Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Tante Toni und ihre Bande
(Alberta von Brochow)

2. Kapitel
Es wird Krocket gespielt, und Tante Toni macht dabei Charakterstudien

Am folgenden Tag war die ganze Kinderschar wieder bei Wulffs versammelt. Vater Wulff stand vor dem Barometer und runzelte die Stirne.

„Es tut mir leid, Kinder“, sagte er endlich, „aber ihr werdet euern Spaziergang nicht machen können. Der Barometer ist sehr gefallen, und dort in der Wetterecke sieht es drohend aus. Wir bekommen Regen und Wind, vielleicht sogar Sturm.“

Da gab es enttäuschte, betrübte und ärgerliche Gesichter.

„Wie langweilig! Was fangen wir jetzt an?“

„Nun, wir können wenigstens in den Garten gehen, solange es noch nicht regnet“, schlug Tante Toni vor.

„Weißt du was, Tante Toni? Mache mit uns eine Krocketpartie!“

„Ach ja, Tante Toni, die Mieze hat recht, wir wollen Krocket spielen!“

„Nee – Krocket ist entsetzlich langweilig!“

Tante Toni lachte: „Lieber Otto, das Wort ‚langweilig‘ scheint ein Lieblingsausdruck von dir zu sein! Ich stimme für Krocket. Wer spielt also mit?“

„Ich natürlich“, erklärte Otto mit Bestimmtheit.

„Wie, Otto, du? – Du findest das Spiel doch so langweilig!“

„Immerhin weniger langweilig als gar nicht zu spielen.“

„Nun gut also. Und wer spielt noch mit?“

„Ich – ich – ich!“ schrien alle Kinder durcheinander.

„Ja, wir können aber nicht alle spielen, wir sind etwas zu zahlreich. Ich will gerne zuschauen.“

„Nein, Tante Toni, das gibt's nicht. Du mußt vor allen mitspielen. Wir können ja das Los ziehen, um zu sehen, wer mitspielt.“

„Ach nein; da gibt's doch immer Ärgerliche und Unzufriedene“, behauptete Mariechen Helmer. „Spiele du mit den Größeren, Tante Toni; ich nehme die Kleineren mit auf die Wiese und spiele mit ihnen Ball oder Reifen. Komm, Tonichen; kommt, Rudi, Lilly und Anna, wollt ihr mit mir gehen?“

„Ich schau' lieber den Großen zu“, erklärte Rudi.

„Wir können zu sechs spielen, drei gegen drei“, erklärte Philipp Helmer. „Tante Toni, Paul, Kurt, Otto und ich, das sind fünf; da kann der Rudi also mit uns spielen.“

„Nein, der Rudi spielt viel zu schlecht, den will ich nicht!“ rief Otto. „Dann lieber die Lilly.“

„Ach ja, Tante Toni, laß mich mitspielen, ich spiele schon sehr gut!“ bat Lilly, und nach einigem Hinundher kam endlich die Partie zustande, und zwar so, daß Tante Toni mit Kurt und Lilly gegen Paul, Philipp und Otto spielte.

Im Anfang ging alles ganz gut; als aber Paul einen ungeschickten Schlag ausführte, wurde er verdrießlich und ärgerlich. Bald darauf passierte seinen beiden Partnern Otto und Philipp dasselbe Mißgeschick; da geriet er ganz außer sich und machte ihnen die größten Vorwürfe; diese wollten sich das aber nicht gefallen lassen, und Philipp meinte spöttisch:

„Ei, wenn du schimpfen willst, so fang' nur bei dir selber an! Du bist uns mit dem schlechten Beispiel vorangegangen; du hast die erste Dummheit gemacht.“

„Das kann dem besten Spieler einmal passieren.“

„Gewiß; aber um so eher kann es mittelmäßigen Spielern passieren, und zu denen rechnest du Otto und mich ja doch!“

„Aber keine Spur von einer Latern'! Zu den schlechten Spielern rechne ich euch, zu den ganz schlechten! Ihr spielt geradezu miserabel – wie soll man denn eine Partie gewinnen mit solchen Partnern? Da ist ja nicht daran zu denken – das ist überhaupt gar kein Spiel mehr!“

„Das finde ich auch“, versetzte Tante Toni, die dem Streite bisher schweigend zugehört hatte. „Sag' mal, lieber Paul, weshalb spielen wir denn eigentlich Krocket?“

