Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Rübezahl - Neue Sammlung der schönsten Sagen und Märchen von dem Berggeiste im Riesengebirge
(Rosalie Koch)

Woher Rübezahl seinen Namen hat

Unsichtbar schlich der Berggeist einmal von seinem Felsen ins Tal hinab, und lustwandelte zwischen grünem Gesträuch und blühenden Hecken. Da gewahrte er die Gestalt eines überaus lieblichen Mädchens, welches die Tochter eines Fürsten war, der im schlesischen Gebirge herrschte, und die sich mit ihren Gespielinnen ins Gras gelagert hatte. Sie pflegte oft mit den Jungfrauen ihres Hofes in diesen Büschen zu lustwandeln, für ihren Vater Erdbeeren zu pflücken oder Wohlgeruch duftende Kräuter und Blumen zu sammeln. „Ei,“ dachte der Berggeist, „dies schöne, heitere Wesen wär’ eine gar erfreuliche Gesellschaft in meinem einsamen Reiche,“ — und alsbald entführte er als ein Sturmwind die schöne Emma, indem er die Augen der Gespielinnen durch Staub und Sand blendete, die nun mit ihrem Wehklagen Berg und Tal erfüllten und ohne Unterlaß nach der geraubten Prinzessin suchten.

Der König, ihr Vater, war sehr betrübt darüber, nahm die goldene Krone von seinem Haupte und verhüllte sein weinendes Angesicht in den Purpurmantel.

Am traurigsten aber war die Prinzessin selbst, als sie sich plötzlich in dem Palaste des Berggeistes befand, den er im Augenblicke aufgebaut und mit soviel Reichtum und Glanz ausgeschmückt hatte, wie es die Königstochter selbst am Hofe ihres Vaters nicht gesehen. Sie selbst war auf das kostbarste gekleidet, und eine ganze Reihe Kisten und Schränke standen mit allerlei Putz und Schmuck für sie angefüllt. Ein schöner Lustgarten umgab den Palast von drei Seiten, die Obstbäume darin trugen purpurrote und goldene Früchte, und auf den Rasenplätzen, die von den seltensten Blumen eingefaßt waren, lag der erquickendste Schatten. Der Berggeist, bemüht, daß es seinem schönen Gaste gefallen solle, ernannte die Prinzessin zur unumschränkten Herrin dieser Besitzung und folgte jedem ihrer Winke wie einem Befehl. Aber bei alledem fühlte sich Emma doch unglücklich, denn sie sehnte sich nach ihrem Vater und ihren Gespielinnen zurück.

Der Gnom bemerkte bald die Traurigkeit der holden Prinzessin und dachte: Es mangelt ihr nur an Unterhaltung, denn der Mensch ist an Geselligkeit gewöhnt, gleich der Biene und Ameise. Und flugs ging er hinauf aufs Feld, zog auf einem Acker ein Dutzend Rüben aus, legte sie in einen zierlich geflochtenen Korb und brachte sie der Prinzessin.

„Holde Erdentochter,“ redete er sie an, „du sollst nun nicht länger einsam sein; in diesem Korbe ist alles enthalten, was du bedarfst, um diesen einsamen Ort zu beleben. Nimm diesen kleinen, buntgeschälten Stab, berühre eine dieser Rüben damit und gib ihr diejenige Gestalt, welche dir gefällt.“ Darauf verließ er die Prinzessin.

Diese zögerte keinen Augenblick, von dem Zauberstabe Gebrauch zu machen. „Brinhild!“ rief sie, „meine liebe Brinhild, erscheine!“ und alsbald umschlang die Gerufene ihre Knie und liebkoste die holde Gebieterin mit Tränen der Freude. Emma überließ sich nun ganz dem Glück, ihre liebste Gespielin um sich zu haben; sie lustwandelte Hand in Hand mit ihr durch den Garten, brach von den köstlichsten Früchten für sie, dann zeigte sie ihr die schönen Kleider, die Ketten und Spangen von Gold und Edelsteinen und vergaß über Brinhildes Bewunderung fast allen Harm.

