Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Rübezahl - Deutsche Volksmärchen vom Berggeist und Herrn des Riesengebirges
(Rudolf Reichhardt)

Rübezahl und der Schneider Benedix

Der unmutsvolle Berggeist verließ die Oberwelt mit dem Entschluß, nie wieder das Tageslicht zu schauen; doch die wohltätige Zeit verwischte nach und nach die Eindrücke seines Grams; gleichwohl war ein Zeitraum von neunhundertneunundneunzig Jahren erforderlich, ehe die alte Wunde ausheilte. Endlich, da ihn die Beschwerde der Langeweile drückte und er einstmals sehr übel aufgeräumt war, brachte sein Liebling und Hofschalksnarr in der Unterwelt, ein drolliger Kobold, eine Lustpartie aufs Riesengebirge in Vorschlag, welchem Rübezahl gern zustimmte. Es war nur eine Minute nötig, so war die weite Reise vollendet und er befand sich mitten auf dem großen Rasenplatz seines ehemaligen Lustgartens, dem er nebst dem übrigen Zubehör die vorige Gestalt gab; doch blieb alles für menschliche Augen verborgen; die Wanderer, die übers Gebirge zogen, sahen nichts als eine fürchterliche Wildnis.

Der Anblick dieser Gegenstände erneuerte alle Erinnerungen an die schöne Emma, ihr Bild schwebte ihm noch so deutlich vor, als stünde sie neben ihm. Aber die Vorstellung, wie sie ihn überlistet und hintergangen hatte, machte seinen Groll gegen die ganze Menschheit wieder rege. „Unseliges Erdengewürm,“ rief er aus, indem er aufschaute und vom hohen Gebirge die Türme der Kirchen und Klöster in Städten und Flecken erblickte, „du treibst, sehe ich, dein Wesen noch immer unten im Tale. Hast mich geäfft durch Tücke und Ränke, sollst mir nun büßen; will dich auch hetzen und plagen, daß dir soll bange werden vor dem Treiben des Geistes im Gebirge.“

Kaum hatte er dies Wort gesagt, so vernahm er in der Ferne Menschenstimmen. Drei junge Gesellen wanderten durchs Gebirge und der keckste unter ihnen rief ohne Unterlaß: „Rübezahl, komm herab! Rübezahl, Mädchendieb!“ Von undenklichen Jahren her hatte der Volksmund die Entführungsgeschichte des Berggeistes getreulich aufbewahrt, sie wie gewöhnlich mit lügenhaften Zusätzen vermehrt und jeder Reisende, der das Riesengebirge betrat, unterhielt sich mit seinen Gefährten von den Abenteuern desselben. Man trug sich mit unzähligen Spukgeschichten, die sich niemals begeben hatten, machte damit zaghafte Wanderer fürchten und die starken Geister und Witzlinge, die an keine Gespenster glaubten, machten sich darüber lustig, pflegten aus Übermut oder um ihre Herzhaftigkeit zu beweisen, den Geist oft zu rufen, aus Schäkerei bei seinem Spottnamen zu nennen und auf ihn zu schimpfen. Man hat nie gehört, daß dergleichen Beleidigungen von dem friedsamen Berggeiste wären gerügt worden; denn in den Tiefen des Abgrundes erfuhr er von diesem mutwilligen Hohn kein Wort. Desto mehr war er betroffen, da er sein ganzes Abenteuer mit der Prinzessin jetzt so kurz und bündig ausrufen hörte. Wie der Sturmwind raste er durch den düsteren Fichtenwald und war schon im Begriff, den armen Tropf, der sich ohne Absicht über ihn lustig gemacht hatte, zu erdrosseln, als er in dem Augenblick bedachte, daß eine so empfindliche Rache großes Geschrei im Lande erregen, alle Wanderer aus dem Gebirge wegbannen und ihm die Gelegenheit rauben würde, sein Spiel mit den Menschen zu treiben. Darum ließ er ihn und seine Gefährten ruhig ihre Straße ziehen, mit dem Vorbehalt, seinen verübten Mutwillen ihm doch nicht ungestraft hingehen zu lassen.

