Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Tante Toni und ihre Bande
(Alberta von Brochow)

4. Kapitel
Es wird spazierengegangen; man begegnet der alten Babett; Anna wird Prophetin und Rudi Schwanenritter

Am nächsten schulfreien Nachmittag waren wieder alle Kinder im Wulffschen Garten versammelt; sie waren zum Spaziergang gerüstet und warteten auf Tante Toni. Diese trat eben aus der Haustüre, die kleine Toni an der Hand führend.

„Was, soll die auch mit?“ rief Otto ärgerlich. „Warum denn nicht auch der Leo und das Minnichen und die zwei Jüngsten von Tante Luise? Ich könnte mich ja vor den Kinderwagen spannen!“

Klein Toni sah mit ängstlich flehenden Augen zur Tante empor. Diese sah etwas ärgerlich aus, als sie antwortete: „Ich habe Toni versprochen, sie mitzunehmen, und sie geht mit. Übrigens, mein lieber Otto, ich werde auch in Zukunft zu unsern Spaziergängen einladen, wen ich will, ohne dich erst um Erlaubnis zu fragen.“

Und sich dann an alle Kinder wendend fragte sie: „Wie steht es denn mit den Aufgaben? Seid ihr alle fertig?“

„Ja, ja, wir sind fertig!“ riefen mehrere Stimmen; nur die größeren Knaben und Mariechen hatten noch einiges zu lernen; aber Tante Toni meinte:

„Nun, da wir um 6 Uhr zurück sein werden, habt ihr diesen Abend noch Zeit zum Studieren. Aber Kurt und Philipp, was schleppt ihr denn da in den schweren Rucksäcken?“

„Ei, Tante, unser Vieruhrbrot!“

„Nun, da scheint mir aber Vorrat für ein ganzes Bataillon zu sein!“

„O Tante, wart's mal ab! Du wirst sehen, daß wir nichts davon heimbringen werden.“

„Und dem Philipp kannst du ein bißchen auf die Finger sehen, Tante; der hat immer schon eine halbe Stunde nach dem Mittagessen wieder Hunger, und er könnte ...“

„O, sei ruhig, Rudi“, lachte Mariechen, „ich habe den Rucksack gut und fest zugebunden; er kriegt ihn so leicht nicht auf!“

„Also, nun vorwärts, Kinder!“ mahnte Tante Toni. Als sie aber bemerkte, daß Paul auf die andere Seite der Straße hinüberging, fragte sie verwundert: „Warum gehst du so abseits, Paul? Warum bleibst du nicht bei uns?“

„Ach, Tante, die Leute schauen uns so an und lachen, weil wir so viele sind!“

„Ei, das tut doch nichts! Die Leute sind von früher daran gewöhnt. Sieh, der alte Uhrmacher Müller, wie er dort vor seiner Türe steht und mit dem ganzen Gesicht lacht! Wie oft hat er vor Jahren euern Großvater mit seinen zehn Kindern hier vorbeikommen sehen! Ja, es war immer die größte Freude meines lieben Vaters, wenn keines seiner Kinder beim Spaziergang fehlte.“

„Tante Toni, ich möchte, der Großpapa und du, ihr zöget wieder hierher; das wäre doch schön! Möchtest du es nicht?“

„Ich möchte es wohl ganz gern; denn hier bin ich geboren, hier habe ich meine Kindheit und meine erste Jugend verbracht. Anderseits täte es mir aber auch wieder leid, von Walden wegzugehen; dort ist eure liebe Großmama gestorben; dort wohnen drei meiner Geschwister; dort haben wir ein zweites, liebes Heim gefunden.“

„Gibt es in Walden auch so schöne Spaziergänge wie hier, Tante?“

„Es gibt dort wohl auch schöne Spaziergänge, aber doch nicht so mannigfaltig wie hier; auch muß man erst ein gut Stück über staubige Landstraßen gehen, ehe man an schöne Punkte oder schattige Wege kommt. Hier dagegen stößt dies herrliche kleine Tal gleich an die Stadt, es führt nicht nur zum Fasanenwald, sondern noch zu verschiedenen andern, wirklich schönen Aussichtspunkten. Bleibt doch einmal stehen, Kinder, und schaut euch von hier aus die Klosterruine dort drüben über dem See an. Die Bäume da bilden den Rahmen, im Vordergrund seht ihr die saftig grüne Wiese, dahinter die Ruine auf ihrer kleinen Insel, zwischen Baumgruppen hervorlugend – könnt ihr euch ein schöneres Bild denken? Aber ihr seid so an diesen Anblick gewöhnt, daß ihr achtlos daran vorbeigeht!“

„Doch nicht, Tante Toni, ich habe die Ruine sehr gern, und ich habe sie schon oft von hier aus betrachtet und auch in der Nähe.“

„Natürlich, Tante, das müßtest du dir doch denken können! Es ist ja eine Klosterruine – wie könnte Mieze gleichgültig an einer Klosterruine vorbeigehen!“

„Ach, Anna, mußt du schon wieder anfangen!“

Aber Anna ließ sich nicht irremachen, sondern sie fuhr eifrig fort: „Sie hat schon mal geträumt, das Kloster sei wiederhergestellt worden und sie selbst walte darin als Äbtissin. Da man aber keinen Spiegel mit ins Kloster nehmen darf, hat sie sich eine Zelle ausgesucht, von der aus sie sich im See spiegeln kann.“

„O Änne, da müßte der See aber erst gründlich gereinigt werden; denn aus diesem schlammigen Wasser ...“

„Kann ihr höchstens das Bild des Wassermannes entgegengrinsen, das meinst du doch, Tante Toni, nicht wahr? Ja, und dann reckt er die hageren langen Arme aus dem Wasser hervor – er greift nach der schönen Nonne in den wallenden weißen Gewändern – er faßt sie beim Schleier und zieht sie hinunter in die Tiefe!“

„Gräßlich, Änne! Wo hast du das wieder her?“ Und Mariechen schüttelte sich schaudernd.