Nun verwandelte Prinzessin Emma auch noch die übrigen Rüben durch den Zauberstab, so daß sie wieder ihre Kammerfrauen und sogar ihre Cyperkatze und ihr Hündchen um sich hatte. Wie sie so ihren alten Hofstaat um sich versammelt sah, war sie wohl zufrieden mit dem Berggeiste und zeigte ihm zum erstenmale ein freundliches Gesicht. Aber ihr Glück war von kurzer Dauer, denn nur zu bald bemerkte Emma, daß die blühende Gesichtsfarbe ihrer Gesellschafterinnen erbleichte und sie nur noch die einzige frische Rose unter den abwelkenden Jungfrauen war. Ja eines Morgens, als Emma klingelte, kamen an Stäben und Krücken statt der Kammerfrauen lauter alte Matronen ins Zimmer gehumpelt, die zitterten und husteten, daß es traurig anzusehen war; das Lieblingshündchen selbst lag im Verscheiden, und die Cyperkatze konnte nicht mehr kriechen vor Schwäche. Bestürzt verließ die Prinzessin diese unheimliche Gesellschaft, trat auf den Söller hinaus und rief den Gnom, der auch sogleich erschien.

„Was hast du mit meinen Gespielinnen und Kammerfrauen gemacht, boshafter Geist!“ redete sie ihn zornig an; „mißgönnest du mir diese einzige Freude in der schrecklichen Gefangenschaft, in der du mich hältst? Wenn du ihnen nicht sogleich Jugend und Wohlgestalt zurückgibst, will ich nicht aufhören, dich mit meinem Haß zu verfolgen, und nicht eher sollst du mein Angesicht sehen.“

„Zürne nicht,“ bat der Berggeist, „ich kann das Unmögliche bei aller meiner Kraft nicht erfüllen. Solange noch Saft in den Rüben war, konntest du durch den magischen Stab ihr Pflanzenleben nach deinem Gefallen verwandeln, nun dieser aber vertrocknet ist, müssen die verwandelten Gestalten nach den Gesetzen der Natur verwelken, die ich nicht abändern kann. Aber bekümmere dich deshalb nicht zu sehr, schöne Emma, ich will dir sogleich andere Rüben bringen, mit denen du deinen Hofstaat schnell wieder ersetzen kannst. Gib indes der Natur ihre Geschenke wieder zurück.“

Der Gnom entfernte sich eilig, und Emma nahm den bunten Stab zur Hand, berührte die alten Matronen mit dem umgekehrten Ende desselben und warf dann die vertrockneten Rüben, in welche sie sich wieder verwandelt hatten, in einen Winkel. Nun eilte sie, so schnell sie konnte, zu ihrem Lieblingsplatze, einer grünen Rasenstelle im Garten, um den frisch gefüllten Korb von dem Berggeiste wieder in Empfang zu nehmen. Aber da kam ihr der Gnom schon mit sichtbarer Verlegenheit entgegen und sagte ganz bestürzt:

„Ich habe dir voreilig mehr versprochen, als ich nun zu halten imstande bin; das ganze Land habe ich durchstreift, um noch einen Rübenacker zu finden, aber überall, sind sie schon eingeerntet und verwelken in dumpfigen Kellern. Obgleich es hier in deiner Nähe Frühling ist, so ist doch das Tal unten mit Eis und Schnee bedeckt, und du mußt noch drei Monate warten, bis ich dein Verlangen und mein Versprechen erfüllen kann.“ —

Da drehte ihm die Prinzessin zornig den Rücken und verschloß sich traurig in ihre Zimmer; der Gnom bekam ihr Angesicht nicht mehr zu sehen, so sehr er auch bat. Er begab sich nun als Pachter verkleidet nach Schmiedeberg, kaufte dort auf dem Markte einen Esel und belud ihn mit Säcken voll Rübensamen, damit er einen ganzen Morgen Land besäen konnte. Nun bestellte er den Acker, und seine dienstbaren Geister mußten ein unterirdisches Feuer anschüren, damit die linde Wärme das rasche Wachstum der Saat befördere.