Auf dem nächsten Scheidewege trennte sich der Hohnsprecher von seinen Kameraden und gelangte diesmal mit heiler Haut in Hirschberg, seiner Heimat, an. Aber als unsichtbarer Geleitsmann war ihm Rübezahl bis zur Herberge gefolgt, um ihn zu gelegener Zeit dort zu finden. Jetzt trat er seinen Rückweg ins Gebirge an und sann auf ein Mittel, sich zu rächen. Da begegnete ihm auf der Landstraße ein reicher alter Handelsmann, der nach Hirschberg wollte; da kam ihm in den Sinn, diesen zum Werkzeug seiner Rache zu gebrauchen. Er gesellte sich also zu ihm in Gestalt des losen Gesellen, der ihn gefoppt hatte, und plauderte freundlich mit ihm, führte ihn unbemerkt seitab von der Straße und da sie ins Gebüsch kamen, fiel er dem Händler mörderisch in den Bart, zauste ihn weidlich, riß ihn zu Boden, knebelte ihn und raubte ihm seinen Säckel, worin er viel Geld und Geschmeide trug. Nachdem er ihn mit Faustschlägen und Fußtritten zum Abschied noch gar übel zugerichtet hatte, ging er davon und ließ den armen geplünderten Mann halbtot im Busche liegen.

Als sich der Händler von seinem Schrecken erholt hatte und wieder Leben in ihm war, fing er an zu wimmern und laut um Hilfe zu rufen; denn er fürchtete in der grausenvollen Einöde zu verschmachten. Da trat ein feiner, ehrbarer Mann zu ihm, dem Ansehen nach ein Bürger aus einer der umliegenden Städte, fragte, warum er so stöhne, und als er ihn geknebelt fand, löste er ihm die Bande von Händen und Füßen und leistete ihm alles das, was der barmherzige Samariter im Evangelium dem Manne tat, der unter die Mörder gefallen war. Nachher labte er ihn mit einem kräftigen Schluck Lebenswasser, das er bei sich trug, führte ihn wieder auf die Landstraße und geleitete ihn freundlich bis nach Hirschberg an die Tür der Herberge; dort reichte er ihm einen Zehrpfennig und schied von ihm. Wie erstaunte der Händler, als er beim Eintritt in den Krug seinen Räuber am Zechtisch erblickte, so frei und unbefangen als ein Mensch sein kann, der sich keiner Übeltat bewußt ist! Er saß hinter einem Schoppen Landwein, trieb Scherz und gute Schwänke mit anderen lustigen Zechbrüdern und neben ihm lag der nämliche Rucksack, in welchen er den geraubten Säckel geborgen hatte. Der bestürzte Händler wußte nicht, ob er seinen Augen trauen sollte, schlich sich in einen Winkel und ging mit sich selbst zu Rate, wie er wieder zu seinem Eigentum gelangen möchte. Es schien ihm unmöglich, sich in der Person geirrt zu haben; darum schlich er sich unbemerkt zur Tür hinaus, ging zum Richter und machte ihm Mitteilung von dem räuberischen Überfall.

Das Hirschberger Gericht stand damals in dem Rufe, daß es schnell und tätig sei, Recht und Gerechtigkeit zu handhaben. Häscher bewaffneten sich mit Spießen und Stangen, umringten das Schenkhaus, griffen den unschuldigen Verbrecher und führten ihn vor die Schranken der Ratsstube, wo sich die weisen Väter indes versammelt hatten.