„Nun, um zu gewinnen; das ist doch selbstverständlich!“

„Doch nicht so ganz. Der Hauptzweck ist doch der: wir wollen uns unterhalten und uns am Spiel erfreuen, indem jeder danach trachtet, den andern an Geschicklichkeit zu überbieten, aber in aller Freundschaft; und wenn man eine Dummheit oder eine Ungeschicklichkeit begeht, dann lacht man sich gegenseitig ein wenig aus – wieder in aller Freundschaft. Es kann ja natürlich nur eine Partei gewinnen – wenn aber dann die Verlierenden sich jedesmal gebärden, wie wenn ihnen ein Unglück widerführe oder ein Unrecht geschähe – ja, dann hört eben aller Spaß auf und man kann das kein Spiel mehr nennen. Nun, was meinst du dazu, Paul?“

„Ja, Tante Toni, du hast eigentlich recht. Wenn's einem aber egal ist, ob man gewinnt oder nicht, dann gibt man sich auch keine Mühe, und das Spiel ist gar nicht interessant.“

„So habe ich's aber auch nicht gemeint. Es soll einem gewiß nicht egal sein, und jeder muß sich natürlich die größte Mühe geben, um zu gewinnen. Das Gewinnen soll nur nicht der Haupt- und alleinige Zweck des Spieles sein. – So, ich glaube, ich bin nun an der Reihe, und wirklich, Paul, ich werde mich tüchtig anstrengen, um einen Meisterschlag zu vollführen!“

„Bravo, Tante Toni! Das hast du gut gemacht, du hast Ottos Kugel getroffen – hinaus mit ihr, so weit du kannst!“

„Ich will sie lieber liegen lassen und benützen, um durch die Schelle zu kommen; sie liegt doch hinter ihrem Reifen.“

Als Tante Toni sich umdrehte, sah sie gerade, wie Lilly mit dem Füßchen ihre Kugel ein wenig vorschob, so daß sie für den nächsten Schlag in eine günstigere Lage kam. Sie sagte nichts, sie schaute nur Lilly ernst an. Diese wurde ein bißchen rot und tat, als ob sie bloß ein Steinchen unter ihrer Kugel entfernt hätte.

Nachdem nun Kurt gespielt hatte, kam Philipp an die Reihe; er gab seiner Kugel einen kräftigen Schlag, so daß sie durch ihren Reifen flog und in Lillys Nähe zu liegen kam; als Kurt sich nun anschickte, Lillys Kugel zu treffen, schrie diese ihn an:

„Du, das gibt's nicht! Philipp, du hast gepfuscht; deine Kugel lag vorhin so, daß du gar nicht durch deinen Reifen kommen konntest!“

„Sag' noch einmal, ich hätte gepfuscht, du kleine Kröte!“ ereiferte sich Philipp.

„Du hast gepfuscht – gepfuscht – gepfuscht!“ schrie Lilly.

„Impertinente kleine Person!“ Philipp war rot vor Ärger, und er hätte seine kleine Cousine gewiß etwas unsanft angefaßt, wenn Tante Toni nicht dazwischengetreten wäre.

„Lilly, schau mich mal an, und dann sage mir ehrlich: Hast du gesehen, daß Philipp gepfuscht hat?“

Lilly wurde verlegen. „Nein, gesehen hab' ich es nicht – aber vorhin lag seine Kugel anders, und da ...!“

„O, da kann man sich so leicht täuschen! Sieh, mir kommt es vor, als hätte deine Kugel vorhin auch anders gelegen.“

Lilly senkte die Augen vor dem klaren, durchdringenden Blick der Tante; sie wurde so verlegen, daß Tante Toni Mitleid mit ihr hatte und Philipp einen Wink gab, den der gutmütige Junge auch verstand, worauf er weiterspielte, als ob nichts geschehen wäre, und er behandelte Lillys Kugel so glimpflich, daß dieselbe ganz in der Nähe ihres Reifens liegen blieb.

Das Spiel nahm nun einen ganz friedlichen Verlauf, es wurde sogar lustig, weil Tante Toni nachdem sie wieder einmal einen Meisterschlag versprochen hatte, glänzend am Ziele vorbeischoß, worüber sie selbst in lustiges Lachen ausbrach; die Kinder stimmten von Herzen ein, und von diesem Augenblicke an wurde über jeden ungeschickten Schlag gelacht und nicht mehr gezankt.

So ging alles vortrefflich; selbst Lilly war wieder ganz vergnügt, sie war sogar sehr stolz, denn sie hatte mit einigen geschickten Schlägen ihre Kugel weit voran gebracht. Sie lag eben wieder sehr schön vor ihrem Reifen, als Paul, der Anführer der Gegenpartei, dieselbe traf und mit einem kräftigen Schlag ziemlich weit fortschickte.

