Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.
Hinzelmeier
(Theodor Storm, 1851)
Die Rosenjungfrau
<p>Aber er wanderte hin und her, kreuz und quer, er wurde mueder und mueder, sein Ruecken wurde gekruemmt; aber immer fand er doch den Stein der Weisen nicht. So waren neun Jahre dahingegangen, als er eines Abends in ein Wirtshaus einkehrte, welches am Eingange einer grossen Stadt gelegen war. Krahirius nahm sich mit der Klaue die Brille herunter und putzte sie an seinen Fluegeln; dann setzte er sie wieder auf und huepfte in die Kueche. Als die Hausleute ihn sahen, lachten sie ueber seine Brille, nannten ihn? Herr Professor? und warfen ihm die fettsten Bissen vor.</p>
<p>"Wenn Ihr der Herr des Vogels seid", sagte der Wirt zu Hinzelmeier, "so ist nach Euch gefragt worden."</p>
<p>"Freilich bin ich das—" sagte Hinzelmeier.</p>
<p>"Wie heisst Ihr denn?"</p>
<p>"Ich heisse Hinzelmeier."</p>
<p>"Ei, ei", sagte der Wirt, "Ihren Herrn Sohn, den Gemahl der schoenen Frau ;Abel, den kenne ich recht wohl."</p>
<p>"Das ist mein Vater", sagte Hinzelmeier verdriesslich, "und die schoene Frau ;Abel ist meine Mutter."</p>
<p>Da lachten die Leute und sagten, der Herr sei ausserordentlich spasshaft. ;Hinzelmeier aber sah vor Zorn in einen blanken Kessel.</p>
<p>Da starrte ihm ein graemliches Angesicht entgegen, voll Runzeln und Hahnepfoetchen und er gewahrte nun wohl, dass er abscheulich alt geworden sei.</p>
<p>"Ja. ja!" rief er und schuettelte sich, als gelte es aus einem schweren Traum zu kommen; "wo war es doch? Ich war ja dicht davor." Dann erkundigte er sich bei dem Wirte, wer nach ihm gefragt habe.</p>
<p>"Es war nur eine arme Dirne", sagte der Wirt, "sie trug ein weisses Kleid und ging mit nackten Fuessen."</p>
<p>"Das war die Rosenjungfrau!" rief Hinzelmeier.</p>
<p>"Ja", antwortete der Wirt, "ein Straeussermaedel mag es wohl sein, sie hatte aber nur noch eine Rose in ihrem Koerbchen."</p>
<p>"Wohin ist sie gegangen?" rief Hinzelmeier.</p>
<p>"Wenn Ihr sie sprechen muesst", sagte der Wirt, "so werdet Ihr sie schon in der Stadt an einer Strassenecke finden koennen."</p>
<p>Als Hinzelmeier das gehoert hatte, schritt er eilig zum Hause hinaus und in die Stadt hinein; Krahirius, die Brille auf dem Schnabel, flog kraechzend hinterher. Es ging aus einer Strasse in die andere und an allen Ecksteinen standen Blumenmaedchen; aber sie trugen plumpe Schnallenschuhe und boten schreiend ihre Ware feil. Das waren keine Rosenjungfrauen.—Endlich, als schon die Sonne hinter den Haeusern hinab war, gelangte Hinzelmeier an ein altes Haus, aus dessen offener Tuer ein zartes Leuchten auf die daemmerige Gasse herausdrang. Krahirius warf den Kopf zurueck und schlug aengstlich mit den Fluegeln; Hinzelmeier aber achtete dessen nicht und trat ueber die Schwelle in einen weiten Hausflur, der ganz von rotem Schimmer erfuellt war. Tief im Hintergrunde, auf der untersten Stufe einer Wendeltreppe, sah er ein blasses Maedchen sitzen; in einem Koerbchen, das sie auf ihrem Schosse hielt, lag eine rote Rose, aus deren Kelch das zarte Licht hervorbrach. Das Maedchen schien ermuedet; denn sie setzte eben die Lippen von einem irdenen Wasserkruge, der ihr von einem kleinen Knaben mit beiden Haenden vorgehalten wurde. Ein grosser Hund, der neben ihr an der Treppe lag und wie das Kind, hier zu Hause zu gehoeren schien, legte den Kopf an ihr weisses Gewand und leckte ihre nackten Fuesse.