„Die Nonne mit den wallenden weißen Gewändern, die stammt wohl aus irgendeinem Gedicht. Aber was ist denn das für ein Orden?“

„Nun“, verteidigte sich Anna, „das ist ein Orden, den Mariechen einmal gründen wird. Sie liebt doch die weißen Kleider viel zu sehr, um sich mal in eine schwarze oder braune Kutte zu stecken. Und in ihrem Orden braucht man sich auch nicht die Haare schneiden zu lassen – es wäre doch schade um ihre schönen blonden Locken! Und ihre Nagelfeile und die Bürstchen nimmt sie auch mit.“

Mariechen war ganz rot und verlegen geworden, aber sie mußte doch lachen. Auch Tante Toni lachte, und Mariechen um die Schulter fassend rief sie scherzend: „Nun weiß ich doch, daß Miezchen auch einen kleinen Fehler hat und ein bißchen eitel ist!“

„Eitel ist sie eigentlich nicht“, nahm Philipp seine Schwester in Schutz. „Denn wirklich eitle Mädchen, die putzen sich doch hauptsächlich, um sich dann auch von den Leuten begaffen zu lassen, und sie freuen sich, wenn man sie schöner findet als die andern. Unserer Mieze dagegen ist es schon genug, wenn sie nur nett und ordentlich aussieht, und sie hat es gar nicht gern, wenn man sie so viel anschaut; und wenn ihre Bekannten schönere Kleider haben als sie, da macht sie sich nichts daraus.“

„O, ich auch nicht!“ rief Anna mit geringschätziger Miene.

„Ja, Änne, dir sieht man's auf den ersten Blick an, daß du nicht eitel bist!“

„Schlampig ist sie einfach, die Änne!“ entrüstete sich Kurt. „Du könntest wenigstens deinen Schuhriemen ordentlich binden und deinen Strumpf heraufziehen – man schämt sich ja wirklich, mit dir zu gehen!“

„Puh, Kurt, tu' nur nicht so! Bis wir heute abend nach Hause kommen, wirst du wohl auch ein Loch in der Hose oder im Strumpf haben!“

„Das kann schon sein, das ist aber doch etwas ganz anderes!“

„Kommt, Kinder, fangt keinen Streit an!“ suchte Tante Toni zu beschwichtigen. „Ich meine, wir wollen durch den Park und über die kleine Brücke gehen; oder geht ihr lieber neben dem Parke her über die große Brücke? – Aber wo ist denn der Rudi? Den seh' ich ja gar nicht mehr!“

„Der ist sicher wieder irgendeinem Getier nachgelaufen“, meinte Mariechen. „Es ist unglaublich, was der alles aufstöbert und heimbringt – neulich kam er mit vier kleinen Fröschen heran.“

„Sogar ein Heimchen hat er einmal gefangen.“

„Rudi! – Rudi! – Wo steckst du?“

Keine Antwort.

„Wir wollen mal alle zu gleicher Zeit rufen“, schlug Paul vor, „da wird er uns wohl hören. Also aufgepaßt – auf drei wird geschrien. Eins, zwei, drei!“

Und „Rudi!“ schallte es vielstimmig, so daß Tante Toni sich erschrocken die Ohren zuhielt.

„Horcht, ich meine, ich hätte ihn antworten hören!“

„Richtig, da kommt er ja gelaufen!“

„Und schmutzig ist er!“

„Aber Rudi, wie siehst du aus! Was hast du denn angefangen?“ Und Tante Toni sah den kleinen Burschen, der mit zerzausten Locken, verkratztem Gesicht und übel zugerichteter Kleidung herankam, vorwurfsvoll an.

„Ach, Tante, ich habe so ein schönes Eichhörnchen gesehen, da wollte ich mir's gerne genauer anschauen; deshalb schlich ich ihm leise nach, und als ich ihm auf einen Baum nachkletterte – ja, da bin ich halt ein bißchen heruntergepurzelt.“

„Ein bißchen viel sogar, wie mir scheint!“

„Ich hab' mir aber nicht viel weh getan“, versicherte er treuherzig.

„Aber deinem Strumpf hast du recht weh getan und deinem Anzug. Da wird sich die liebe Mutter freuen!“

Rudi senkte beschämt den Lockenkopf: „Ach, es war aber doch ein so schönes Eichhörnchen mit einem so langen, dicken Schwanz!“

„Du wirst von nun an schön in unserer Nähe bleiben, mein lieber Bub.“ Und sich an alle Kinder wendend fuhr Tante Toni fort: „Ich möchte euch überhaupt alle bitten, daß ihr immer schön beisammenbleibt, daß sich keines absondert. Auch hernach, wenn ihr oben beim Tempelchen spielen dürft, da müßt ihr doch alle in Rufweite bleiben, so daß ihr mich immer hören könnt, wenn ich euch zurückrufe. Wollt ihr mir das versprechen?“

„Gewiß, Tante Toni!“ versicherten die Kinder, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Nachdem die kleine Eisenbahnbrücke überschritten war, führte Tante Toni ihre Bande den Waldsaum entlang, und sie betrachtete sinnend die liebliche Gegend, die sich zu ihrer Linken ausbreitete. Als der Wald und mit ihm der Weg eine kleine Biegung nach rechts machte, blieb sie stehen und sagte:

„Seht, Kinder, wenn wir früher mit unserem Vater hier spazierengingen, dann blieb er stets an dieser Stelle stehen, um die schöne Aussicht zu genießen. Er kannte jeden Berg da drüben, jeden Wald, jedes Dorf.“

„Unser Papa auch!“ riefen Otto und Lilly gleichzeitig aus, und Otto fuhr fort: „Und der Papa hat uns auch schon von den Ausflügen erzählt, die ihr früher mit dem Großpapa gemacht habt, und er hat uns versprochen, er würde mit uns große Spaziergänge durch den Spessart machen, wenn wir einmal größer sind.“

„Tante Toni, warst du auch schon auf all diesen Bergen?“ fragte nun klein Tonichen.

