Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Hinzelmeier
(Theodor Storm, 1851)

Der Zipfel

<p>Nun gingen manche Jahre hin&comma; ohne dass Hinzelmeier eine Wiederholung des Wunders erlebt haette&semi; er dachte daher auch ueberall nicht mehr daran&comma; obgleich seine Eltern jung und schoen blieben&comma; wie sie es immer gewesen waren und oftmals auch im Winter der wunderbare Rosenduft sie umgab&period;<&sol;p>&NewLine;<p>In dem einsamen Korridor des oberen Stockwerks war Hinzelmeier jetzt nur selten noch zu finden&semi; denn die Katze war vor Alter gestorben und so war seine Schule aus Mangel an Schuelern von selber eingegangen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war ihm nun schon fast so&comma; als muesste um einige Jahre der Bart zu wachsen anfangen&semi; da ging er eines Nachmittags wieder in den alten Korridor hinauf&comma; um die weissen Waende zu besichtigen&comma; denn er wollte auf den Abend das beruehmte Schattenspiel "Nebukadnezar und sein Nussknacker" zur Auffuehrung bringen&period; In dieser Absicht war er an das Ende des Ganges gekommen und betrachtete die weisse Querwand von oben bis unten&comma; als er zu seiner Verwunderung den Zipfel eines Schnupftuches daraus hervorhaengen sah&period; Er bueckte sich&comma; um es genauer zu betrachten&semi; in der Ecke stand&colon; 'A&period;H&period;'&semi; das konnte nichts anderes heissen als&colon; 'Abel Hinzelmeier'&semi; es war das Schnupftuch seiner Mutter&period; Nun fing's in seinem Kopfe an zu schnurren und die Gedanken arbeiteten rueckwaerts&comma; weiter und weiter&comma; bis sie bei dem ersten Kapitel dieser Geschichte ploetzlich Halt machten&period; Hierauf suchte er das Schnupftuch aus der Wand herauszuziehen&comma; was ihm auch nach einem etwas schmerzhaften Experimente gluecklich gelang&semi; dann schlug er&comma; wie einst die schoene Frau Abel&comma; dreimal mit dem Tuche gegen die Wand&semi; und "eins—zwei—drei—&excl;" tat sie sich lautlos von einander&comma; Hinzelmeier schluepfte hindurch und stand—wohin er am wenigsten zu gelangen dachte—auf dem Hausboden&period; Aber es war nicht daran zu zweifeln&semi; dort stand der Urgrossmutterschrank mit den wackelkoepfigen Pagoden&comma; daneben seine eigne Wiege und weiterhin das Schaukelpferd&comma; lauter ausgedientes Geraet&semi; unter dem Balken laengs an eisernen Haken hingen wie immer des Vaters lange Maentel und Reisekragen und drehten sich langsam um sich selbst&comma; wenn der Zug durch die offenen Bodenluken hereinstrich&period; "Sonderbar&excl;" sagte Hinzelmeier&comma; "warum ging die Mutter denn doch immer durch die Wand&quest;" Da er indessen ausser den bekannten Gegenstaenden nichts bemerken konnte&comma; so wollte er durch die Bodentuer wieder ins Haus hinabgehen&period; Allein die Tuer war nicht da&period; Er stutzte einen Augenblick und meinte anfaenglich&comma; sich nur geirrt zu haben&comma; weil er von einer anderen Seite&comma; als gewoehnlich&comma; hinaufgelangt war&period; Er wandte sich daher und ging zwischen die Maentel durch nach dem alten Schranke&comma; um sich von hier aus zurechtzufinden&semi; und richtig&excl; dort gegenueber war die Tuer&semi; er begriff nicht&comma; wie er sie hatte uebersehen koennen&period; Als er aber darauf zuging&comma; erschien ihm ploetzlich wieder alles so fremd&comma; dass er zu zweifeln begann&comma; ob er auch vor der rechten Tuer stehe&period; Allein so viel er wusste&comma; gab es hier keine andere&period; Was ihn am meisten verwirrte&comma; war&comma; dass die eiserne Klinke fehlte und auch der Schluessel abgezogen war&comma; der sonst immer aufzustecken pflegte&period; Er legte daher sein Auge an das Schluesselloch&comma; ob er vielleicht Jemanden auf der Treppe oder dem Vorplatz gewahren koenne&comma; der ihn herabliesse&period; Zu seinem Erstaunen sah er aber nicht auf die dunkle Treppe&comma; sondern in ein helles&comma; geraeumiges Zimmer&comma; von dessen Dasein er bisher keine Ahnung gehabt hatte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>In der Mitte desselben gewahrte er einen pyramidenfoermigen Schrein&comma; der von zwei goldschimmernden Tueren verschlossen und mit wunderlicher Schnitzarbeit verziert war&period; Hinzelmeier wusste nicht recht&comma; ob das enge Schluesselloch seinen Blick verwirrte&comma; aber es war ihm fast&comma; als wenn die Gestalten der Schlangen und Eidechsen in der braunen Laubgirlande&comma; welche sich an den Kanten hinunterzog&comma; auf und ab raschelten&comma; ja mitunter sogar die geschmeidigen Koepfe auf den Goldgrund der Tuer hinueberreckten&period; Dies alles beschaeftigte den Knaben so&comma; dass er nun erst die schoene Frau Abel und ihren Eheherrn bemerkte&comma; welche mit geneigtem Haupte vor dem Schreine niedergekniet waren&period; Unwillkuerlich hielt er den Atem an&comma; um nicht bemerkt zu werden&semi; und nun hoerte er die Stimmen seiner Eltern in leisem Gesange&colon;<&sol;p>&NewLine;<p style&equals;"margin-left&colon; 30px&semi;">Rinke&comma; ranke&comma; Rosenschein&comma;<br&sol;>Tu dich auf&comma; du goldner Schrein&excl;<br&sol;>Tu dich auf und schliess uns ein&comma;<br&sol;>Rinke&comma; ranke&comma; Rosenschein&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Waehrend des Gesanges erstarrte in dem Laubwerk das Leben des Gewuermes&semi; die goldenen Tueren gingen langsam auf und zeigten in dem Innern des Schrankes einen kristallenen Becher&comma; in welchem eine halberschlossene Rose auf schlankem Schafte stand&period; Allmaehlich oeffnete sich der Kelch&semi; weiter und weiter&comma; bis eins der schimmernden Blaetter sich abloeste und zwischen die Knieenden hinabfiel&period; Ehe es aber den Boden erreichte&comma; zerstob es klingend in der Luft und fuellte das Gemach mit rosenrotem Nebel&period; Ein starker Rosenduft quoll durch das Schluesselloch&semi; der Knabe presste sein Auge an die Oeffnung&comma; aber er gewahrte nichts&comma; als dann und wann ein Leuchten&comma; das in der roten Daemmerung aufbrach und wieder verschwand&period; Nach einer Weile hoerte er Schritte an der Tuer&semi; er wollte aufspringen&comma; aber ein heftiger Schmerz an der Stirn raubte ihm die Besinnung&period;<&sol;p>

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