—"Das ist sie!" sagte Hinzelmeier; und seine Schritte wurden unsicher vor Hoffen und Erwarten. Und als die Jungfrau nun ihr Antlitz gegen ihn erhob, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er erkannte mit einem Mal das Maedchen aus der Bauernkueche; nur trug sie heute nicht das bunte Nfieder und das Rot auf ihren Wangen war nur der Abglanz von dem Rosenlichte.</p>
<p>"O du!" rief Hinzelmeier, "nun wird noch alles, alles gut!"</p>
<p>Sie streckte die Arme nach ihm aus; sie wollte laecheln, aber die Traenen sprangen ihr in die Augen. "Wo ist Er denn so lange in der Welt umhergelaufen?" sagte sie.</p>
<p>Und als er nun in ihre Augen sah, da erschrak er vor lauter Freude; denn dort stand sein eigenes Bild, aber kein Bild, wie es ihn kurz vorher aus dem kupfernen Kessel angeglotzt hatte; nein, ein Gesicht, so jung und frisch und lustig, dass er laut aufjauchzen musste; er haette es um alle Welt nicht lassen koennen.-Da quoll von der Strasse her ein Menschenstrom ins Haus, schreiend und mit den Haenden fechtend. "Hier steht der Herr des Vogels!" rief ein untersetztes Maennlein; dann drangen alle auf Hinzelmeier ein.</p>
<p>Dieser fasste die Hand des Maedchens und fragte: "Was ist es mit dem Raben?"</p>
<p>"Was es ist?" sagte der Dicke, "dem Herrn Buergermeister hat er die Peruecke ;gestohlen!"—"Ja, ja!" riefen Alle, "und nun sitzt es draussen auf der ;Dachrinne, das Ungetuem und hat die Peruecke in den Klauen und glotzt ihre ;Wohlweisheit durch seine gruenen Brillenglaeser an!"</p>
<p>Hinzelmeier wollte reden, aber sie nahmen ihn in ihre Mitte und schoben ihn gegen die Tuer. Mit Schrecken fuehlte er die Hand der Rosenjungfrau aus der seinen gleiten. So kam er auf die Strasse.</p>
<p>Droben auf der Dachrinne des Hauses sass noch immer der Rabe und sah mit seinen schwarzen Augen lauernd auf die aus dem Hause Kommenden hinab. Ploetzlich oeffnete er die Klaue; und waehrend die Buerger mit Stoecken und Schirmen nach der Peruecke ihres Buergermeisters in der Luft umherlangten, hoerte Hinzelmeier es "krahira, krahira!" ueber seinem Haupte schwirren und in demselben Augenblicke sass auch die gruene Brille schon auf seiner Nase.</p>
<p>Da war auf einmal die Stadt vor seinen Augen verschwunden; aber durch die Brillenglaeser sah er zu seinen Fuessen ein gruenes Tal mit Meierhoefen und Doerfern. Sonnenbeschienene Wiesen zogen sich rings umher, auf welchen barfuessige Dirnen mit blanken Milcheimer durch das Gras schritten, waehrend in weiterer Entfernung von den Doerfern junge Kerle die Sense schwangen. Was aber Hinzelmeiers Augen fesselte, war die Gestalt eines Menschen in rot und weisser Bluse, mit einer spitzen Kappe auf dem Kopfe, welcher inmitten einer Wiese mit auf den Knien gestutzten Armen in nachdenklicher Stellung auf einem Steine zu sitzen schien.</p>