Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Tante Toni und ihre Bande
(Alberta von Brochow)

3. Kapitel
Was die Kinder werden wollen

Als Tante Toni und Mariechen ins Haus kamen, fanden sie wirklich die ganze Gesellschaft um den Kaffeetisch versammelt. Otto machte noch ein etwas leidendes Gesicht, aber die Besorgnisse seiner Tanten verflogen doch gänzlich, als sie sahen, mit welchem Behagen er in seine Bretzel biß.

„Wenigstens die fünfte!“ flüsterte Anna dem Mariechen zu.

„Ei, da ist ja auch Leo!“ rief Tante Toni erfreut aus, als sie den kleinen, dicken Burschen auf einem hohen Kinderstühlchen am Tisch sitzen sah.

„Ja, ich darf heut' mit den Großen Kaffee trinken, damit du auch eine Freude hast“, erklärte der Kleine mit überzeugtem Tone, und wichtig fügte er hinzu: „Tante, das Minnichen kann schon beinah' ‚Toni‘ sagen; es macht schon: ‚Mieh – Mieh‘!“

„Wirklich? Das ist aber schön und das freut mich; später gehe ich auch mit dir hinauf, und dann muß Minnichen es mir vorsagen.“

Jetzt kam Mariechen mit der großen Kaffeekanne. „Darf ich dir einschenken, Tante?“

„Gewiß, Mariechen! Ich danke dir. Aber wo sind denn die Papas?“

Kurt antwortete: „Papa und Onkel Helmer wollten ein bißchen spazieren gehen; sie werden aber nicht weit gekommen sein, denn es fängt gerade an zu regnen.“

„Und Onkel Robert?“

„O, der Papa hat heute wieder arg viel zu tun“, erklärte Lilly wichtig. „Erst mußte er noch einen großen Artikel für seine Zeitung schreiben, und dann wartete er auch noch auf verschiedene Leute, mit denen er zu sprechen hat.“

„Also nicht einmal den Sonntagnachmittag kann er sich frei machen!“

Frau Wulff flüsterte ihrer Schwester halblaut zu: „Der arme Robert ist wieder arg angegriffen worden. Er wird schließlich doch noch zu Gericht gehen müssen, um Ruhe zu bekommen.“

Otto hatte die Ohren gespitzt und einiges verstanden. Ärgerlich rief er aus: „Ich möchte, Papa jagte die ganze Zeitungsgeschichte zum Kuckuck und er würde etwas anderes als Redakteur!“

„Aber Otto, wie kannst du so etwas sagen! Du weißt doch, daß dein Vater der Anführer und Leiter der Katholiken hier ist. Ich wüßte niemand, der ihn ersetzen könnte, wenn er sich zurückziehen wollte.“

„Er hat aber doch nur Last und Arbeit und noch dazu Ärger mehr wie genug – und es dankt's ihm kein Mensch!“

„Gewiß, Otto, ich weiß viele, die mit großer Liebe und Verehrung an deinem Vater hängen.“

„O Tante Toni, es sind noch viel mehr, die ihn beschimpfen und verleumden!“

„Das passiert jedem, der mit Eifer und Erfolg eine gute Sache vertritt. Ein mutiger Soldat wirft deshalb seine Flinte nicht ins Korn!“

„Na, Tante Toni, ich werde jedenfalls mal nicht Redakteur des ‚Mainboten‘!“

„Ei, Otto, das von dir zu hören, tut mir wirklich leid. Ich hätte gedacht, du würdest einmal mutig in die Fußstapfen deines Vaters treten und es dir zur Ehre anrechnen, so wie er all deine Kraft für die gute Sache einzusetzen. Es fehlt dir also der Mut dazu?“

„Nein, der Mut nicht, aber die Lust!“

„O–h!“ machte Tante Toni gedehnt, und sie sah Otto dabei mit ihren klaren Augen so durchdringend an, daß er verlegen auf seinen Teller blickte, und als Tante Toni nun weiterfragte: „Was möchtest du denn werden?“ da antwortete er ausweichend: „Ich weiß es noch nicht recht – vielleicht Reiteroffizier.“

„Ich geh' einmal zur Marine“, erklärte hierauf Paul mit Bestimmtheit.

„Und ich wahrscheinlich auch“, ließ sich sein Zwillingsbruder Kurt vernehmen, „aber nicht als Offizier, sondern als Arzt oder Naturforscher, damit ich mich mal einer Nordpolexpedition anschließen kann.“

„So, du möchtest wohl ein berühmter Reisender werden, wie z. B. Fridtjof Nansen? Nun, und du, Philipp?“

„O Tante, den brauchst du gar nicht zu fragen!“ riefen die andern Kinder lachend. „Der Philipp, der muß Ingenieur werden; der hockt ja jetzt schon die meiste Zeit in der Fabrik und bosselt an den Maschinen herum.“

„Denke nur, Tante“, erzählte Rudi, „neulich war an der neuen Dampfmaschine etwas nicht in Ordnung; man wollte schon dem Monteur telegraphieren, der sie aufgestellt hat, aber da hat der Philipp herausgefunden, woran es lag, und der Maschinist hat gesagt: ‚Das ist aber mal ein Hauptkerl!‘“ Und Rudis Augen leuchteten vor Freude und Stolz über seinen tüchtigen Bruder.