„Wer bist du?“ fragte der ernsthafte Stadtrichter, als der Angeklagte hereintrat, „und von wannen kommst du?“ Er antwortete freimütig und unerschrocken: „Ich bin ein ehrlicher Schneider meines Handwerks, Benedix genannt, komme von Liebenau und stehe hier in Arbeit bei meinem Meister.“

„Hast du nicht diesen Mann im Walde mörderisch überfallen, übel geschlagen, gebunden und seines Säckels beraubt?“

„Ich habe diesen Mann nie mit Augen gesehen, hab’ ihn auch weder geschlagen, noch gebunden, noch seines Säckels beraubt. Ich bin ein ehrlicher Zünftler und kein Straßenräuber.“

„Womit kannst du deine Ehrlichkeit beweisen?“

„Mit dem Ausweis über meine Kundschaft und dem Zeugnis meines guten Gewissens.“

„Weis’ auf deine Kundschaft.“

Benedix öffnete getrost den Rucksack; denn er wußte wohl, daß er nichts als sein wohlerworbenes Eigentum darin verwahrte. Doch wie er ihn ausleerte, sieh da! da klingelt’s unter dem herausstürzenden Plunder wie Geld. Die Häscher griffen hurtig zu, breiteten den Kram auseinander und zogen den schweren Säckel hervor, welchen der erfreute Handelsmann alsbald als sein Eigentum nach Feststellung des Tatbestandes zurückforderte. Der arme Schneider stand da wie vom Donner gerührt, wollte vor Schrecken umsinken, ward bleich, die Lippen bebten, die Knie wankten, er verstummte und sprach kein Wort. Des Richters Stirn verfinsterte sich und eine drohende Gebärde weissagte einen strengen Bescheid.

„Wie nun, Bösewicht!“ donnerte der Stadtvogt. „Erfrechst du dich noch, den Raub zu leugnen?“

„Erbarmung, gestrenger Herr Richter!“ winselte der Angeklagte auf den Knien, mit hochaufgehobenen Händen. „Alle Heiligen im Himmel ruf’ ich zu Zeugen an, daß ich unschuldig bin an dem Raube; ich weiß nicht, wie des Händlers Säckel in meinen Rucksack gekommen ist, Gott weiß es.“

„Du bist überwiesen,“ fuhr der Richter fort, „der Säckel beweist genugsam das Verbrechen, tue Gott und der Obrigkeit die Ehre, und bekenne freiwillig, ehe der Peiniger kommt, dir das Geständnis der Wahrheit abzufoltern.“

Der geängstigte Benedix konnte nichts, als sich auf seine Unschuld berufen; aber er predigte tauben Ohren: man hielt ihn für einen hartnäckigen Gaudieb, der sich nur aus der Halsschlinge herausleugnen wollte. Meister Hämmerling, der Foltermeister, wurde herbeigerufen, durch die stählernen Gründe seiner Beredsamkeit ihn zu veranlassen, Gott und der Obrigkeit die volle Wahrheit zu bekennen. Jetzt verließ den armen Wicht die standhafte Freudigkeit seines guten Gewissens, er bebte zurück vor den Qualen, die seiner warteten. Da der Folterer im Begriff war, ihm die Daumenschrauben anzulegen, bedachte er, daß dies ihn untüchtig machen würde, jemals wieder mit Ehren die Nadel zu führen, und ehe er wollte ein verdorbener Kerl bleiben sein Leben lang, meinte er, es sei besser, der Marter mit einem Male ledig zu werden, und gestand das Bubenstück ein, von welchem sein Herz nichts wußte. Die Verhandlung wurde nun kurzerhand abgetan und der Angeklagte, ohne daß sich das Gericht teilte, von Richtern und Schöppen zum Strange verurteilt, welcher Rechtsspruch zur Ersparung der Verpflegungskosten gleich tags darauf bei frühem Morgen vollzogen werden sollte.

Alle Zuschauer, welche das hochnotpeinliche Halsgericht herbeigelockt hatte, fanden das Urteil des wohlweisen Magistrats gerecht und billig; doch keiner rief den Richtern lauteren Beifall zu, als der barmherzige Samariter, der mit in die Gerichtsstube eingedrungen war und nicht satt werden konnte, die Gerechtigkeitsliebe der Herren von Hirschberg zu erheben; und in der Tat hatte auch niemand näheren Anteil an der Sache als eben dieser Menschenfreund, der mit unsichtbarer Hand des Händlers Säckel in des Schneiders Rucksack verborgen hatte und kein anderer als Rübezahl selbst war.

