den schweren Säckel heraus, den der erfreute Jude auch sogleich als sein Eigentum erkannte. Da stand Benedix wie vom Blitz zerschmettert, seine Knie zitterten und er ward bleich wie Kalk; kein Wort vermochte er zu seiner Rechtfertigung zu sagen.

„Bösewicht!“ sagte der Richter zornig, „willst du auch jetzt noch deine Schuld leugnen?“

„Erbarmen, gestrenger Herr!“ flehte der arme Gesell und fiel auf seine Knie. „Ich rufe den Himmel zum Zeugen an, daß ich unschuldig bin und von dem Raube nichts weiß.“

„Du bist überführt!“ antwortete jener. „Der gefundene Beutel spricht am deutlichsten für dein Verbrechen; bekenne nur freiwillig, ehe dich die Folter dazu zwingt.“ — Der geängstigte Benedix konnte aber nichts tun, als seine Unschuld wiederholt zu versichern; da aber Anstalten zur Tortur gemacht wurden und der arme Schneidergesell die Marterwerkzeuge erblickte, gestand er alles ein, obgleich sein Herz nichts davon wußte. Der Prozeß wurde nun kurz gemacht und Benedix zum Strange verurteilt.

Das Volk, das in der Gerichtsstube versammelt war, pries laut die Weisheit und die Gerechtigkeit der Richter; am meisten aber tat dies jener Bürgersmann, der den Juden befreit hatte und sich nun auch in der Versammlung befand. Das war aber, wie ihr wohl schon erraten haben werdet, kein anderer als Rübezahl, der das Gold des Juden heimlich in das Felleisen des Handwerksburschen versteckt hatte, um sich wegen des Spottnamens an ihm zu rächen.

Indes ward ein Geistlicher zu dem armen Sünder geführt, um ihn zum Tode vorzubereiten, da dieser aber den Benedix sehr unwissend fand, hielt er es für notwendig, daß die Hinrichtung verschoben werde, damit er den Unwissenden zuvor mehr im Christentum unterweisen könne, und der Rat gewährte dazu einen Aufschub von drei Tagen. Als Rübezahl dies hörte, flog er mürrisch ins Gebirge zurück, um dort die Zeit abzuwarten.

In dieser Zwischenzeit durchstrich er die Gegend und fand dabei ein junges Weib, die traurig an einem Baume lag und weinte. Ihre Kleidung war dürftig, aber sehr gut und sauber gehalten, und ihre Hände schienen an harte Arbeit gewöhnt. Sie trocknete sich zuweilen die Augen damit und seufzte so schwer, daß selbst Rübezahl davon bewegt wurde.

Er nahm daher wieder die Gestalt eines stattlichen Bürgers an, trat näher zu dem jungen Weibe und fragte, warum sie denn gar so traurig sei? „Ach,“ jammerte diese, „ich bin eine Unglückliche und habe das Verderben eines sonst so guten Menschen auf der Seele!“

Der Gnom staunte. „Wie?“ fragte er, „dein Gesicht sieht doch so ehrlich und gut aus, und du solltest voll Bosheit sein? Aber freilich, die Menschen sind ja alle schlecht und böse.“