„Auf vielen, aber doch lange nicht auf allen. Wir waren zuviele, und da die größeren Ausflüge teilweise zu Wagen gemacht wurden, konnte Großpapa uns nicht alle auf einmal mitnehmen, und wenn eine besonders große Tour gemacht werden sollte, dann gingen die Knaben mit und die Mädchen mußten zu Hause bleiben.“

„Natürlich, immer die Mädchen, als ob die nicht gerade so gut laufen könnten wie die Buben!“ schmollte Anna.

„Ja, Anna, du kannst auch gut laufen“, und Tonichen stieß einen kleinen Seufzer aus.

„Anna hätte eigentlich ein Bub sein sollen“, behauptete Philipp.

„Ja, und du ein Mädchen, gelt, Philippinchen?“ neckte Kurt.

Philipp errötete und rief heftig abwehrend aus: „Gott behüte! Nicht um die Welt möcht' ich ein Mädchen sein!“

„Siehst du nun, Philipp! Und du behauptest doch so oft, wir Mädchen hätten es besser als die Buben.“

„Das habt ihr auch; wenigstens bequemer.“

„Ei, Philipp“, mischte sich Tante Toni ein, „findest du zum Beispiel, daß deine Mutter es so bequem hat? Sie ist des Morgens die erste auf und des Abends die letzte, die sich zur Ruhe begibt, und unter Tags habe ich dich schon öfter auf dem Sofa gesehen als deine Mama.“

„Ja, die Mama, das ist auch etwas ganz anderes!“

„Nun, und Tante Maria Wulff? – Und noch recht viele könnte ich dir nennen, welche ...“

„Ja, Tante, das sind auch keine Mädchen mehr; ich spreche ja nur von den Mädchen.“

„Nun gut, so sprechen wir von den Mädchen. Nehmen wir zum Beispiel hier unser Mariechen. Inwiefern hat sie es denn besser als du? Sie braucht allerdings kein Latein, kein Griechisch und keine Mathematik zu lernen, trotzdem hat sie reichlich viel Schularbeiten; sie hat ferner ihre Musikstunden, muß täglich Klavier üben; in ihrer freien Zeit muß sie auch oft auf die kleinen Geschwister achtgeben, und ich habe mir sagen lassen, daß sie einem ihrer Brüder schon manchen Knopf angenäht hat, daß sie sogar im lateinischen Wörterbuch schon ziemlich Bescheid weiß, weil sie eben dem betreffenden Herrn Bruder häufig beim Nachschlagen der Wörter hilft.“

Philipp sah beschämt und verlegen drein; aber bald hob er den Kopf und bekannte offen und ehrlich: „Ja, Tante, du hast recht. Aber unsere Mieze ist auch wirklich eine gute Schwester.“

„Und auch eine gute Cousine!“ rief Anna, und die andern stimmten bei, nur Lilly klagte:

„Sie ist nur zu streng, und sie will immer recht haben!“

Die andern schauten Lilly mißbilligend an, und Kurt erklärte in sehr bestimmtem Tone: „Sie hat auch immer recht; dir gegenüber mal ganz gewiß.“

Lilly wurde ganz rot vor Ärger, und schon wollte sie eine recht unartige Antwort geben, da legte sich Ottos Hand auf ihren Mund: „Schnell, Lilly, weg, da kommt die alte Babett!“ flüsterte er, sie mit sich fortziehend; aber es war schon zu spät, denn eben war ein ganz altes, verhutzeltes Weiblein aus dem Walde gehumpelt und blieb gerade vor Otto und Lilly stehen. Es schaute die beiden Kinder aufmerksam an und nickte dabei mit dem wackeligen Kopf; endlich sagte es mit etwas krächzender Stimme: „Ja, ja, ich weiß schon, ihr seid die Kinder vom Herrn Robert, und die annern da, die sind vom Fräule Luische und vom Marieche.“

„Und ich, Babett, wer bin denn ich?“ fragte Tante Toni lächelnd. „Kennen Sie mich noch?“

Die Alte richtete ihre kleinen, rot unterlaufenen, aber noch scharfen Äuglein auf Tante Toni, da hellte sich auf einmal ihr Gesicht auf und sie rief freudig erstaunt: „Ach, du lieber Gott, des is ja des Toniche, des gute Fräule Toniche von's Mehrings drauße aus dem große Garte! Ach, was hab ich Ihne aber schon so lang nit mehr gesehn, und was sind Se für e groß, schön Mädche geworde!“

„Sogar ein ziemlich altes Mädchen bin ich inzwischen geworden“, lachte Tante Toni. „Nun, wie geht's denn, Babett?“

„Na, Toniche – ich will sage Fräule Toniche –, es geht halt so, wie unser Herrgott will. Recht alt bin ich halt schon, und ma werd e bißche däppelich, wenn mer so über achzig Jahr auf seim Buckel mitschleppe muß. Aber e Hex bin ich nit, – nein, Kinnercher, e böse Hex bin ich nit, und ich möcht niemand etwas zuleid tun.“ Dabei schaute sie wieder auf Otto und Lilly hin, und dann fuhr sie halblaut, wie zu sich selbst sprechend, fort: „Es war aber noch eins dabei“, und sie schaute von einem Kind zum andern, bis ihr Blick auf Anna haften blieb, die sich halb hinter Tante Toni versteckt hatte. Tante Toni und die Helmers-Kinder sahen verwundert drein und konnten sich nicht denken, was die Alte eigentlich wollte. Die aber fuhr, zu den Kindern gewendet, fort:

„Ach, Kinnercher, ich hab' eure Eltern ja gekannt, wie se noch ganz klein warn. Und der Robert, was war des für e wilder, aber e guter Bub! Einmal, da is er in seiner Wildheit so grad an mich angerannt, wie ich mit eme Bündel Reisig daherkomme bin, so daß ich mitsamt meim Reisig in de Chausseegrabe neingeborzelt bin. Erst hat er halt lache müsse über mein unfreiwillige Borzelbaum, dann hat aber doch gleich sei gut Herz die Oberhand kriegt, und er hat mer wieder naufgeholfe, und er hat mer auch all mei Reisig wieder schön zusammelese helfe, und zuletzt, weil er halt gar nix anners bei sich gehabt hat, wollt er mer sogar noch sei Klicker schenke! Hähähä!“ – Die Alte schüttelte sich vor Lachen. „Ja, denkt euch, sei Klicker wollt er mer schenke, und weil ich die doch nit habe wollt, da hat er nachher seiner Mutter kei Ruh gelasse, bis se mer en Rock und e warm Halstuch geschenkt hat. Ja, Kinnercher, so e gut Herz hat er gehabt, der Robert – ja, Gott hab' ihn selig!“

„Aber der Robert lebt ja noch!“ rief Tante Toni.