„Recht so, Philipp, das höre ich gern; da bekommt der Papa an dir später eine gute Hilfe in dem großen Betrieb.“ Und Tante Toni nickte dem Neffen freundlich zu. Dieser war etwas rot geworden, hatte sich aber weiter nicht in seiner Gemütsruhe stören lassen.

„So, nun müssen aber auch die andern heraus mit der Sprache!“ rief Tante Toni lustig. „Also Mariechen, wie steht es mit dir?“

Ehe Mariechen noch antworten konnte, rief Anna lachend: „O, das ist eine Betschwester – die ginge ins Kloster, wenn es dort nur einen Spiegel gäbe!“

„Halt den Schnabel, vorlautes Ding; du bist ja nicht gefragt!“

„Ich danke dir, teurer Bruder Paul, für die liebevolle Zurechtweisung!“

„Zankt euch doch nicht wieder, ihr beiden, und laßt Mariechen endlich zu Wort kommen.“

„O, ich habe nicht viel zu sagen“, meinte Mariechen errötend. „Vorläufig lerne ich recht fleißig, damit ich später mein Examen machen kann. Das weitere wird sich dann schon finden.“

„Bravo, Mieze!“

Aber Anna konnte das Necken nicht lassen; sie machte ein drollig zerknirschtes Gesicht und rief aus: „Mieze, du bist einfach ein Musterkind. Ich fühle mich wirklich so unwürdig, neben dir zu sitzen, daß ich meine, der Erdboden müßte mich verschlingen.“ Und damit verschwand sie unter dem Tisch.

Alle lachten; auch die geneckte Mieze lachte herzlich mit, dann rief sie munter:

„Nun hast du so gut für mich geantwortet; jetzt sprich für dich selbst; also ich frage dich feierlich: Was willst du werden, Anna Wulff?“

„Nun, ich heirate natürlich“, klang es unter dem Tisch herauf.

Wieder entstand allgemeines Gelächter.

„Was gibt's denn da zu lachen?“ Und Annas Kopf tauchte empor.

„Zum Heiraten gehören zwei“, belehrte Kurt mit weiser Miene.

„Das weiß ich doch, daß ich mich nicht selbst heiraten kann. Ich heirate den netten holländischen Jungen, mit dem wir voriges Jahr im Seebad gespielt haben.“

„O, den dicken Jan!“ lachte Kurt. „Du bist nicht dumm, Änne, denn sein Vater ist Millionär. Ob der dich aber will?“

„O, der wird schon wollen!“ versicherte Anna in überzeugtem Ton.

„Ich bin noch nicht gefragt worden“, meldete sich nun Lilly.

„Also, Lilly, leg' los! Ich wette, du wirst eine alte Jungfer!“

Lilly warf ihrem Vetter Paul einen sehr entrüsteten Blick zu und entgegnete: „Fällt mir nicht ein, eine alte Jungfer zu werden – da heirat' ich doch noch eher einen von euch!“

„Ums Himmels willen, doch nicht mich?“ schrie Paul in komischem Entsetzen auf, und er streckte wie abwehrend die Hände aus.

„Nein, dich mag ich gar nicht, du bist mir zu grob – aber vielleicht den Philipp!“

Philipp machte ein äußerst verblüfftes Gesicht bei dieser Erklärung.

„Warum denn gerade mich?“ fragte er in kläglichem Ton.

„Du bist der gutmütigste von allen, und dich werde ich schon bald unter den Pantoffel kriegen“, erklärte Lilly mit einem siegesgewissen Blick auf ihren Vetter, der dasaß mit der Miene eines Opferlammes, welches zur Schlachtbank geführt werden soll.

Die andern schrien vor Lachen. Frau Wulff, welche gerade der Tante Luise Helmer eine neue Tasse Kaffee einschenken wollte, schüttete vor lauter Lachen daneben; Mieze hielt sich die Seiten und bog sich; Anna hatte sich verschluckt, und lachend, hustend und pustend verteidigte sie sich gegen ihre Brüder, die ihr allzu diensteifrig und kräftig ans den Rücken klopften.

„Genug, Kinder, genug!“ rief Tante Toni in den Tumult hinein; aber sie mußte selbst wieder von neuem lachen, und es dauerte noch eine kleine Weile, ehe sie fortfahren konnte: „Wir sind ja noch nicht fertig. Wer ist denn an der Reihe, gefragt zu werden?“

„Der Rudi, der Rudi!“ hieß es, und Otto fügte mit geringschätziger Miene hinzu:

„Den brauchst du gar nicht zu fragen, Tante Toni; der will Kutscher werden!“

„Ach, Otto, das hab' ich doch nur früher gesagt, als ich noch ganz klein war!“ verteidigte sich Rudi.