Schon am frühen Morgen lauerte er am Hochgericht in Rabengestalt auf den Leichenzug, der das Opfer seiner Rache dahin begleiten sollte, und es regte sich bereits in ihm der Rabenhunger, dem neuen Ankömmling die Augen auszuhacken; aber diesmal harrte er vergebens. Ein frommer Ordensbruder, der es sich angelegen sein ließ, die zum Tode Verurteilten zur Sinnesänderung und Buße zu bekehren, fand den Schneidergesellen so unwissend im Christenglauben, daß er den Magistrat um einen dreitägigen Aufschub der Hinrichtung bat. Als Rübezahl davon hörte, flog er ins Gebirge, die Vollstreckung des Urteils daselbst zu erwarten.

In diesem Zeitraume durchstrich er nach seiner Gewohnheit die Wälder und erblickte auf dieser Streiferei eine junge Dirne, die sich unter einem schattenreichen Baum gelagert hatte. Ihr Haupt sank schwermütig auf die Brust hinab, ihre Kleidung war nicht kostbar, aber reinlich und der Zuschnitt daran bürgerlich. Von Zeit zu Zeit verwischte sie mit der Hand eine herabrollende Zähre von den Wangen und schwere Seufzer entrangen sich ihrer Brust. Schon ehemals hatte der Berggeist die mächtigen Eindrücke jungfräulicher Tränen empfunden; auch jetzt war er so gerührt davon, daß er von dem Vorsatz, welchen er sich auferlegt hatte, alle Menschenkinder, die durchs Gebirge ziehen würden, zu tücken und zu quälen, zum ersten Male abging, die Empfindung des Mitleids sogar als ein wohltuendes Gefühl erkannte und Verlangen trug, das Mädchen zu trösten. Er verwandelte sich wieder in einen ehrbaren Bürger, trat freundlich zu der jungen Dirne und sprach: „Mägdlein, was trauerst du hier in der Wüste so einsam? Verhehle mir nicht deinen Kummer, daß ich zusehe, wie dir zu helfen sei.“

Das Mädchen, das ganz in Schwermut versunken war, schreckte auf, da sie diese Stimme hörte, und erhob ihr gesenktes Haupt. Zwei helle Tränen glänzten in ihren Augen und das holde, jungfräuliche Antlitz war mit dem Ausdruck banger Schmerzensgefühle übergossen. Da sie den ehrsamen Mann vor sich stehen sah, sprach sie: „Was kümmert Euch mein Schmerz, guter Mann, da Ihr nicht helfen könnt? Ich bin eine Unglückliche, eine Mörderin, habe den Mann meines Herzens gemordet und will abbüßen meine Schuld mit Jammer und Tränen, bis mir der Tod das Herz bricht.“

Der ehrbare Mann staunte. „Du eine Mörderin?“ rief er, „bei diesem freundlichen, lieben Gesicht trügst du die Hölle im Herzen? Unmöglich! — Zwar die Menschen sind aller Ränke und Bosheit fähig, das weiß ich; gleichwohl ist mir’s hier ein Rätsel.“

„So will ich’s Euch lösen,“ erwiderte die trübsinnige Jungfrau, „wenn Ihr es zu wissen begehrt.“

Er sprach: „Sag’ an!“

„Ich hatte einen Gespielen von Jugend an, den Sohn meiner Nachbarin. Er war so lieb und gut, so treu und bieder, liebte mich so standhaft und herzig, daß ich ihm ewige Treue gelobte. Ach, das Herz des braven Menschen habe ich vergiftet, hab’ ihn der Tugendlehren seiner frommen Mutter vergessen gemacht und ihn zu einer Übeltat verleitet, wofür er sein Leben verwirkt hat!“

Der Berggeist rief erstaunt: „Du?“

„Ja, Herr,“ sprach sie, „ich bin seine Mörderin, hab’ ihn gereizt, einen Straßenraub zu begehen und einen Handelsmann zu plündern; da haben ihn die Herren von Hirschberg gegriffen, Halsgericht über ihn gehalten und, o Herzeleid! morgen wird er abgetan!“

„Und was hast du verschuldet?“ fragte verwundert Rübezahl.