Das Rübenkraut schoß auch bald lustig genug auf und der Berggeist durfte auf eine reiche Ernte hoffen. Die Prinzessin ging nun täglich auf das Ackerfeld hinaus, aber es ging ihr mit dem raschen Wachstum der Saat immer noch zu langsam, und ihre Augen verloren allen Glanz, ihre Wangen alle Farbe. Sie war nämlich mit einem schönen Prinzen des Nachbarlandes verlobt gewesen, und die Hochzeit war nahe, als der Berggeist sie von der Erde entführte. Prinz Ratibor durchstreifte nun die Gegend ohne Unterlaß, um seine Braut wiederzufinden, und zog sich endlich ganz traurig in die einsamsten Waldungen zurück, als alle seine Bemühungen erfolglos blieben. Emma aber wünschte ebenso sehr, wieder zu ihm zurückkehren zu können, als Prinz Ratibor, sie wiederzufinden, und sie schmiedete in ihrer freiwilligen Einsamkeit — da sie noch immer zürnend die Gesellschaft des Gnomen mied — einen klugen Plan, um aus ihrer Haft zu entfliehen und den Hüter zu täuschen; wußte sie doch jetzt, daß auch er zu überlisten war.

Allmählich zog nun der schöne Lenz wieder in dem Gebirgstale ein, und die Rüben wurden groß und voll. Die schlaue Emma zog täglich einige davon aus, um allerlei Versuche damit zu machen; sie gab ihnen allerlei Gestalten, anscheinend nur zu ihrer Unterhaltung, aber sie hatte eine andere Absicht dabei. Sie ließ eines Tages eine kleine Rübe zur Biene werden und schickte sie auf Kundschaft aus zu ihrem Verlobten:

„Flieg’, kleine Biene, gegen Sonnenaufgang zu dem Prinzen Ratibor und summe ihm ins Ohr, daß ich lebe, aber in der Gefangenschaft des häßlichen Berggeistes bin. Verlier’ kein Wort von meinem Gruße und kehre alsdann geschwind zurück, mir Antwort zu bringen.“

Das Bienchen flog vom Finger der Prinzessin, wohin sie gewiesen war; aber sie hatte ihren Flug kaum begonnen, als eine Schwalbe auf sie herabstieß und die kleine Botin verschlang.

Darauf formte Emma eine Grille, gab ihr denselben Auftrag und sagte:

„Hüpfe, kleine Grille, über das Gebirge hin, zum Prinzen Ratibor und sag’ ihm, daß ich der Befreiung aus der Gewalt des Berggeistes durch seinen starken Arm harre.“ —

Die Grille flog und hüpfte, so schnell sie konnte, aber ein langbeiniger Storch ging eben am Wege spazieren und fing sie mit seinem langen Schnabel auf.

Die Prinzessin harrte also lange vergebens darauf, daß ihre Boten zurückkehren möchten; aber diese mißlungenen Versuche schreckten sie nicht ab. Sie gab einer dritten Rübe die Gestalt einer Elster und sagte:

„Fliege hin, du beredsamer Vogel, von Baum zu Baum, bis du zum Fürsten Ratibor kommst; dem sage von meiner traurigen Gefangenschaft und gibt ihm Bescheid, daß er am dritten Tage von heute ab mit Roß und Mann an der Grenze des Gebirges sei, um mich aufzunehmen, und aus der Gewalt des Gnomen zu befreien.“ —

Die zweifarbige Elster flatterte darauf von einem Ruheplatz zum andern, und Emma folgte ihrem Fluge mit den Augen, so weit sie konnte.

Prinz Ratibor irrte indessen noch immer durch die Wälder, den Verlust seiner holden Braut beklagend. So saß er einmal unter einer schattigen Eiche und rief traurig den Namen der Prinzessin in die Luft. Alsbald hörte er von einer unbekannten Stimme rufen und erblickte eine Elster, die auf den Zweigen einer Eiche hin und wieder flog. Und diese begann nun herzusagen, was Emma sie gelehrt hatte. Als Prinz Ratibor diese Botschaft hörte, ward er voller Freude, eilte schnell in sein Hoflager zurück, rüstete eine Anzahl Reisige aus und zog mit ihnen guten Mutes den Riesenbergen zu.

Emma hatte inzwischen alles zu ihrer Flucht vorbereitet. Sie erschien eines Tages wieder mit dem größten Schmuck angetan; alles kostbare Geschmeide, womit der Herr der Riesenberge sie beschenkt hatte, trug sie an sich und strahlte dadurch ebenso sehr, als durch den Ausdruck der Freude, der in ihrem Gesichte lag; denn die Elster war glücklich zurückgekommen und hatte ihr gemeldet, was sie ausgerichtet hatte.