„Ach ja – richtig! Es is ja sei schön jung Frauche die, wo gestorbe is! Ja, ja, däppelich, e bißche däppelich werd mer halt, wenn mer so alt is. Aber bös bin ich nit, und wenn mer mich e alte Hex schimpft, dann tut mer des halt doch gar zu leid.“

Da trat Anna mit sehr rotem Kopf, aber rasch und entschlossen hinter Tante Toni hervor, und der alten Babett die Hand bietend sagte sie: „Verzeih, Babett, es war recht garstig von mir neulich, und ich verspreche dir's, ich werd's nie mehr tun.“

„Ach Gott, du bist halt e Liebes und e Braves!“ rief Babett gerührt aus. „Ich hab' mir ja schon gleich gedacht, daß ihr's nit so bös gemeint habt; aber es tut einem halt doch weh.“ Sie schaute nun auf Otto und Lilly, die hatten aber die Gesichter abgewendet und blieben stumm. Die alte Babett nickte noch ein paarmal mit dem wackeligen Kopf, endlich sagte sie zu den beiden: „Ich will recht für euer tot Mutterche bete.“ Dann sich zu den andern wendend: „Na also, nix für ungut, Kinnercher, und grüß Ihne Gott, Fräule Toniche. Ich bin aber doch so froh, daß ich Ihne noch emol gesehn hab'. Grüß Gott, du allerbrävstes du!“ Die letzten Worte waren an Anna gerichtet, und nun humpelte die Alte, auf ihren Stock gestützt, ihres Weges weiter.

„Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß die alte Babett noch lebt!“ rief Tante Toni aus, während sie im Weitergehen sich nochmals nach dem alten Weiblein umdrehte. „Aber wo mag sie nur herkommen, so weit von der Stadt?“

„Sie kommt gewiß wieder vom Wunderkreuz“, meinte Mariechen; „da pilgert sie hin, so oft es ihre alten Beine erlauben.“

„So ganz allein! Und wenn sie nun einmal nicht mehr heim könnte?“

„Wenn sie zu lang ausbleibt, dann kommt ihr der Christian entgegen.“

„Wie, der Christian, unser früherer Gärtner?“

„Ja, Tante Toni, der wohnt ja bei seiner verheirateten Tochter, und die alte Babett hat ein Zimmerchen im selben Hause. Wenn nun die Babett zum Wunderkreuz wallfahrtet, wie sie es nennt, dann geht ihr später Christian entgegen, und er führt sie nach Haus, und du kannst dir gar nicht denken, wie drollig das ist, wenn die beiden zusammen heimhumpeln; denn der Christian kann nicht viel besser gehen als die Babett, wegen seinem Schematismus.“

„Schematismus?“

„Ach, Tante, so nennt er sein Gliederreißen; er meint halt Rheumatismus.“

„Aber das Allerkomischste ist doch, wenn sie sich unterwegs recht zanken“, mischte sich Kurt ein.

„Wie, sie zanken sich?“

„Ja, und da der Christian ein bißchen taub ist, schreit die Babett ihm ins Ohr, und der Christian spricht auch sehr laut, so daß man sie schon von weitem hört.“

„Aber weshalb streiten sie denn? Ich meine doch, wenn der Christian ihr entgegengeht, um sie nach Hause zu führen, so ist das ein Zeichen, daß sie gut zusammen stehen – sie sind ja nicht einmal verwandt miteinander.“

„Sie zanken sich ja eigentlich auch nicht im Ernst – aber die Babett will zum Beispiel immer den inneren Weg gehen, sie behauptet, hier draußen sei es zu windig; der Christian dagegen will draußen gehen, denn ihm ist es im Wald zu dumpf. Neulich sind wir mal mit Papa hinter ihnen hergegangen, da haben sie sich wieder um den Weg gezankt, bis dann endlich der Christian nachgegeben hat, und sie sind in den Wald eingebogen – er hat aber doch gebrummt: ‚Ich bin nur froh, daß du nicht meine Frau bist, Babett!‘ Da ist die Babett aber bös geworden und hat geschrien: ‚Was denkst du denn von mir, du? Wenn ich deine Frau wär', dann wären wir natürlich draußen gegangen.‘ Da ist aber der Christian ganz verblüfft stehengeblieben und hat gefragt: ‚Du, Babett, was haste gesagt? Meinen Weg wärst du mit mir gegangen, wenn du meine Frau wärst?‘ Und die Babett hat ganz stolz geantwortet: ‚Natürlich; meinst du denn, ich wüßt' nicht, wie es sich zwischen Mann und Frau gehört? Ich kenn' doch meinen Katechismus!‘ Der Christian hat sich hinter den Ohren gekratzt und hat sehr nachdenklich ausgesehen; endlich hat er ihr ins Ohr gerufen: ‚Ja, Babett, du hast schon recht; eigentlich gehört es sich auch so zwischen Mann und Frau – aber in Wirklichkeit ist es nicht immer so.‘ Und dann schrie die Babett ihm wieder ins Ohr: ‚Schrei doch nicht so, Christian; ich bin doch nicht taub, sondern nur du!‘ Da wollte der Christian widersprechen, aber die Babett ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern sie schrie weiter: ‚Bei dir war's freilich nicht so; grad umgekehrt war's bei dir: du hast erst deiner Frau gehorcht, und jetzt folgst du deiner Tochter.‘ Jetzt hat aber der Christian angefangen zu lachen, und er hat ausgerufen: ‚Und noch jemand, ja, da ist noch jemand, dem ich gehorchen muß.‘ Die Babett hat angefangen zu raten: ‚Deiner Tochter ihrem Mann?‘ Da hat der Christian noch ärger gelacht: ‚Nein, der gehorcht selber seiner Frau.‘ Die Babett hat ganz verwundert gefragt: ‚Ja, wem denn sonst noch?‘ Da ist der Christian wieder stehengeblieben und hat gerufen: ‚Ei, dir, Babett, dir muß ich doch auch gehorchen!‘ Da haben sie dann beide gelacht und sind ganz vergnügt zusammen weitergehinkt.“

Tante Toni und alle Kinder lachten auch herzlich über Kurts Erzählung.