Da warf Lilly einfach ihren Hammer hin; sie sagte: „Ich spiel' nicht mehr mit!“ und setzte sich schmollend in einen Winkel. Tante Toni sah ihr ganz überrascht nach, Paul aber sagte ärgerlich:

„Ja, so macht sie's immer. Wie ihr etwas nicht nach dem Kopf geht, dann läuft sie fort und verdirbt einem das ganze Spiel.“

„Soll ich hingehen und sie zu versöhnen suchen?“ schlug der gutmütige Philipp vor.

„O nein“, antwortete Tante Toni, „das wäre ganz verkehrt; dann würde sie es bei der nächsten Gelegenheit gleich wieder so machen. Nein, wir lassen sie ganz ruhig in ihrem Schmollwinkelchen sitzen, und Rudi kann für sie einspringen. Magst du, Rudi?“

„Aber wie gern, Tante Toni!“

„Ach nein, der Rudi spielt gar zu schlecht“, knurrte Otto.

„Aber Otto, das kann dir doch nur angenehm sein, er ist ja dein Gegner!“

„Ach, das ist ja überhaupt gar keine Ehre mehr, gegen solch einen Gegner zu gewinnen!“

„Ich spiel' gar nicht so schlecht, Tante Toni, du wirst es schon sehen“, und Rudis eben noch vor Freude strahlende Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich bin überzeugt, daß du recht gut spielst, mein lieber Rudi“, tröstete ihn Tante Toni und sah sich nach Lillys Hammer um; allein inzwischen war Otto zu seiner Schwester gegangen und hatte leise aber eindringlich auf sie eingesprochen, und gerade als Tante Toni sich nach dem Hammer bücken wollte, sprang Lilly herbei, erfaßte ihn und rief: „Ich spiel' selbst weiter!“

Tante Toni sah unschlüssig von einem Kinde zum andern. Ihr Gerechtigkeitsgefühl sagte ihr, daß Lilly Strafe verdient habe und eigentlich vom Spiel ausgeschlossen bleiben müßte – sie wußte ja auch, daß Lilly nur deshalb wieder mitspielen wollte, weil sie und Otto dem kleinen Rudi das Vergnügen mißgönnten. Anderseits konnte sie es aber nicht übers Herz bringen, gegen die beiden mutterlosen Kinder strenge zu sein. Sie neigte sich deshalb zum enttäuschten Rudi nieder und erklärte ihm: „Lieber Rudi, wir sehen und wissen beide, daß Otto und Lilly nicht schön handeln, aber sie haben eben keine liebe Mutter, die ihnen täglich und stündlich zur Seite steht, sie ermahnt und belehrt – wir wollen daran denken und Geduld mit ihnen haben, nicht? Aber du sollst nicht zu kurz kommen, und ich verspreche dir, die nächste Krocketpartie mache ich mit dir, Mieze und Anna. Bist du zufrieden?“

Rudi nickte unter Tränen lächelnd, und Tante Toni gab ihm noch einen herzlichen Kuß, als Otto ungeduldig rief: „Holla, Tante Toni, aufgepaßt, du bist dran!“ Während Tante Toni spielte, stieß Otto den Rudi an und höhnte: „Hä, du spielst doch nicht mit, siehst du's?“

Rudi war ein guter Junge, jedoch er konnte Spott nicht vertragen. Er wurde sehr rot bei Ottos Worten, aber er dachte noch daran, was Tante Toni ihm eben gesagt hatte, und er hielt an sich. Er streckte seine Hände in die Hosentaschen und drehte Otto den Rücken.

„Ja, geh' nur fort, geh' zu den Kleinen ins Kinderzimmer, da gehörst du auch hin. Hier störst du uns ja nur.“

Rudi stellte sich breitspurig hin und sagte: „Ich bleibe hier und schaue zu.“

„Ich sag' dir aber, daß du fortgehen sollst!“

„Du hast mir nichts zu sagen.“

„Gewiß, denn ich bin älter, größer und stärker als du.“

„Älter, ja; größer nicht viel, aber stärker gar nicht.“

„Was hast du gesagt, du frecher Knirps du? Sag's doch noch einmal, wenn du's wagst!“

„Ich bin stärker wie du.“

„Mit dem Mund vielleicht, aber nicht in Wirklichkeit.“

„Soll ich's beweisen?“

„Das wagst du ja nicht, du Feigling!“

Nun war Rudis Geduld zu Ende. Er stürzte sich auf Otto, und die beiden Knaben begannen zu ringen. Otto war allerdings fast drei Jahre älter als Rudi, aber er war verhältnismäßig klein und zart gebaut, während Rudi groß und kräftig war. Rudi bekam denn auch bald die Oberhand, und ehe es der erschrocken herbeieilenden Tante Toni gelang, die beiden zu trennen, lag Otto auf der Erde. Sofort begann er ein entsetzliches Wehegeschrei, so daß nicht nur Mieze mit den andern Kindern gelaufen kamen, um zu sehen, was geschehen sei, sondern auch die Eltern, die in der Nähe des Hauses in einer Laube gesessen hatten.