„Ei, was bist du denn jetzt? Bildest du dir vielleicht ein, du wärest schon groß?“

„Geh', Otto, sei nur still! Als du noch so ein kleiner Bubi warst wie hier das Leomännchen, da wolltest du auch Kutscher werden.“

„Aber Tante Toni!“

„Gewiß; ich war damals ja längere Zeit bei euch; und wie oft hast du deine hölzernen Pferdchen an meinen Stuhl gespannt und mich so in der Welt herumkutschiert!“

„Aber doch nicht wirklich, Tante Toni?“ fragte Leomännchen, der mit sichtlichem Interesse zugehört hatte.

„Nein, natürlich nur im Spiel. Und du, mein Leobübchen, du willst gewiß auch Kutscher werden?“

„O nein – ich werde Kaiser“, erklärte der Kleine mit Bestimmtheit.

„O, Kaiser – nur Kaiser!“ riefen alle erstaunt und belustigt. Tante Toni belehrte lächelnd:

„Kaiser kann man aber nur werden, wenn man ein Prinz ist.“

„Ich heirat' einfach eine Prinzessin, dann werd' ich ein Prinz.“

„O Dummerchen! Eine Prinzessin, die will dich doch nicht“, spottete Anna.

„Dann heirat' ich zur Straf' gar nicht!“ Und Leomännchen wandte sich gekränkt ab.

„Ach, was für eine entsetzliche Strafe!“ schrie Anna lachend. Dann streckte sie wie flehend die Hände nach ihrem Brüderchen aus und rief: „Gnade, Kaiserliche Majestät! Die arme Prinzessin wird sich zu Tode grämen!“

Der Kleine sah Anna mit mißtrauischer Miene an. Er wußte nicht recht, was sie eigentlich meinte, aber er fühlte doch heraus, daß sie sich über ihn lustig machte; deshalb sagte er ärgerlich: „Geh' weg, böse Anna, du willst mich doch nur wieder ärgern!“

„Verstoßen! – ich bin verstoßen von Seiner Kaiserlichen Majestät!“ jammerte Anna in komischer Verzweiflung; dann hielt sie der Mutter ihren Teller hin und flehte mit zitternder Stimme: „Ach, Kaiserin-Mutter, erbarmen Sie sich doch meiner und geben Sie mir zum Trost noch ein Stück Kuchen!“

Die Mutter lächelte nachsichtig: „Da hast du dein Stück Kuchen, kleine Komödiantin!“

„Meinen innigsten, meinen untertänigsten Dank!“ Und dem kleinen Leo den Kuchen hinhaltend, fügte sie hinzu: „Auf dein Wohl, o großer, berühmter Kaiser, werde ich diesen Kuchen verspeisen.“ Dann streckte sie ihrem sie erstaunt anblickenden Brüderchen die Zunge heraus und biß in den Kuchen.

„Aber pfui, Anna, was gibst du dem Kleinen für ein schlechtes Beispiel!“ rügte die Mutter.

Leomännchen aber hatte schon Tränen in den Augen, und er rief entrüstet: „Böse Anna, unartige Anna!“ worauf diese entgegnete: „Süßes Leomännchen, herziges, zuckeriges Leobübchen, großer Kaiser!“

„Ach, so laß mich doch mal endlich in Ruh, du garstiges Ding!“ Und große Tränen rollten über Leos runde Bäckchen.

„Ach, ein weinender Kaiser!“ Und Anna deutete mit dem Finger nach ihm.

„So, Anna, nun ist's genug; du läßt mir jetzt den Kleinen in Ruh!“ befahl die Mutter in strengem Ton. Sich dann an alle andern wendend fügte sie hinzu: „Ich denke, wir sind fertig und gehen nun hinüber ins Wohnzimmer, damit die Mädchen hier den Tisch abräumen können.“

Kaum hatte Tante Toni sich im Wohnzimmer niedergelassen, da krabbelte Leomännchen auch schon auf ihren Schoß; die andern Kinder lagerten sich um sie herum und riefen: „Bitte, Tante Toni, erzähle uns etwas!“ Und Tante Toni erzählte den aufmerksam horchenden Kindern lustige und ernste Geschichten, bis Tante Luise Helmer erklärte: „Nun ist's genug; Tante Toni ist sicher müde, und für uns ist es nun Zeit, nach Hause zu gehen. Kommt, Mariechen, Philipp und Rudi, macht euch zurecht und verabschiedet euch!“

Später, als Tante Toni mit den Kindern das Abendgebet verrichtet hatte, wollte sie den kleinen Leo zu Bett bringen. Der blieb aber knien und erklärte: „Ich bin noch nicht fertig, ich habe noch etwas zu beten.“ Dann faltete er wieder seine Händchen, und zum Kreuzbilde emporblickend betete er inbrünstig:

„Ach, lieber Gott, ich bitte dich recht sehr, schick' doch den Storch, daß er die Anna wieder fortholt; wir können sie nicht brauchen, sie ist wirklich zu bös. In Ewigkeit. Amen.“ Dann stand er mit befriedigter Miene auf. Anna jedoch machte ein recht verdutztes Gesicht; sie wußte nicht recht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Sie sagte aber nichts, sondern schlich sich still hinaus.

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