Nachdem man nun noch eine halbe Stunde tüchtig marschiert war, kam man endlich oben am Tempelchen an.

„Aber da ist ja gar kein Tempelchen mehr!“ rief Tante Toni ganz enttäuscht.

„Ja, das fing an zu zerbröckeln, da hat man es einfach abgebrochen.“

„Die Aussicht ist ja auch zugewachsen!“

„Ja, aber komm, ich führe dich hier ganz in der Nähe auf einen Felsblock, von dem aus hat man einen wirklich schönen Blick.“

Und Paul führte Tante Toni an die bezeichnete Stelle. Als sie zu den andern zurückkamen, sagte Philipp: „Ich meine, wir könnten uns jetzt dort ins Gras lagern und etwas essen.“

„Was nicht gar!“ rief Tante Toni lachend. „Zum Essen ist es doch noch zu früh. Ich schlage vor, es wird erst eine Stunde gespielt, dann gefüttert und hernach weitergespielt, bis es Zeit ist heimzugehen. Ist es euch so recht?“

Alle erklärten sich einverstanden, und es wurde beschlossen, zuerst „Räuber und Gendarm“ zu spielen.

„Aber die kleine Toni kann nicht mitspielen“, erklärte Otto, „sie kann nicht gut laufen, und sie würde uns das ganze Spiel verderben.“

Toni schaute mit einem flehenden Blicke zu ihrer Patin auf, und schon rannen ein paar Tränen über ihre Bäckchen, da faßte Lilly sie an der Hand und sagte: „Doch, Otto, laß sie nur mitspielen; sie ist das gestohlene Kind, welches die Räuber versteckt haben und welches die Gendarmen suchen müssen. Komm, Toni, ich verstecke dich!“ Und sie sprang mit der schnell getrösteten Toni fort. Die andern folgten ihr, nur Mariechen blieb bei der Tante zurück.

„Wie, Mariechen, spielst du nicht mit?“

„Ach nein, Tante, das Spiel ist mir ein bißchen zu wild, und man verdirbt sich die Kleider dabei.“

Tante Toni lächelte.

„Allerdings, Mariechen, es wäre schade um dein hübsches Kleid; du hast dich für die Gelegenheit ein bißchen zu fein gemacht.“

Mariechen errötete und nestelte verlegen an ihrem Arbeitstäschchen herum. Auch Tante Toni hatte eine Handarbeit mitgebracht, und die beiden ließen sich eben auf einer aus rohen Baumstämmen gezimmerten Bank nieder, als Philipp noch einmal zurückkam, um ihnen anzuempfehlen: „Gebt gut auf die Rucksäcke acht!“

Tante Toni und Mariechen versprachen es beide lachend. Nach einiger Zeit sagte letztere etwas ängstlich: „Wenn es nur ohne Streit abgeht!“

Tante Toni meinte: „Wenn so viele Kinder von verschiedenem Alter und von so verschiedenen Charakteren beieinander sind, gibt es gar leicht kleine Zänkereien; man darf diese nicht zu schwer nehmen, und man muß vor allem sorgen, daß sie nicht ausarten. Übrigens habe ich mich eben recht über Lilly gefreut, weil sie sich so nett der kleinen Toni angenommen hat.“

„Mit Tonichen ist Lilly überhaupt fast immer lieb und nett, und wenn sie es zuweilen durch Neckereien zum Zorn gebracht hat, dann tut es ihr hernach immer sehr leid.“

„O, das freut mich!“ rief Tante Toni aus. „Ja, das freut mich sehr. Ich kann dir nicht sagen, wie weh es mir tut, daß ich bisher noch gar keinen liebenswürdigen Zug in Lillys Charakter finden konnte. Du hast mir neulich auch gesagt, daß Otto und Lilly sehr an ihrem Vater hängen.“

„Ja, Tante; ich habe bei Lilly schon manchmal etwas erreicht mit der Vorstellung: es würde deinen Vater freuen, oder: es würde ihm leid tun.“

„Glaubst du zum Beispiel, daß Lilly imstande wäre, ihrem Vater zuliebe ein wirkliches Opfer zu bringen?“

Mariechen dachte ein wenig nach, dann sagte sie bestimmt: „Ich glaube, ja, Tante!“

„O, das ist gut, das ist viel wert!“ rief die Tante aus und sah sinnend vor sich hin.

Nach einiger Zeit kam klein Toni allein zurück. „Willst du nicht mehr mitspielen, mein Kleines? Bist du schon müde?“ fragte Tante Toni.

Die Kleine nickte und erzählte: „Die Gendarmen haben unser Versteck gefunden, und da mußten wir schnell fortlaufen; weil ich aber nicht so fest laufen kann, da hätten sie die Lilly beinah gefangen, und da hat sie mich schnell losgelassen und gesagt, ich sollte mich jetzt ein bißchen zu dir setzen, Tante.“

Die Tante zog Tonichen zu sich auf die Bank, hüllte das Kind in ihr warmes, weiches Umschlagtuch und sagte liebevoll: „So, damit du dich nicht erkältest, denn du bist erhitzt vom Laufen; nun ruhe dich aus.“

Die Kleine lächelte, und ihr Köpfchen an die Schulter der Tante lehnend bat sie: „Bitte, bitte, liebe Tante, erzähle mir doch noch einmal die Geschichte von dem guten Kinde, welches allein mit dem armen Jesusknaben gespielt hat, weil die andern Kinder nicht wollten, und wie dann die Engelchen vom Himmel gekommen sind und ihnen Sternblümchen und Sternbällchen zum Spielen gebracht haben. O bitte, Tante, erzähle!“

Und die gute Tante erzählte, und weil sie gar so schön erzählen konnte, hörte nicht nur das kleine Tonichen aufmerksam zu, sondern auch das große Mariechen – bis auf einmal alle andern Kinder mit großem Lärm zurückkehrten.