„Ja, Herr! Ich habe sein junges Leben auf meinem Gewissen.“

„Wie das?“

„Er zog auf die Wanderschaft übers Gebirge und als es zum Abschied ging, sprach er: ‚Feins Liebchen, bleib mir treu. Wenn der Apfelbaum zum dritten Male blüht und die Schwalbe zum Nest trägt, kehr’ ich von der Wanderschaft zurück, dich heimzuholen als mein junges Weib;‘ und das gelobte ich ihm zu werden durch einen teuren Eid. Nun blühte der Apfelbaum zum dritten Male und die Schwalbe nistete, da kam Benedix wieder, erinnerte mich meiner Zusage und wollte mich zur Trauung führen. Ich aber neckte und höhnte ihn und sprach: ‚Dein Weib kann ich nicht werden, du hast weder Herd noch Obdach. Schaff’ dir erst blanke Taler an, dann frage wieder.‘ Der arme Junge wurde durch diese Rede sehr betrübt. ‚Ach, Klärchen,‘ seufzte er tief, mit einer Träne im Auge, ‚steht dir dein Sinn nach Geld und Gut, so bist du nicht das biedere Mädchen mehr, das du vormals warst! Schlugst du nicht ein in diese Hand, da du mir deine Treue schwurest? Und was hatte ich mehr als diese Hand, dich einst damit zu ernähren? Woher dein Stolz und spröder Sinn? Ach, Klärchen, ich verstehe dich; ein reicher Freier hat mir dein Herz entwendet; lohnst du mir also, Ungetreue? Drei Jahre habe ich mit Sehnsucht und Harren traurig verlebt, habe jede Stunde gezählt bis auf diesen Tag, da ich kam, dich heimzuführen. Wie leicht und rasch machte meinem Fuß Hoffnung und Freude, da ich übers Gebirge wandelte, und nun verschmähst du mich!‘ Er bat und flehte, doch ich blieb fest auf meinem Sinn: ‚Mein Herz verschmäht dich nicht, o Benedix!‘ antwortete ich, ‚nur meine Hand versag’ ich dir für jetzt; zieh hin, erwirb dir Gut und Geld, und hast du das, so komm, dann will ich dich gern zum Mann nehmen.‘ ‚Wohlan,‘ sprach er mit Unmut, ‚du willst es so, ich gehe in die Welt, will laufen, will rennen, will betteln, stehlen, sparen, sorgen und eher sollst du mich nicht wiedersehen, bis ich erlange den schnöden Preis, um den ich dich erwerben muß. Leb’ wohl, ich fahre hin, Ade!‘ — So hab’ ich ihn betört, den armen Benedix; er ging ergrimmt davon; da verließ ihn sein guter Engel, daß er tat, was nicht recht war und was sein Herz gewiß verabscheute.“

Der ehrsame Mann schüttelte den Kopf über diese Rede und rief nach einer Pause mit nachdenklicher Miene: „Wunderbar!“ Hierauf wendete er sich zu der Dirne: „Warum,“ fragte er, „erfüllst du aber hier den leeren Wald mit deinen Wehklagen, die dir und deinem Bräutigam nichts nützen und frommen können?“

„Lieber Herr,“ fiel sie ihm ein, „ich war auf dem Wege nach Hirschberg, da wollte mir der Jammer das Herz abdrücken, darum weilte ich unter diesem Baume.“

„Und was willst du in Hirschberg tun?“

„Ich will dem Blutrichter zu Fuße fallen, will mit meinem Klagegeschrei die Stadt erfüllen und die Töchter der Stadt sollen mir wehklagen helfen, ob das die Herren erbarmen möchte, dem unschuldigen Blut das Leben zu schenken; und so mir’s nicht gelingt, meinen Benedix dem schmählichen Tode zu entreißen, will ich freudig mit ihm sterben.“

