Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Hinzelmeier
(Theodor Storm, 1851)

Der Stein der Weisen

<p>Aber er wanderte hin und her&comma; kreuz und quer&comma; sein Haar ergraute&comma; seine Beine wurden wankend&semi; am Stabe ging er von Land zu Land und immer fand er doch den Stein der Weisen nicht&period; So waren noch einmal neun Jahre vergangen&comma; als er eines Abends&comma; wie er es jeden Abend zu tun pflegte&comma; in ein Wirtshaus trat&period; Krahirius putzte wie gewoehnlich seine Brille und huepfte dann in die Kueche um sich sein Abendbrot zu betteln&period; Hinzelmeier trat in die Stube und lehnte seinen Stab in die Kachelofenecke&semi; dann setzte er sich still und muede in den grossen Lehnstuhl&period; Der Wirt stellte einen Krug Wein vor ihn hin und sagte freundlich&colon; "Ihr scheint muede&comma; lieber Herr&semi; trinket nur&comma; das wird Euch staerken&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ja"&comma; sagte Hinzelmeier und fasste den Krug mit beiden Haenden&comma; "sehr muede&semi; ich bin lange gewandert&comma; sehr lange&period;" Dann schloss er die Augen und tat einen durstigen Zug aus dem Weinkruge&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Wenn Ihr der Herr des Vogels seid&comma; so glaube ich fast&comma; es ist nach Euch gefragt worden"&comma; sagte der Wirt&period; "Wie heisst Ihr denn&comma; lieber Herr&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ich heisse Hinzelmeier&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Nun"&comma; sagte der Wirt&comma; "Euren Enkel&comma; den Gemahl der schoenen Frau Abel&comma; den kenne ich recht wohl&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Das ist mein Vater"&comma; sagte Hinzelmeier&comma; "und die schoene Frau Abel ist meine Mutter&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Der Wirt zuckte mit den Achseln und indem er sich nach seiner Schenke wandte&comma; sagte er bei sich selber&colon; "Der arme alte Mann ist kindisch geworden&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Hinzelmeier liess den Kopf auf seine Brust sinken und erkundigte sich&comma; wer nach ihm gefragt habe&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Es war nur eine arme Dirne"&comma; sagte der Wirt&comma; "sie trug ein weisses Kleid und ging mit nackten Fuessen&period;" Da laechelte Hinzelmeier und sagte leise&colon; "Das war die Rosenjungfrau&comma; nun wird es bald besser werden&period; Wohin ist sie gegangen&quest;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Es schien ein Blumenmaedchen zu sein"&comma; sagte der Wirt&comma; "wenn Ihr sie sprechen wollt&comma; Ihr werdet sie leicht an den Strassenecken finden koennen&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>"Ich muss ein Weilchen schlafen"&comma; sagte Hinzelmeier&comma; "gebt mir eine Kammer und wenn der Hahn kraeht&comma; dann klopft an meine Tuer&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Nun gab der Wirt ihm eine Kammer und Hinzelmeier legte sich zur Ruhe&period; Er traeumte von seiner schoenen Mutter&semi; er laechelte&comma; sie sprach im Traum zu ihm&period; Da flog Krahirius durch das offene Fenster und setzte sich zu seinen Haeupten auf das Bett&period; Er straeubte seine schwarzen Federn und hackte mit seiner Klaue sich die Brille von dem Schnabel&period; Dann stand er unbeweglich auf einem Bein und sah auf den Schlafenden hinunter&period; Der traeumte weiter und seine schoene Mutter sprach zu ihm&colon; "Vergiss die Rose nicht&excl;" Der Schlafende nickte leise mit dem Kopfe&semi; der Rabe aber oeffnete die Klaue und liess die Brille auf seine Nase fallen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Da verwandelten sich seine Traeume&semi; seine eingefallenen Wangen begannen zu zucken&comma; er streckte sich lang aus und stoehnte&period;—So kam die Nacht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als im Zwielicht der Hahn gekraeht hatte&comma; klopfte der Wirt an die Kammertuer&semi; Krahirius reckte die Fluegel und zupfte seinen Federbalg zurecht&semi; dann schrie er "krahira&excl; krahira&excl;" Hinzelmeier richtete sich muehsam auf und starrte um sich her&semi; da sah er durch die Brille&comma; die noch auf seiner Nase sass&comma; zur Kammertuer hinaus&comma; ueber ein weites&comma; oedes Feld&semi; dann weiterhin auf einen maehlich ansteigenden Huegel&semi; auf diesem&comma; unter dem Rumpfe einer alten