„Ach, mein Herr, da habt ihr unrecht; der Benedix ist nun schon eine treue, redliche Haut und ist kein Falsch in seinem Herzen. Ich nur habe ihn ins Verderben gelockt und seinen Tod verschuldet, den er nun durch Henkershand sterben soll. Er ist nämlich mein Mann, — der Benedix, — und wir sind kaum ein Jahr verheiratet miteinander; mit dem Gewerbe ging es aber von Anfang an schlecht, wir hatten viel Not und Kummer, und ich war manchmal unzufrieden und traurig, wenn ich die Nachbarinnen Sonntags in schönen Kleidern zur Kirche gehen sah, indes ich mit der Nähnadel in der Hand meinem Manne altes Flickwerk zusammensetzen helfen mußte. Da wurmte ihn endlich mein unzufriedenes Wesen, so wohlgemut er auch sonst bei aller Trübsal gewesen war; er schnürte eines Tages sein Bündel und sagte: „Ich will ins Riesengebirge gehen, wo ich einige Verwandte habe; die helfen mir wohl mit ein paar Talern auf, womit ich ein Fleckchen Acker kaufen kann. Damit haben wir doch eigenes Brot, und es wirft doch auch einmal eine neue Jacke oder Mütze für dich ab.“ Der gute Benedix! — Damit wanderte er getrost nach Hirschberg; aber meine sündliche Unzufriedenheit hat ihn verleitet, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, und nun muß er den bittern Tod erleiden für meine Schuld. Das überlebe ich nicht und will nur noch einmal gehen, um Abschied von meinem Manne zu nehmen; die Müdigkeit und der Schmerz haben mich aber schon auf der Hälfte des Weges aller Kräfte beraubt.“

Rübezahl war von dem großen Schmerz des jungen Weibes gerührt und vergaß um ihretwillen der Rache, die er ihrem Mann geschworen hatte. „Sei getrost,“ sagte er zu der Weinenden, „du sollst deinen Benedix wiederhaben, ehe die Sonne untergeht. Wisse auch zu deinem Trost, daß er den Raub nicht begangen hat und unschuldig ist; merke dir aber die Lehre, künftig mit deinem bescheidenen Lose zufriedener zu sein, da du nun weißt, daß der redliche Arme glücklicher und beneidenswerter ist als der schuldbewußte Reiche.“

„Ach Herr!“ rief die Frau, und sank vor ihm auf die Knie, „das wollte euch Gott vergelten, wie ihr mich getröstet habt. Gewiß, ihr seid ein guter Engel, den mir Gott schickt, obgleich ich so vieler Gnade unwert bin; denn ich habe ja um irdischer Güter und Herrlichkeit willen mein Seelenheil selbst in Gefahr gegeben.“

„Lasse das gut sein,“ sagte Rübezahl; „ich bin kein Engel, sondern ein Bürgersmann aus Hirschberg, der viele Freunde unter den Ratsherren der Stadt hat; die sollen mir deinen Mann schon freigeben. Kehre du nur in Frieden heim und sei guten Mutes.“

Da machte sich die Frau voll heißen Dankes auf den Weg, und ihre Seele war voller Freude. Rübezahl aber begab sich nun in der Gestalt des Geistlichen, der den armen Sünder zum Tode vorbereiten sollte, zu Benedix in den Kerker. Wie fand er den lustigen Schneider da so überaus niedergeschlagen! Eine lange Zeit redete er über ernste Dinge mit dem Gefangenen, dann sagte er: „Ich überzeuge mich immer mehr, daß du unschuldig bist, mein Sohn, weiß dir aber nicht zu helfen, denn deine Sache steht gar schlimm und die Gerechtigkeit verlangt ein Opfer. Freilich gäbe es noch ein Mittel, dich zu retten, und ich will nicht anstehen, es anzuwenden. Du sollst nämlich die Kleider mit mir wechseln und das Gefängnis verlassen; mein weiter Talar wird den Gefängniswärter schon also täuschen, daß er dir willig das Tor öffnet. Hier hast du auch noch ein Brot auf den Weg, kehre nun heim zu deinem Weibe, so schnell dich deine Füße tragen.“

„Aber ehrwürdiger Herr,“ sagte Benedix bedenklich, „ihr könntet dadurch wohl in große Gefahr und Verantwortung kommen, wenn ihr mir also zur Flucht verholfen hättet. Am Ende töteten sie euch statt meiner, und ehe solches Unrecht an einem so frommen Manne geschieht, will ich lieber sterben. Wenngleich ich an dem Diebstahl unschuldig bin, so habe ich doch wohl durch manche andere Sünde Strafe verdient und will sie lieber ertragen, als mir mein Gewissen durch euren Tod schwer machen.“