Frau Helmer rief, die Hände ringend: „Natürlich wieder mein Rudi! Wenn ich Geschrei höre, dann brauch' ich gar nicht zu fragen, denn ich weiß schon im voraus, daß der Rudi wieder etwas angestellt hat!“

Frau Wulff und Tante Toni hatten sich inzwischen um Otto bemüht, hatten ihn befragt, befühlt und betastet und konnten gar nicht finden, wo er eigentlich verletzt war.

„So sag' uns doch endlich mal, wo es dir fehlt!“ rief Tante Toni aus. „Ich kann mir doch nicht denken, daß du uns ohne Grund so erschreckt hast!“

Otto antwortete nicht sofort – dann aber fuhr er sich mit beiden Händen an den Kopf und jammerte: „Mein Kopf, o mein Kopf!“

Tante Toni und Frau Wulff sahen sich besorgt an; sie führten ihn ins Haus, um ihn aufs Sofa zu legen und ihm Umschläge auf den Kopf zu machen. Im Vorbeigehen warf Tante Toni dem Rudi einen vorwurfsvollen Blick zu. Das Kind wandte sich ab – es hatte eben schon die Vorwürfe seiner Mutter zu hören bekommen –, sein sonst so offenes, liebes Gesicht bekam einen Ausdruck von finsterem Trotz. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er den Spielplatz.

Mariechen aber hatte ihr Brüderchen beobachtet. Sie ging ihm leise nach; sie wußte, sein Trotz würde nicht lange dauern, sondern bald einem großen Schmerz weichen. Schon mehrmals hatte sie Rudi nach einem solchen Auftritt bitterlich weinend in irgendeinem Gebüsch des Gartens versteckt gefunden. Diesmal war er ganz hinten in den Garten gegangen; dort war ein stilles, von dunkeln Tannen und dichtem Gesträuch umstandenes Plätzchen; da hockte er auf einer Bank, die Arme auf die Lehne gestützt und den Kopf darin vergraben.

Mariechen setzte sich neben ihn.

„Komm, Rudi, sag' mir's, wie ist's denn wieder gekommen?“

Zuerst wollte Rudi nicht antworten, endlich stieß er hervor: „Nun, wie halt immer. Erst höhnt er mich und reizt mich, bis ich nicht mehr anders kann, als ihn anpacken, und sowie er fühlt, daß er unterliegen wird, dann fängt er seine Brüllerei an, stellt sich, wie wenn ich ihm Gott weiß was getan hätte – und ich krieg's nachher von allen!“

Es klangen Trotz, Schmerz und Bitterkeit aus seiner Stimme.

Mariechen schlang ihren Arm um Rudi und sagte begütigend: „Komm, Rudi, wir wissen's ja doch, daß Otto der schuldige Teil ist, und ...“

„So? Hast du denn nicht gehört, was Mama eben sagte, und hast du nicht gesehen, wie Tante Toni mich angeschaut hat? Und Tante Toni hatte mir doch gerade gesagt ...“ Hier ging die Stimme des Knaben in Schluchzen über.

„Komm, Rudichen, mein liebes Goldrudichen, weine nicht so. Sag' mir genau, wie alles gekommen ist – ich erzähle es der Tante Toni, und ich werde schon sorgen, daß sie keine falsche Meinung von dir behält.“

„Es wird ihr aber recht leid tun; denn sie hat Otto und Lilly sehr lieb, weil sie keine Mama mehr haben. Für uns ist das aber auch schrecklich; sie sind beide unausstehlich, und wir müssen uns alles von ihnen gefallen lassen; niemand straft sie, und wenn man sich über sie beklagt, dann heißt es nur immer: ‚Habt doch Geduld mit den armen Kindern, denn sie haben keine Mutter mehr.‘“

„Ja, Rudi, das ist freilich alles wahr“, sagte Mariechen; dann schwieg sie nachdenklich still, während ihr Brüderchen fortfuhr:

„Und dazu sind sie auch fast immer bei uns oder hier bei Wulffs – wir können niemals etwas unternehmen, außer sie müssen dabei sein.“

„Ja, Rudi, denke doch aber auch daran, wie traurig es bei ihnen zu Hause ist so ohne Mama und fast ohne Papa; denn du weißt ja, wie angestrengt Onkel Robert arbeiten muß und daß er sich fast nicht um seine Kinder kümmern kann.“