Rübezahl wurde durch diese Rede so bewegt, daß er von Stund’ an seiner Rache ganz vergaß und der Trostlosen ihren Bräutigam wiederzugeben beschloß. „Trockne ab deine Tränen,“ sprach er mit teilnehmender Gebärde, „und laß deinen Kummer schwinden. Ehe die Sonne zur Rüste geht, soll dein Benedix frank und frei sein. Morgen um den ersten Hahnenschrei sei wach und aufmerksam und wenn ein Finger ans Fenster klopft, so tu auf die Tür deines Hauses; denn es ist dein Benedix, der davor stehet. Hüte dich, ihn wieder wild zu machen durch deinen spröden Sinn. — Du sollst auch wissen, daß er das Bubenstück nicht begangen hat, dessen du ihn zeihest, und du hast gleichfalls keine Schuld; denn er hat sich durch deinen Eigensinn zu keiner bösen Tat reizen lassen.“

Das Mädchen, verwundert über diese Rede, sah ihm starr und steif ins Gesicht und weil darin keine Schalkheit oder Trug sich zeigte, gewann sie Zutrauen, ihre trübe Stirn klärte sich auf und sie sprach voll froher Zuversicht: „Lieber Herr, wenn Ihr mein nicht spottet und es also ist, wie Ihr sagt, so müßt Ihr ein Seher oder der gute Engel meines Benedix sein, daß Ihr das alles so wißt.“

„Sein guter Engel?“ versetzte Rübezahl betroffen, „nein, der bin ich wahrlich nicht; aber ich kann’s werden und du sollst’s erfahren! Ich bin ein Bürger aus Hirschberg, habe mit zu Rate gesessen, als der arme Sünder verurteilt wurde; aber seine Unschuld ist ans Licht gebracht, fürchte nichts für sein Leben. Ich will hin, ihn seiner Bande zu entledigen, denn ich vermag viel in der Stadt. Sei guten Muts und kehre heim in Frieden.“ Das Mädchen machte sich alsbald auf und gehorchte, obgleich Furcht und Hoffnung in ihrer Seele kämpften.

Der ehrwürdige Pater Graurock hatte sich’s die drei Tage des Aufschubs inzwischen blutsauer werden lassen, den Verurteilten gehörig zum Tode vorzubereiten. Als er dem trostlosen Benedix zum letztem Male gute Nacht gewünscht hatte, begegnete ihm Rübezahl unsichtbarerweise beim Eingange, noch unentschlossen, wie er sein Vorhaben, den armen Schneider in Freiheit zu setzen, auszuführen vermöchte. In dem Augenblick geriet er auf den Einfall, der recht nach seinem Sinn war. Er schlich dem Mönche ins Kloster nach, stahl aus der Kleiderkammer ein Ordenskleid, fuhr hinein und begab sich in Gestalt des Bruders Graurock ins Gefängnis, welches ihm der Kerkermeister ehrerbietig öffnete.

„Das Heil deiner Seele,“ redete er den Gefangenen an, „treibt mich nochmals hierher, da ich dich kaum verlassen habe. Doch hatte ich vorher vergessen, dich nach etwas zu fragen. Sag’ an, denkst du auch noch an Klärchen? Liebst du sie noch als deine Braut? Hast du ihr etwas vor deiner Hinfahrt zu sagen, so vertraue es mir.“ Benedix staunte bei diesem Namen noch mehr; der Gedanke an sie, den er mit großer Gewissenhaftigkeit in seiner Seele zu ersticken bemüht gewesen war, wurde auf einmal wieder so heftig angefacht, besonders da vom Abschiedsgruße die Rede war, daß er überlaut anfing zu weinen und zu schluchzen und kein Wort vorzubringen vermochte. Diese herzbrechende Gebärdung jammerte den mitleidigen Mönch also, daß er beschloß, dem Spiel ein Ende zu machen.