Rübezahl wunderte sich über die Sinnesart des ehrlichen Benedix und freute sich, daß er sein Unrecht an ihm noch gutmachen konnte. Daher sprach er zu ihm: „Sei ohne Sorge deshalb, mein Sohn, mein Stand wird mich vor einer solchen Strafe schützen; auch habe ich viele Anhänger und mächtige Freunde in der Stadt, die mir kein Leid widerfahren lassen werden.“ Da ward der arme Benedix erfreut, daß er mit heiler Haut der Gefahr entkommen sollte, machte sich geschwind auf und verließ mit tausend Danksagungen gegen den ehrwürdigen Geistlichen seinen Kerker. Aber die ihm angeborene Zaghaftigkeit konnte er doch nicht verleugnen, denn als er an dem Schließer vorbeiging, klappten ihm die Zähne und seine Knie schlotterten aus Furcht, daß dieser ihn erkennen möchte. Endlich kam er, glücklich aus der Stadt und war, ehe die Sonne unterging, wieder daheim bei seinem Weibe.

Welch eine Freude hatte diese, ihren treuen Benedix gesund und frisch wiederzusehen. Erst dankten sie beide Gott für die wunderbare Rettung, dann aber sehnte sich Benedix nach einer tüchtigen Mahlzeit, denn die Todesfurcht hatte ihm allen Appetit verdorben, und nach dem weiten Wege und der glücklich überstandenen Gefahr machte der Hunger sein Recht geltend. Die Frau holte nun geschwind herbei, was nur die arme Küche vermochte, und Benedix schnitt das Brot dazu auf, welches der fromme Pater ihm mit auf den Weg gegeben hatte.

Aber sieh da! als er das Messer hineinstieß, gab es einen seltsamen Klang, und ein Häuflein geprägten Goldes fiel auf den Tisch. — Nun erst merkten Benedix und sein Weib, wer der großmütige Helfer gewesen sein müsse, priesen ihn aus dankbarem Herzen, und zogen fort aus der Gegend nach Prag, wo Benedix sich ein hübsches Haus kaufte und bald der berühmteste Meister wurde, der oft mehr als zehn Gesellen hielt. Seine Frau genoß nun den Wohlstand, den sie sich früher so sehr gewünscht; aber sie mißbrauchte ihn nicht, sondern tat den Armen Gutes, statt mit schönen Kleidern zu prunken, wie es wohl sonst ihr Streben gewesen war. Benedix blieb ehrlich, wie er es immer gewesen, und das trug nicht wenig dazu bei, ihm Kundschaft und Ehre zu bringen.

Als am dritten Tage in Hirschberg der arme Sünder vor die Tore der Stadt geführt wurde, waren viele Tausend Menschen versammelt, um dem Schauspiele beizuwohnen. Als der Henker aber sein Amt verrichtet hatte, zappelte der Tote so sehr am Stricke, daß dem Henker bange ward, das Volk werde ihn steinigen, daß er den Delinquenten zu sehr quäle. Auf einmal aber ward dieser still und streckte sich lang aus; darauf verlief sich die Menge.

Am andern Morgen aber kamen einige Bauern vom Felde in die Stadt und berichteten, der Gehangene lebe noch immer, denn er zappele mit Händen und Füßen. Da schickte der wohlweise Rat eine Deputation hinaus zum Galgen, um die Sache zu untersuchen, aber was fanden die gestrengen Herren statt des Delinquenten? — Eine Schütte Stroh mit alten Lappen bekleidet, wie man sie oft in ein Schotenfeld stellt, um die Sperlinge zu verscheuchen.

Darüber verwunderten sie sich sehr und schüttelten die wohlgepuderten Perücken, daß der feine Staub um ihre Köpfe flog. Nach langem Sinnen ließen sie endlich den Strohmann abnehmen und verbreiteten die Nachricht, der große Wind habe in der Nacht den leichten Schneider vom Galgen über die Grenze der Stadt hinausgeweht.