Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Rübezahl - Deutsche Volksmärchen vom Berggeist und Herrn des Riesengebirges
(Rudolf Reichhardt)

Der Hexenstab

Wer einmal jetzt im Riesengebirge reist, findet fast bei jedem bemerkenswerten Punkte auf den Bergen und in den Tälern, besonders wo gastliche Häuser den Wanderern zur Erholung und Erfrischung einladen, Verkaufsstände, welche Andenken an das Gebirge feilhalten. In großer Auswahl auf Bechern, Tassen, Karten, Bildern, Pfeifen und anderen Dingen wird besonders auch Rübezahls gedacht. Man findet da manche seiner Geschichten abgebildet und auf mancherlei Art seine äußere Erscheinung dargestellt. Mit Vorliebe kaufen die Reisenden lange Bergstöcke mit einer tüchtigen Spitze daran, die ihnen das Gehen erleichtern. Auf vielen steht der Name „Rübezahl“ und man nennt sie deshalb „Rübezahlstöcke“. Diese Bezeichnung ist aber keine willkürliche, sondern steht im Zusammenhange mit vielen Rübezahlmärchen, in welchen Wanderstäbe eine gewisse Rolle spielen. Eins der schönsten will ich euch erzählen.

In den Zeiten, wo die meisten unserer Geschichten spielen, gab es noch keine Briefträger, welche Briefe und Pakete aus der Stadt auf das Land trugen. Da hielt jedes Dorf seinen Botenmann, welcher in gewissen Zeiträumen den Verkehr zwischen Dorf und Stadt vermittelte. Als solcher war auch der alte Leopold aus Schreiberhau weit und breit im Gebirge bekannt. Es wurde ihm nicht leicht, jahraus, jahrein bei Wind und Wetter unter der Last des Gepäckes die gebirgigen Pfade zu gehen, aber die Herrschaften der Rittersitze und die Kaufleute in der Stadt bezahlten ihm seine Mühe so gut, daß er hätte zufrieden sein können. Aber das Pflänzlein Zufriedenheit ist rar und auch von Leopold konnte man sagen: „Je mehr er hat, je mehr er will.“

Einst hatte er sich um die Mittagszeit in einer Baude niedergelassen und war vor Ermüdung eingenickt. Da erschien ihm Rübezahl im Traume und führte ihn zu seiner großen Braupfanne im Gestein, wo Gold- und Silberstücke ihm entgegenfunkelten. Eben wollte er auf des Berggeists Geheiß zugreifen, da war der Traum zu Ende — und das Glück verflogen.

„Rübezahl, Schabernacker,“ rief er ärgerlich aus, „kannst du mir nicht einmal helfen, damit ich Ruhe habe und meine letzten Lebenstage nicht in Unruhe und den Beschwerden meiner Botenwege verbringen muß!“ Damit ergriff er seinen langen Botenstock und verließ mürrisch die Baude.

Keine zwanzig Schritte war er gegangen, als ihm sein Stock entglitt, gerade als er über einen kleinen Bach sich schwingen wollte. Da lag er, so lang er war, und es war ein Glück, daß er nicht in den Bach gefallen war. Sein Fall machte ihn noch verdrießlicher und unmutiger. Da flog ein Raubvogel vor ihm auf und als er ihm nachsah, stieß sein Fuß an einen Stein, sein Stab geriet ihm zwischen die Füße — und pardauz! da machte er wieder mit dem Erdboden Bekanntschaft. Schließlich geriet er am Bergesabhang durch Abgleiten so ins Straucheln, daß er mit dem Kinn auf einen Stein aufschlug und ihm Wange und Lippen bluteten. Da nahm er wütend seinen Stab, der ein Stück abwärts gerollt war, und versuchte ihn am Felsen zu zerschmettern.

Aber der Stab bog sich um, fuhr ihm zwischen die Beine und kaum war dies geschehen, so ging’s auch flott durch die Luft über die Wipfel der Bäume hinweg im tollen Ritt, schneller wie der Wind.

Leopold meinte, er sei der wilde Jäger geworden, welcher zur Strafe durch die Luft reiten und in wildem Horrido und Hussasa über Land und Meer dahinrasen muß; schauerlich gähnten die Abgründe unter ihm und von Minute zu Minute glaubte er abzustürzen und zerschmettert am Boden anzukommen. Als sich aber seine Befürchtungen als grundlos erwiesen, da wurde er mutiger, ja er schmiedete auf seinem sonderbaren Reittier bereits Pläne, wie vorteilhaft sich für die Zukunft auf diesem Wege seine Botengänge gestalten würden.

Wie er so dahinfuhr, nahm sein Stab plötzlich die Richtung auf die Stadt Schmiedeberg. Dort war gerade Jahrmarkt. Als nun Roß und Reiter vom Himmel herab mitten zwischen die Buden, Käufer und Verkäufer zur Erde herniedersausten, da entsetzte sich die ganze Jahrmarktsgesellschaft. Die Stadtknechte aber nahmen kurzerhand, da man allgemein meinte, solche Luftfahrt ginge nicht mit rechten Dingen zu und Leopold sei ein Hexenmeister, sein Stab aber ein Hexenstab, den Botenmann gefangen und brachten ihn in sicheren Gewahrsam.

Der Tag des hochnotpeinlichen Gerichtes kam heran, Leopold wurde als Hexenmeister angeklagt und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Da geschah ein Wunder. Der Stadtrichter wollte dem Stadtknecht eben den Hexenstab übergeben, als ihm dieser zwischen die Beine fuhr, ihn erhob, durch das offene Fenster des Rathaussaales schob und ihn über die Häuser der Stadt entführte. Da gab’s eine große Aufregung unter den biederen Bürgern, als ihr hochgelahrter Stadtrichter hoch oben im Ornat in den Wolken schwebte — aber sieh da! — kurze Zeit später setzte der Hexenstab seinen Reiter wieder auf dem Marktplatz behaglich und unversehrt ab.

Als man Leopold ausfragte, wie er in den Besitz des wunderbaren Stabes gekommen sei, und dieser sein Abenteuer erzählt hatte, da ließ ihn das Gericht frei. Das Volk aber jubelte fröhlich und ausgelassen auf den Straßen: „Ein Schelmenstreich von Rübezahl! Es lebe der Berggeist!“ Mit den Schmiedebergern hat’s auch Rübezahl immer gehalten, weil sie seine Macht fürchteten und ihn als Herrn des Gebirges anerkannten.

Der alte Leopold hat aber von seinem Erlebnis keinen Vorteil gehabt, denn sein Stab wurde wieder der alte. Die Zauberkraft war von ihm gewichen.