„Die Gendarmen haben gewonnen!“ rief Rudi mit strahlenden Augen. „Alle Räuber haben wir gefangen!“

„Ich habe mich zuletzt fangen lassen, weil es mir langweilig wurde, sonst hättet ihr mich nicht gekriegt.“

Diese Behauptung Ottos wurde von allen andern mit schallendem Gelächter beantwortet, worüber dieser sich natürlich sehr ärgerte. Er stampfte mit dem Fuß und schrie: „Was habt ihr zu lachen? Es ist doch so!“

Und Lilly bekräftigte: „So ist es auch, er hat sich fangen lassen!“

Der Streit hätte wahrscheinlich noch länger gedauert, wenn Anna nicht eben mit theatralischer Miene ausgerufen hätte: „Aber Kinder, wie könnt ihr diesen edelmütigen Otto so verkennen! Begreift ihr denn nicht, daß er sich geopfert hat und sich fangen ließ, bloß damit wir endlich mal etwas zu essen bekommen? Es lebe Otto der Unüberwindliche, der Großmütige!“

„Er lebe hoch!“ schrien alle, auf Annas Scherz eingehend; nur Otto selbst machte wieder ein wütendes Gesicht, und er schien große Lust zu haben, den Streit wieder anzufangen. Aber nun rief Tante Toni: „Ich hoffe, Otto, daß du einen Scherz verstehen kannst und dich nun zufriedengibst. Und nun, Kinder, lagert euch und ruht aus. Mariechen und ich, wir teilen den Proviant aus. Ihr seid sicher hungrig!“

„Und wie!“ scholl es fast einstimmig zurück.

In unglaublich kurzer Zeit war der ganze Vorrat aufgezehrt, und Philipp, der eben das letzte Butterbrot empfangen hatte, rief aus: „Siehst du, Tante Toni, daß wir nicht zuviel mitgenommen hatten?“

„Nein, wirklich!“ lachte diese. „Ihr habt euch aber auch tüchtig Bewegung gemacht, und hier draußen schmeckt es noch ganz besonders gut.“

„So, nun können wir weiterspielen!“ erklärte Anna aufspringend.

„Ach nein, jetzt wollen wir lieber etwas anderes spielen!“

„Aber was denn?“

Der eine schlug dies vor, der andere das, ohne Erfolg, bis Tante Toni vorschlug: „Was meint ihr zu einem Pfänderspiel?“

„Ja, ja, ein Pfänderspiel, und Tante Toni spielt mit!“ riefen die Kinder. Bald war das Spiel, unter Tante Tonis Leitung, im Gang. Da gab es wieder viel zu lachen, besonders wenn der Mitspieler, der ein Pfand geben sollte, verlegen in seinen Taschen herumkramte und gar nichts Passendes finden konnte, sondern manchmal recht drollige Sachen zum Vorschein brachte. Mariechen zum Beispiel fand in ihrer Tasche nichts als ein Taschentuch, einen Rosenkranz und einen kleinen Spiegel; diesen letzteren reichte sie errötend als Pfand hin, wobei sich Anna laut und anhaltend räusperte, bis Mariechen etwas ärgerlich ausrief: „Gib dich zufrieden, Anna, alle haben's gesehen und bemerkt!“

Als Kurt an die Reihe kam, fuhr er in alle seine Taschen, suchte und suchte voll Hast – aber ohne Erfolg, bis er schließlich doch einen kleinen Gegenstand hervorbrachte, und zwar ein Schnurrbartbürstchen.

„Nun, du sorgst zeitig vor!“ lachte Tante Toni; auch die andern lachten, nur Philipp fragte mit dem ernsthaftesten Gesicht der Welt: „Kurt, wann hast du dich denn zum letztenmal rasieren lassen?“

Als dann an ihn selbst die Reihe kam, ein Pfand zu geben, da fand er nichts als Brotkrumen, Obstkerne und einige sonderbar geformte Eisenstückchen.

„Aha“, höhnte Kurt, „das sind wohl die Bestandteile deiner neuesten Erfindung!“

Lilly förderte ein Puppenhöschen zutage, welches sie aus Versehen anstatt eines Taschentuches eingesteckt hatte, und Anna überreichte mit einigem Widerstreben einen Kreisel, bei dessen Anblick Paul ausrief: „Der gehört ja überhaupt mir!“

„Ach, du spielst ja doch nie damit, du hast ihn einfach verloren und ich hab' ihn gefunden; jetzt kannst du ihn mir auch lassen.“

„So, so, verloren hab' ich ihn? Ich möcht' nur wissen, wo; wahrscheinlich in meiner Schublade oder in einer meiner Taschen, da gehst du ja doch immer suchen, wenn du etwas finden möchtest. Ja, Fräulein Änne, deine Manier, dir allerhand zusammenzufinden, die kenn' ich schon. Nächstens komme ich einmal bei dir wiederfinden.“

„O je, Kurt, da wirst du nicht viel kriegen! Du weißt doch, daß die Änne immer gleich wieder alles herschenkt, was sie hat.“

„Ach, geh' doch, Rudi!“ wehrte Anna ab.