Weide&comma; lag ein grauer&comma; flacher Stein&semi; die Gegend war einsam&comma; kein Mensch zu sehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Das ist der Stein der Weisen&excl;" sagte Hinzelmeier zu sich selber&period;&nbsp&semi;"Endlich&comma; endlich wird er dennoch mein werden&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>Hastig warf er seine Kleider ueber&comma; nahm Stab und Ranzen und schritt zur Tuer hinaus&period; Krahirius flog zu seinen Haeupten&comma; knappte mit dem Schnabel und schlug beim Fliegen Purzelbaeume in der Luft&period; So wanderten sie viele Stunden&period; Endlich schienen sie ihrem Ziele naeher zu kommen&semi; aber Hinzelmeier war ermuedet&comma; seine Brust keuchte&comma; der Schweiss troff von seinen weissen Haaren&semi; er stand still und stuetzte sich auf seinen Stab&period; Da kam aus der Ferne&comma; hinter ihm&comma; ganz aus der Ferne&comma; fast wie ein Traum&comma; ein Gesang zu ihm herueber&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Rinke&comma; ranke&comma; Rosenschein&comma;<br&sol;>Lass ihn nicht allein&comma; allein&excl;<br&sol;>Halt ihn fest und hol ihn ein&comma;<br&sol;>Rinke&comma; ranke&comma; Rosenschein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das spann sich wie ein goldenes Netz um ihn her&semi; er liess den Kopf auf seine Brust sinken&semi; aber Krahirius schrie&colon; "krahira&excl; krahira&excl;" da war das Lied verschollen und als Hinzelmeier die Augen wieder aufschlug&comma; stand er am Fusse des Huegels&period;<&sol;p>&NewLine;<p>"Nur eine kleine Weile noch"&comma; sagte er zu sich selber und liess noch einmal seine mueden Fuesse wandern&period; Als er aber den grossen&comma; breiten Stein allmaehlich in der Naehe sah&comma; da dachte er&colon; "Den wirst du nimmer heben&period;"<&sol;p>&NewLine;<p>Endlich hatten sie die Hoehe erreicht&comma; Krahirius flog voran mit ausgebreiteten Schwingen und liess sich auf den Baumstamm nieder&semi; Hinzelmeier wankte zitternd hinterher&period; Als er aber den Baum erreicht hatte&comma; brach er zusammen&comma; der Wanderstab glatt aus seiner Hand&comma; sein Kopf sank auf den Stein zurueck&semi; doch in demselben Augenblick fiel auch die Brille von seiner Nase&period; Da sah er tief am Horizonte&comma; am Rande der oeden Ebene&comma; die er durchwandert hatte&comma; die weisse Gestalt der Rosenjungfrau&semi; und noch einmal hoerte er aus weiter Ferne&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Rinke—ranke—Rosenschein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Er wollte aufstehen&comma; aber er vermochte es nicht mehr&semi; er streckte seine Arme aus&comma; aber ein Froesteln lief ueber seine Glieder&semi; der Himmel wurde grau und grauer&comma; der Schnee fing an zu fallen&comma; Flocke um Flocke&comma; es schimmerte und flirrte und zog weisse Schleier zwischen ihm und der fernen&comma; nebelhaften Gestalt&period; Er liess die Arme fallen&comma; seine Augen sanken ein&comma; sein Atem hoerte auf&period; Auf dem Weidenstumpf zu seinen Haeupten steckte der Rabe den Schnabel zum Schlaf in seine Fluegeldecken&period;—Der Schnee fiel ueber sie beide&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Nacht kam und nach der Nacht kam der Morgen und mit dem Morgen kam die Sonne&comma; die schmolz den Schnee hinweg und mit der Sonne kam die Rosenjungfrau&semi; die loeste ihre Flechten und kniete neben dem Toten&comma; dass die blonden Haare sein bleiches Antlitz ganz bedeckten und weinte&comma; bis der Tag verging&period; Als aber die Sonne erlosch&comma; gurrte der Rabe im Schlaf und rauschte mit den Federn&period; Da richtete die zarte Gestalt der Jungfrau sich vom Boden auf&comma; mit ihrer weissen Hand ergriff sie den Raben bei den Fluegeln und schleuderte ihn in die Luft&comma; dass er kraechzend in den grauen Himmel hineinflog&comma; sie pflanzte die rote Rose an den Stein und sang dazu&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">"Nun streck die Wuerzlein tief hinab&comma;<br&sol;>Nun wirf die Blaettlein uebers Grab&comma;<br&sol;>Und singt der Wind im Abendschein&comma;<br&sol;>Dann sprich auch du ein Wort darein&comma;<br&sol;>Mit rinke&comma; ranke&comma; Rosenschein&excl;"<&sol;p>&NewLine;<p>Dann zerriss sie ihr weisses Kleid vom Saum bis an den Guertel und ging zu ewiger Gefangenschaft in den Rosengarten zurueck&period;<&sol;p>

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