Als der Gnom die Prinzessin so freundlich und schön geschmückt sah, glaubte er, sie habe nun endlich ihren Widerwillen gegen diesen Aufenthalt besiegt und werde nun durch Heiterkeit und Frohsinn sein einsames Reich beleben. Er trat ihr daher freundlich entgegen und fragte: „ob sie ihm noch zürne, daß er sie so lange auf ihren Hofstaat habe warten lassen müssen?“ Die Prinzessin lächelte zum erstenmale freundlich und verhieß ihm, sie wolle fortan gerne bei ihm bleiben, wenn er ihr zuvor noch einen kindischen Wunsch erfüllen wolle. Dazu vermaß sich der Gnom sogleich, und nun trug ihm die Prinzessin schalkhaft auf, die Rüben des Ackers zu zählen, ohne sich dabei zu irren, weil sie ihre Zofen und sonstige Gesellschaft daraus wählen wolle, und schon jetzt genau zu wissen wünsche, wieviel ihr zu Gebote stehen würden.

Sogleich eilte der Berggeist zum Ackerstücke und fing an, die Rüben mit großer Sorgfalt zu zählen, als er damit fertig war, wollte er sich davon überzeugen, ob er sich auch gewiß nicht geirrt habe, und fing noch einmal von neuem zu zählen an. Aber da fand er eine ganz andere Summe, als das erstemal, und mußte das beschwerliche und langweilige Geschäft zum drittenmal beginnen.

Während er also beschäftigt war, benutzte Emma seine Abwesenheit sogleich, um ihren Plan ins Werk zu setzen. Sie nahm eine starke, saftvolle Rübe und verwandelte sie in ein mutiges Roß mit Sattel und Zeug. Rasch schwang sie sich nun darauf und sprengte über Heiden und Gestrüpp dahin, bis hinab in das Tal, wo Prinz Ratibor ihr schon entgegenkam und die atemlose Flüchtige in seinen Schutz nahm.

Als der Gnom mit seiner mühevollen Arbeit nach wiederholtem Zählen zustande gekommen war, eilte er, die Prinzessin aufzusuchen; da er sie aber auf dem Rasenplatz nicht mehr fand, lief er durch die bedeckten Gänge und Lauben des Gartens. Endlich rief er im ganzen Palast ihren Namen aus und wurde zuletzt unruhig darüber, daß ihm nur der Widerhall Antwort gab. Alsbald schwang er sich in die Luft empor, um sein Gebiet zu überschauen, und da sah er denn seine schöne Gefangene noch in der Ferne, wie ihr Roß eben über die Grenze setzte.

Wütend ballte der erzürnte Geist einige Wolken zusammen und schleuderte einen Blitz nach den Fliehenden; aber dieser traf nur eine der hundertjährigen Grenzeichen und zersplitterte sie in viele Tausende von Teilchen. Jenseits der Grenze hörte aber seine Macht auf, und die Donnerwolke zerfloß in sanften Heidenrauch.

Nachdem er in stummer Wut den Entflohenen noch lange nachgeschaut hatte, kehrte er zornig in seinen Palast zurück, aber nur, um diesen samt dem köstlichen Lustgarten zu zertrümmern. Dann zog er sich an die entferntesten Grenzen seines Gebietes zurück, um seinen Menschenhaß im Mittelpunkte der Erde zu verbergen. Nach und nach aber überwand er auch diesen wieder und lebte von Zeit zu Zeit unter den Gebirgsbewohnern, stiftete mancherlei Gutes oder neckte die Menschen mit ihren Schwächen und Gebrechen, so daß mancher dieselben erkannte und sich besserte, zu seinem und seiner Mitmenschen Wohl. Nie aber hatte der Berggeist wieder versucht, ein schönes Erdenkind zu entführen, oder etwas zu versprechen, was er nicht halten konnte.

Fürst Ratibor aber führte die schöne Emma im Triumph an den Hof ihres Vaters zurück, der ihn nun mit der Hand der Prinzessin und einer schönen Stadt belohnte, die nach dem Besitzer „Ratibor“ genannt wurde. Das sonderbare Abenteuer, das die Prinzessin im Riesengebirge erlebt hatte, und ihre schlaue Flucht wurden das Märchen des Landes und pflanzte sich von Geschlecht zu Geschlecht weiter fort. Die Bewohner der umliegenden Gegend, die den Berggeist bei seinem Geisternamen nicht zu nennen wußten, legten ihm nun einen Spottnamen auf und nannten ihn fortan nur Rübenzähler oder Rübezahl.