„Armer Benedix,“ sprach er, „gib dich zufrieden und sei getrost und unverzagt, du sollst nicht sterben. Ich habe in Erfahrung gebracht, daß du unschuldig bist an dem Raube und deine Hand mit keinem Laster befleckt hast, darum bin ich gekommen, dich aus dem Kerker zu entführen und der Bande zu entledigen.“ Er zog einen Schlüssel aus der Tasche. „Laß sehen,“ fuhr er fort, „ob er schließe.“ Der Versuch gelang, der Entfesselte stand da, frank und frei, die Ketten fielen ab von Händen und Füßen. Hierauf wechselte der gutmütige Ordensbruder mit ihm die Kleider und sprach: „Gehe gemachsam wie ein frommer Mönch durch die Schar der Wächter vor der Tür des Gefängnisses und durch die Straßen, bis du der Stadt Weichbild hinter dir hast; dann schürze dich hurtig und schreite rüstig zu, daß du gelangst ins Gebirge, und raste nicht, bis du in Liebenau vor Klärchens Tür stehst, klopfe leise an, dein Liebchen harret deiner mit ängstlichem Verlangen.“

Der gute Benedix wähnte, das alles sei nur ein Traum, rieb sich die Augen, zwickte sich in die Arme, um zu versuchen, ob er wache oder schlafe, und da er inne ward, daß sich alles so verhalte, fiel er seinem Befreier zu Füßen und umfing seine Knie, wollte eine Danksagung stammeln und lag da in stummer Freude, denn die Worte versagten ihm. Der liebreiche Mönch trieb ihn endlich fort und reichte ihm noch ein Laib Brot und eine Knackwurst zur Zehrung auf den Weg. Mit wankendem Knie schritt Benedix über die Schwelle des traurigen Kerkers und fürchtete immer, erkannt zu werden. Aber sein ehrwürdiges Gewand gab ihm die Gewähr, daß keiner der Wächter in ihm einen Verbrecher vermutete.

Klärchen saß indessen bänglich einsam in ihrem Kämmerlein, horchte auf jedes Rauschen des Windes und spähete nach jedem Fußtritt der Vorübergehenden. Oft dünkte ihr, es rege sich was am Fensterladen, oder es klinge der Pfortenring; sie schreckte auf mit Herzklopfen, sah durch die Luke und es war Täuschung. Schon schüttelten die Hähne in der Nachbarschaft die Flügel und verkündeten durch ihr Krähen den kommenden Tag; das Glöcklein im Kloster läutete zur Frühmette, das ihr wie Totenruf und Grabesklang tönte; der Wächter stieß zum letzten Male ins Horn und weckte die schnarchenden Bäckermägde zu ihrem frühen Tagewerk. Klärchens Lampe fing an, dunkel zu brennen, weil’s ihm an Öl gebrach, ihre Unruhe mehrte sich mit jedem Augenblick. Sie saß auf ihrer Bettlade, weinte bitterlich und seufzte: „Benedix, Benedix! Was für ein banger Tag für dich und mich dämmert jetzt heran!“ Sie lief ans Fenster, ach! blutrot war der Himmel nach Hirschberg hin und schwarze Nebelwolken webten wie Trauerflor und Leichentücher hin und wieder am Horizonte. Ihre Seele bebte vor diesem ahnungsvollen Anblick zurück, sie sank in dumpfes Hinbrüten und Totenstille war um sie her.

Da pocht’s dreimal leise an das Fenster, als ob sich etwas rührte. Ein froher Schauder durchlief ihre Glieder, sie sprang auf, tat einen lauten Schrei; denn eine Stimme flüsterte durch die Luke: „Feins Liebchen, bist du wach?“ — Husch war sie an der Tür. — „Ach, Benedix, bist du’s oder ist’s dein Geist?“ Wie sie aber den Bruder Graurock erblickte, fiel sie zurück und sank vor Entsetzen hin. Da umschlang sie sanft sein treuer Arm und der Kuß der Liebe brachte sie bald wieder ins Leben.

