Kinderbücher
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Rübezahl - Deutsche Volksmärchen vom Berggeist und Herrn des Riesengebirges
(Rudolf Reichhardt)

Rübezahl, der Berggeist und Herr des Riesengebirges

Im Südosten unseres lieben deutschen Vaterlandes breitet sich ein Gebirge aus, das man seiner großartigen Naturbeschaffenheit und seiner Ausdehnung halber das Riesengebirge nennt. Es bildet einen Teil der Sudeten und scheidet Schlesien von Böhmen und Mähren. Mächtige Berge, wie die Riesen- oder Schneekoppe, das Hohe Rad und die Sturmhaube, ragen weit in die Wolken hinein, und zwischen den felsigen Höhen haben starke Flüsse, z. B. die Elbe und der Bober, ihren Ursprung. In diesem Gebirge haust, wie sich das Volk erzählt, ein Gnom oder Geist, der sich selbst als den „Herrn oder Berggeist des Gebirges“ bezeichnet, vom neckenden Volksmunde aber „Rübezahl“ genannt wird.

Der Fürst der Berggeister besitzt zwar auf der Oberfläche der Erde nur ein kleines Gebiet von wenig Meilen im Umfang, mit einer Kette von Bergen umschlossen; aber wenige Klafter unter der urbaren Erdrinde hebt seine Alleinherrschaft an, die ihm niemand schmälern kann, und erstreckt sich auf achthundertsechzig Meilen in die Tiefe bis zum Mittelpunkt der Erde. Zuweilen gefällt es dem unterirdischen Herrscher, seine weitgedehnten Gebiete der Unterwelt zu durchkreuzen, die unerschöpflichen Schatzkammern edler Metalle und Flötze zu beschauen, die Knappschaft der gnomenhaften Bergleute zu mustern und in Arbeit zu setzen, teils um die Gewalt der Feuerströme durch feste Dämme aufzuhalten, teils um taubes Gestein in edles umzuwandeln. Zuweilen entschlägt er sich aller unterirdischen Regierungssorgen, erhebt sich zur Erholung auf die Grenzfeste seines Gebietes und hat sein Wesen auf dem Riesengebirge. Dann treibt er in frohem Übermute sein Spiel und Spott mit den Menschenkindern; denn Freund Rübezahl, müßt ihr wissen, hat eine sonderbare Natur. Er ist bald launisch, ungestüm, unbescheiden; bald stolz, eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zuzeiten gutmütig, edel und empfindsam, aber mit sich selbst in stetem Widerspruch, töricht und weise, oft weich und hart in zwei Augenblicken, wie ein Ei, das in siedendes Wasser fällt; schalkhaft und bieder, störrisch und beugsam, je nach der Stimmung, welche ihn gerade beherrscht.

Vor uralten Zeiten schon toste Rübezahl im wilden Gebirge, hetzte Bären und Auerochsen aufeinander, daß sie zusammen kämpften, oder scheuchte mit unheimlichem Getöse das scheue Wild vor sich her und stürzte es von den steilen Felsenklippen hinab ins tiefe Tal. Dieser Jagden müde, zog er wieder seine Straße durch die weiten Gebiete der Unterwelt und weilte da Jahrhunderte, bis ihn von neuem die Lust anwandelte, sich an die Sonne zu legen und sich des Anblicks der äußeren Schöpfung zu erfreuen. Wie nahm’s ihn wunder, als er einst bei seiner Rückkehr auf die Oberwelt, von dem beschneiten Gipfel des Riesengebirges umherschauend, die Gegend ganz verändert fand! Die düsteren, undurchdringlichen Wälder waren ausgerodet und in fruchtbare Ackerfelder verwandelt, wo reiche Ernten reiften. Zwischen den Pflanzungen blühender Obstbäume ragten die Strohdächer geselliger Dörfer hervor, aus deren Schornsteinen friedlicher Hausrauch in die Luft wirbelte; hier und da stand eine einsame Warte auf dem Abhange eines Berges zu Schutz und Schirm des Landes; in den blumenreichen Auen weideten Schaf- und Kuhherden und aus den lichtgrünen Wäldern tönten melodische Schalmeien.