„O, Fräulein Helene sorgt aber doch recht gut für sie!“

„Das ist aber doch nicht dasselbe. Denke nur daran, wie unsere Mutter jeden Abend mit uns betet, wie sie selbst die Kleinen besorgt und ins Bettchen legt, wie sie noch zu jedem von uns ans Bett kommt, um uns das Kreuzzeichen zu machen und den letzten Gutenachtkuß zu geben; denke doch daran, wie du immer und zu jeder Stunde zu ihr gehen, sie um alles bitten und fragen kannst. Versuche doch einmal dir vorzustellen, wie schrecklich es wäre, wenn wir unsere Mama nicht mehr hätten!“

„Nein, nein, Mieze, daran kann und will ich gar nicht denken. Und jetzt – vielleicht weint sie gerade, weil ich vorhin so zornig war!“ Bei diesem Gedanken fingen Rudis Tränen wieder an zu fließen.

„Komm, wir wollen sie schnell aufsuchen!“ Mariechen sprang auf und zog ihr Brüderchen mit sich fort. Sie waren aber kaum ans ihrem versteckten Plätzchen hervorgetreten, da erblickten sie ganz in der Nähe ihre Mutter und Tante Toni. Rudi wollte sich schnell verstecken, aber Mariechen hielt ihn fest und sagte: „Geh' du nur gleich zu Mama – ich nehme inzwischen Tante Toni beiseite und erkläre ihr alles.“

Mariechen erzählte nun Tante Toni, wie vorhin der Streit zwischen Otto und Rudi entstanden war. Tante Toni hörte aufmerksam zu, dann sagte sie:

„Es ist mir schon mehrmals aufgefallen, daß Otto und Lilly nicht nett mit Rudi sind.“

„Nicht wahr, du hast es auch bemerkt?“ rief Mariechen eifrig. „Was mögen sie nur gegen den guten Rudi haben? Otto neckt und ärgert uns ja alle gern, aber doch ganz besonders den Rudi – er weiß, daß der Rudi Spöttereien nicht vertragen kann; er weiß aber auch, daß Rudi ihm nichts tun darf. Du kannst mir glauben, Tante Toni, ich habe schon manchmal gemerkt, wie Rudi an sich gehalten und wie er sich beherrscht hat – aber wenn dann Otto gar nicht aufhört und nur immer ärger kommt, dann bricht er halt los, und man kann's dem kleinen Buben doch nicht so streng anrechnen, wenn er im Zorn einmal ein bißchen fest dreinschlägt; dann gibt's aber jedesmal ein Gebrüll und ein Getue, wie du es vorhin gehört hast, und die ganze Familie gerät in Aufregung, weil Otto doch keine so feste Gesundheit hat. Vor einiger Zeit hat er sich nach solch einer Balgerei sogar ein paar Tage ins Bett gelegt und hat behauptet, es sei ihm entsetzlich übel; als ich ihm aber ein großes Stück Kuchen brachte, da hat er's mit dem besten Appetit verzehrt, und wie dann Onkel Wulff von einem Ausflug in die Lichtenau sprach, da war Herr Otto plötzlich wieder gesund. Und Lilly hält zu Otto – bei sich zu Hause streiten sie auch miteinander, aber gegen uns halten sie stets zusammen. Und wirklich, Tante Toni, wir lassen uns viel von den beiden gefallen, denn sie tun uns ja doch wieder so leid, weil ihre Mutter tot ist.“

Tante Toni seufzte und ging eine Weile schweigend neben Mariechen her. Endlich sagte sie: „Wir wollen unsere Hoffnung auf Ottos erste heilige Kommunion bauen, und wir wollen recht eifrig für ihn beten, liebes Mariechen. Otto und Lilly waren doch so liebe, herzige Kinder, als sie noch klein waren – und sie haben auch einen so vorzüglichen Vater!“

„O ja, Tante Toni! Sie hängen aber auch beide sehr an ihrem Vater, und wenn Onkel Robert dabei ist, dann sind sie einfach musterhaft. Ach, es ist recht schade, daß er immer so viel zu tun hat!“

In diesem Augenblick kam Anna herbeigesprungen: „Tante Toni und Mieze, wo bleibt ihr denn? Schnell kommt Kaffee trinken, sonst kriegt ihr nichts mehr; denn der arme Otto hat von seinem Sturze einen wahren Heißhunger davongetragen. Er hat schon verschiedene Rosenbrötchen, zwei Stücke Kuchen und drei Bretzeln verschlungen!“

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