Nachdem Erstaunen und die Ergießungen der ersten freudigen Herzensgefühle vorüber waren, erzählte ihr Benedix seine wunderbare Errettung aus dem peinlichen Kerker; doch die Zunge klebte ihm am Gaumen vor großem Durst und Ermattung. Klärchen ging, ihm einen Trunk frisches Wasser zu holen, und nachdem er sich damit gelabt hatte, fühlte er Hunger; aber sie hatte nichts zum Imbiß als Salz und Brot. Da gedachte Benedix an seine Knackwurst, zog sie aus der Tasche und wunderte sich, daß sie schwerer als ein Hufeisen, brach sie voneinander, sieh! da fielen eitel Goldstücke heraus, worüber Klärchen nicht wenig erschrak; sie meinte, das Gold sei ein Rest von dem Raube des Händlers und Benedix sei nicht so unschuldig, als ihn der ehrsame Mann gemacht habe, der ihr im Gebirge erschienen war. Allein der truglose Geselle beteuerte höchlich, daß der fromme Ordensmann ihm diesen verborgenen Schatz vermutlich als eine Hochzeitssteuer verliehen habe, und sie glaubte seinen Worten. Darauf segneten beide mit dankbarem Herzen den edelmütigen Wohltäter, verließen ihre Vaterstadt und zogen gen Prag, wo Meister Benedix mit Klärchen, seinem Weibe, lange Jahre als ein ehrsamer Bürger und wohlhabender Mann in friedlicher Ehe lebte.

In der frühen Morgenstunde, da Klärchen mit schauervoller Freude den Finger ihres Benedix am Fenster vermerkte, klopfte auch in Hirschberg ein Finger an die Tür des Gefängnisses. Das war der Bruder Graurock, der, von frommem Eifer aufgeweckt, den Anbruch des Tages kaum erwarten konnte, die Bekehrung des armen Sünders zu vollenden. Rübezahl hatte die Rolle des Verurteilten übernommen und war entschlossen, sie auszuspielen. Er schien wohlgefaßt zum Sterben zu sein und der fromme Mönch freute sich darüber und erkannte diese Standhaftigkeit alsbald für die gesegnete Frucht seiner Zusprache an; darum ermangelte er nicht, ihn in dieser Gemütsverfassung zu erhalten, und beschloß seine Rede mit den Trostesworten: „So viel Menschen du bei deiner Ausführung erblicken wirst, die dich an die Gerichtsstätte geleiten, sieh, so viel Engel stehen schon bereit, deine Seele einzuführen ins schöne Paradies.“ Darauf ließ er ihn der Fesseln entledigen, hörte seine Beichte und sprach ihn los von seinen Sünden.

Die Zeit war darüber verlaufen, das peinliche Gericht hielt dafür, daß es nun an der Stunde sei, den Leib zu töten. Auf dem Platze der Hinrichtung verlas der Richter noch einmal das Urteil und brach zum Zeichen dessen, daß er dem Tode verfallen sei, einen Stab über dem Kopfe des Verurteilten entzwei. Danach führten ihn die Henker auf die Leiter am Galgen und legten ihm die Schlinge des Strickes um den Hals. Als er nun von der Leiter gestoßen wurde, zappelte er am Strange nach Herzenslust und trieb das Spiel so arg, daß dem Henker dabei übel zumute ward; denn es erhob sich ein plötzliches Getöse im Volk und einige schrien, man solle den Henker steinigen, weil er den armen Sünder über die Gebühr martere. Um also Unglück zu verhüten, streckte sich Rübezahl lang aus und stellte sich an, als sei er tot. Da sich aber das Volk verlaufen hatte und nachher einige Leute in der Gegend des Hochgerichts hin- und herwandelten, aus Vorwitz hinzutraten und den Leichnam beschauen wollten, fing Rübezahl am Galgen sein Spiel von neuem an und erschreckte die Beschauer durch fürchterliche Grimassen. Daher lief gegen Abendzeit in der Stadt das Gerücht um, der Gehangene könne nicht ersterben und tanze noch immer am Hochgericht. Das bewog die Stadtbehörde, des Morgens in aller Frühe durch einige Abgeordnete die Sache untersuchen zu lassen. Wie sie nun dahin kamen, fanden sie nichts als einen Strohmann am Galgen, mit alten Lumpen bedeckt, wie man pflegt in Erbsen zu stellen, die genäschigen Spatzen damit zu verscheuchen. Darüber wunderten sich die Herren von Hirschberg gar sehr, ließen in aller Stille den Strohmann abnehmen und breiteten aus, der große Wind habe zur Nachtzeit den leichten Schneider vom Galgen über die Grenze geweht.