„Ja, es ist aber so! Neulich hast du mir doch meinen Ball abgebettelt – und am andern Tag spielten die ungezogenen Franks-Kinder damit auf der Straße.“

„Ach, die sind gar nicht so arg ungezogen“, rief Anna eifrig; „sie sind nur so schrecklich arm, und haben gar nichts zum Spielen, und sie sahen so sehnsüchtig nach dem Ball, als ich vorbeikam, da hab' ich ihn ihnen halt gegeben.“

„Na ja, es ist mir ja auch recht“, sagte Rudi; währenddessen flüsterte klein Toni ihrer Schwester Anna ins Ohr: „Du, wenn wir heimkommen, da geb' ich dir eins von meinen Bilderbüchern für die Franks-Kinder, und – ja was denn noch ...!“

„Ein Püppchen?“

„Ach nein, Änne, die Franks sind so wild und so schmutzig, sie würden zu grob mit dem armen Püppchen umgehen, das täte mir zu leid.“

„Dummes, das Püppchen fühlt's ja nicht!“

„Ach ja, ich kann's aber doch nicht sehen. Und weißt du, wie ich neulich abends in meinem Bettchen geweint hab' und wie du mich gefragt hast, warum ich weine, wie ich dir's dann aber nicht sagen wollte, da hab' ich nur geweint, weil mir auf einmal eingefallen ist, daß ich mein Gretelchen im Nähzimmer liegengelassen habe, und weil ich nun gedacht habe, das arme Püppchen liegt nun ganz allein und verlassen im dunkeln Nähzimmer, es hat kalt und ist traurig, weil ich es nicht ins Bettchen gelegt und ihm nicht ‚Gute Nacht‘ gesagt hab'.“

Inzwischen hatten die andern weitergespielt, und Toni sah ganz verdutzt aus, als Otto sie anrief: „Holla, Toni, du hast nicht aufgepaßt, schnell ein Pfand her!“ –

Nicht minder groß war das Vergnügen der Kinder beim Auslösen der Pfänder; besonders Anna zeichnete sich wieder aus durch ihre tollen Einfälle, als sie, um ihren Kreisel wieder zu erhalten, einen Blick in die Zukunft tun mußte. Man verband ihr die Augen, und so oft Tante Toni fragte, was sie diesem und jenem prophezeie, und dabei einen der Mitspielenden bezeichnete, mußte sie irgend etwas sagen, natürlich ohne selbst zu wissen, wem es galt.

„Ich glaube, du hast gespitzt“, klagte Mariechen, als sie prophezeit bekam, daß sie mal Generaloberin aller bestehenden und nichtbestehenden Orden und Klöster werden sollte. Als Anna dann aber den Philipp zu einer Urgroßmutter machte und Lilly zum Erzbischof ernannte, da glaubte man ihr, daß sie nicht hinter dem Tuch hervorgeschaut hatte. Otto ärgerte sich wieder sehr, als ihm verkündet wurde, er müsse einmal als Orgeldreher die Welt durchwandern; als aber Tante Toni das Amt eines Kasperltheaterdirektors und Paul das Los einer emanzipierten alten Jungfer in Aussicht gestellt wurde, da stimmte er doch in die Heiterkeit der übrigen ein. Zuletzt deutete die Tante auf klein Toni, und als Anna verkündete: „Das wird einmal eine entsetzlich böse Schwiegermutter“, da machte die Kleine ein ganz trübseliges Gesichtchen und sagte: „Aber nein, das möchte ich nicht werden.“ Während alle lachten, riß Anna sich das Tuch vom Gesicht und rief aus: „So, du bist also auch nicht zufrieden mit meinen Prophezeiungen? Was hätte ich dir denn sagen sollen?“

„Ich möchte gern ein Engelchen werden“, sagte klein Toni errötend.

„Oh – oh, hört doch! Die Toni will ein Engelchen werden – wie bescheiden! Nein, so etwas!“ riefen die Kinder lachend. Otto schrie dazwischen: „Doch wohl ein Engelchen mit einem B davor!“

Und nun tönte es von allen Seiten und in allen Tonarten: „Engelchen, Bengelchen! Engelchen, Bengelchen – Zornebengelchen!“

Aber klein Toni wurde nicht zornig, – nein, sie wurde wohl abwechselnd rot und blaß, und sie zitterte vor Anstrengung, den aufsteigenden Zorn zu bemeistern. Sich fest an die Tante schmiegend flüsterte sie: „Ich will nicht zornig werden, – nein, ich will nicht!“

„Recht so, mein Herzchen, meine tapfere, kleine Freundin!“ ermutigte die Tante.

Mariechen hatte sich inzwischen bemüht, die übermütige Bande zum Schweigen zu bringen, und das Spiel nahm nun seinen Fortgang, bis Tante Toni das Zeichen zum Aufbruch gab.

„Aber es sind noch zwei Pfänder auszulösen!“ rief Otto aus, allein die Tante bestimmte, dieselben müßten einfach zurückgegeben werden, und sie fügte hinzu:

„So, Kinder, nun geht es in wohlgeordnetem Zug heimwärts, und es wird dabei gesungen und im Schritt marschiert, damit wir rascher vom Fleck kommen; denn es ist schon etwas spät geworden. Also, Anna und Rudi, ihr führt den Zug an, die Zwillinge nehmen den Philipp in ihre Mitte, dann folgen Mariechen und Toni, und Otto und Lilly bilden mit mir die Nachhut.“

Dann stimmte die Tante an: „Wer will unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr“, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Aber Tante Toni blieb mit Otto und Lilly ein wenig zurück, und als die andern außer Hörweite waren, sagte sie:

„Nun, meine lieben Kinder, erklärt mir doch einmal, was habt ihr denn mit der alten Babett gehabt?“

Die beiden Kinder schwiegen und ließen die Köpfe hängen. Die Tante fuhr fort: „Ich hätte ja Babett selbst fragen können, aber ich wollte es lieber von euch hören.“

Endlich entschloß sich Otto zu reden, und er sagte wegwerfend: „Ach, Tante, es ist ja gar nichts so Besonderes, und es ist eigentlich gar nicht der Rede wert. Die Babett ist halt so alt und so häßlich, und sie wird oft ‚die alte Hex‘ genannt, und wir, die Anna, die Lilly und ich, sind einmal dazugekommen, wie ein paar Kinder auf der Straße ihr nachgerufen haben: ‚Alte Hex, böse, alte Hex!‘ Nun, und da haben wir halt ein bißchen mitgeschrien – das ist alles.“

„O Otto, wie du das sagst!“

„Nun, das ist doch nicht so schlimm und nicht der Mühe wert, so viel Aufhebens davon zu machen!“

„Es tut mir leid, Otto, daß du die Sache so leicht nimmst, besonders da du doch vorhin gesehen hast, wie nahe es der guten Alten gegangen ist. Von eurer frühesten Kindheit an habt ihr gelernt, daß man das Alter ehren soll. Ist nun aber, wie hier bei Babett, das Alter von Gebrechen und Armut begleitet, so ist es doppelt ehrwürdig. Warum habt ihr nicht wenigstens vorhin der Alten ein gutes Wort gesagt wie Anna? Ihr habt doch gesehen, welche Freude ihr das gemacht hat.“

„Aber, Tante, das ist doch unmöglich! Die Anna hat ja gar kein Ehrgefühl, daß sie so eine alte Bettlerin um Verzeihung bittet; wir können uns doch nicht so erniedrigen!“

„Du scheinst mir von Ehrgefühl und Erniedrigung einen sonderbaren Begriff zu haben, mein Junge. Damals, als ihr mit den Gassenkindern die Alte verhöhntet, da habt ihr euch erniedrigt, da habt ihr kein Ehrgefühl gehabt. Anna dagegen hat vorhin Mut und Hochherzigkeit gezeigt, und ich versichere euch, sie ist seitdem in meiner Achtung sehr gestiegen. Ich hielt sie bisher nur für einen lustigen kleinen Taugenichts, jetzt weiß ich aber, daß sie Charakter hat, daß sie ein offenes, mutiges und gutes Kind ist.“

Otto und Lilly sahen sehr erstaunt und etwas beschämt drein. Endlich fragte Lilly leise:

„Tante Toni, hast du uns jetzt nicht mehr lieb?“

„Gewiß hab' ich euch noch lieb!“ rief die Tante warm, und sie zog die beiden Kinder näher zu sich heran. „Gerade weil ich euch so lieb habe, tut es mir weh, wenn ihr nicht seid, wie ihr sein solltet; gerade weil ich euch so lieb habe, möchte ich, daß ihr gute, brave, eures Vaters würdige Kinder werdet! Ihr habt ja beide euern Vater sehr lieb, nicht wahr?“

„O, und wie lieb!“ Die Kinder riefen es aus mit leuchtenden Augen.

„Und wenn er bei euch ist, dann nehmt ihr euch zusammen, dann könnt ihr musterhaft brav sein. Glaubt ihr nicht, daß es ihn sehr kränken würde, wenn er jemals erführe, daß ihr ganz anders seid, sobald er nicht dabei ist? Daß er es bisher noch nicht erfahren hat, das verdankt ihr nur der Güte und Nachsicht eurer Tanten, der Großmut eurer Vettern und Cousinen; aber immer kann es ihm nicht verborgen bleiben. Glaubt mir das nur, Kinder, früher oder später wird er einmal klar sehen, und es wird ihm furchtbar hart sein, wenn er erfahren muß, daß ihr nicht die offenen, wahren, gutherzigen und edelmütigen Kinder seid, für die er euch hält. Davor möchte ich ihn und euch bewahren. Übrigens, lieber Otto, du wirst ja nun bald zur ersten heiligen Kommunion gehen; ich hoffe, du nimmst es recht ernst mit deiner Vorbereitung, und wenn du willst, dann darfst du, so oft du Zeit hast, zu mir kommen. Ich möchte dir so gerne helfen, dich auf diesen großen Tag vorzubereiten.“

„O Tante, das wäre mir freilich recht, sehr recht!“

„Nun gut! Und jetzt wollen wir uns ein bißchen eilen, um die andern einzuholen. Tonichen scheint müde zu sein, sie läßt sich arg von Mariechen ziehen.“

Die andern waren bald eingeholt. Die ermüdete kleine Toni wurde erst von der Tante und Mariechen, dann von Kurt und Philipp „Hockehockestühlchen“ getragen, bis sie ein bißchen ausgeruht war, und so kam man bald wieder in die Nähe der Klosterruine.

„Wir wollen den See entlang gehen“, rief Rudi, „es sind eine Menge kleine Entchen drin und auch zwei junge Schwänchen.“ Und er lief voraus.

„Gib acht, Rudi“, rief ihm Mariechen nach, „der große Schwan ist vielleicht draußen; er ist immer sehr wild, wenn junge Schwänchen dasind, und er ist überhaupt in der letzten Zeit sehr bös, weil einige Buben ihn necken und mit Steinen werfen.“

„Ich werd' mich doch nicht vor einem Schwan fürchten!“ sagte Rudi gekränkt, und er lief weiter, gerade auf den See zu. Tante Toni wollte ihn eben besorgt zurückrufen, da kam er auch schon mit großem Zetergeschrei gelaufen, der Schwan, wild mit den Flügeln schlagend, hinter ihm drein. Es war ein großer, starker Schwan, und er sah so bösartig aus, daß alle Kinder heftig erschraken. Auch Tante Toni erschrak, aber sie faßte ihren Sonnenschirm, und beherzt auf das erboste Tier zugehend, hielt sie ihm denselben entgegen und machte ihn plötzlich mit einem Ruck auf. Der Schwan stutzte, machte kehrt und beeilte sich, wieder in sein Element, ins Wasser, zu kommen. Die Kinder hatten rasch die ausgestandene Angst vergessen, und sie brachen nun in ein herzliches Gelächter über diesen raschen und drolligen Rückzug des Schwans aus.

„Es sah zu komisch aus, Tante, wie du den Schirm dem Schwan grad ins Gesicht aufgemacht hast; so etwas war ihm noch nie passiert, das konnte man ihm ansehen!“ Und Anna lachte, daß ihr die Tränen über die Backen liefen.

„Und Mut hast du, Tante Toni, das muß ich sagen“, gestand Paul bewundernd.

„Und schlau hast du's gemacht. Mir wäre das mit dem Schirm nicht eingefallen“, pflichtete Kurt bei.

Nur Rudi sagte nichts, er schlich etwas beschämt hinter den andern her; aber am Abend nach der Heimkehr, da küßte er der Tante zärtlich die Hand. Und als Anna ihm nachrief: „Gute Nacht, Schwanenritter!“ da wurde er sehr rot, aber er sagte nichts.

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