Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Tante Toni und ihre Bande
(Alberta von Brochow)

5. Kapitel
Minnichen wird geimpft

Tante Toni saß oben im Kinderzimmer. Klein Minnichen kletterte auf ihren Knien herum und trieb allerhand Schabernack; es zog sie an den Haaren, zupfte sie am Ohrläppchen, und wenn Tante Toni „Au!“ oder „O weh!“ rief, dann streichelte es ihr die Wangen und machte: „Ei, ei, Ta Dedi.“

Leo, der daneben mit großem Ernst ein Bilderbuch betrachtete, erhob mißbilligend den Kopf und sagte: „Das Minnichen ist wirklich ein bißchen eigensinnig, es will durchaus nicht ‚Tante Toni‘ sagen; es könnt's doch ganz gut, wenn es nur wollte; denn es hat schon viel schwerere Wörter fertiggebracht. Komm, Minnichen, sei mal recht brav, sage schön: ‚Tan–te To–ni‘; ich schenk' dir auch was!“

„Senk was!“ machte Minnichen, und es hielt dem Brüderchen habgierig das Händchen entgegen.

„Ja, du wärst mir gescheit! Erst mußt du ‚Tan–te To–ni‘ sagen.“

„Truwelpeter!“ schrie die Kleine, und sie lachte herausfordernd und klatschte in ihre kleinen, dicken Patschhändchen.

Leo sah sein Schwesterchen voll Bewunderung an; dann sagte er: „Du, Tante, ich glaub' gar, es will mich uzen; es ist wirklich ein schlaues Ding, das Minnichen.“

Man sah und hörte dem kleinen Burschen an, wie stolz er auf sein Schwesterchen war, das er ein wenig als sein besonderes Eigentum betrachtete. Er fühlte sich als dessen Lehrer und Beschützer, er ließ sich viel von ihm gefallen und behandelte es mit einer gewissen großmütigen Nachsicht, die ihm allerliebst stand und die ihn für seine viereinhalb Jahre merkwürdig vernünftig erscheinen ließ.

Nachdem die Tante Minnichens Klugheit nach Gebühr bewundert hatte, wandte sie sich an klein Toni, die mit ihrer Puppe im Arm auf einem niederen Stühlchen danebensaß. Tonichen saß so still da und schaute so ernst und nachdenklich vor sich hin, daß die Tante besorgt fragte: „Was hast du denn, meine kleine Freundin, woran denkst du?“

„Ach, Tante“, erwiderte das Kind nach einigem Zögern, „ich denke daran, daß du Otto gestern zu dir gerufen hast, um ihn auf die erste heilige Kommunion vorzubereiten. Ich wäre so gern auch dabeigewesen.“

„O, deine Zeit wird auch kommen, Tonichen; habe nur noch ein bißchen Geduld!“

Toni versank wieder in Nachdenken; endlich hob sie das Köpfchen und fragte: „Tante, muß man dem Heiligen Vater nicht folgen, wenn er etwas sagt?“

„Aber selbstverständlich, Kind!“

„Er hat aber doch gesagt, die Kinder sollten schon mit sieben Jahren zur ersten heiligen Kommunion gehen; warum läßt man sie denn nicht?“

„Ja, Kindchen, der Heilige Vater hat unsern deutschen Bischöfen erlaubt, das Alter für die Erstkommunikanten auf zehn Jahre festzusetzen.“

„Und in den andern Ländern, da dürfen die Kinder schon mit sieben Jahren gehen?“

„Wenigstens in vielen; ja ich glaube in den meisten.“

„Warum denn nur gerade wir deutschen Kinder nicht? – Aber sag' mal, Tante Toni, wenn ich jetzt sehr krank würde, so krank, daß ich sterben müßte, dürfte der Priester mir dann die heilige Kommunion bringen?“

„O, das glaube ich – ganz bestimmt!“

„Willst du mir dann versprechen, Tante Toni, daß ich den lieben Heiland bekomme, wenn ich sehr krank werde?“

„Aber, Toni, mein Herzchen, wie kommst du denn auf diesen Gedanken? Du fühlst dich doch nicht unwohl?“

„Versprich, bitte, Tante, versprich!“ flehte das Kind so eindringlich, daß die Tante nicht anders konnte als antworten:

„Ich versprech' dir's, Kind; von Herzen gern will ich in einem solchen Fall alles tun, was ich kann, um deinen Wunsch zu erfüllen!“

Leo hatte diesem Gespräch mit Interesse zugehört. „Sag' mal, Tante“, mischte er sich nun ein, „wenn die Toni stirbt, ist sie dann doch noch unsere Schwester?“

„Aber gewiß!“

„Und wenn wir alle einmal tot und im Himmel sind, bist du dann doch noch unsere Tante, und sagen wir dann auch noch zu unsern Eltern ‚Papa‘ und ‚Mama‘?“

„Aber Leo“, belehrte Toni ihr Brüderchen, „dann sagt man doch: ‚Heiliger Papa‘ und ‚Heilige Mama‘!“

„Aha, ja natürlich“, nickte Leo befriedigt. Tante Toni lächelte, und die beiden samt Minnichen fest an sich drückend sagte sie nur: „Meine lieben, lieben Kinderchen!“

In diesem Augenblick stürzte Gretchen, das Kindermädchen, mit schreckensbleichem Gesicht ins Zimmer und rief aus: „Ach, Fräulein Mehring, denken Sie doch nur – eben ist der Herr Doktor gekommen – unser Kleines soll geimpft werden!“

„Da ist doch nichts dabei, Gretchen; darüber brauchen Sie doch nicht zu erschrecken. Aber ich meinte, das Kind sei schon längst geimpft?“

„Es ist auch schon mal geimpft worden, aber es hat nicht angeschlagen. Ach, Fräulein Mehring, ich kann's nicht mit ansehen; ich werd' ohnmächtig, wenn ich's Minnichen bluten sehe!“

„Bluten! – Was soll denn dem Minnichen geschehen?“ rief Leo ganz erschreckt, während er sich wie schützend vor sein Schwesterchen stellte.

„Da sehen Sie, Gretchen, wie Sie die Kinder erschrecken“, tadelte Tante Toni das Mädchen. „Gehen Sie nur schnell aus dem Zimmer und nehmen Sie Toni und Leo mit. Ich halte die Kleine beim Impfen.“

„Nein, nein, laß mich hier, ich will bei meinem Minnichen bleiben!“ wehrte sich Leo, als Gretchen ihn mit fortnehmen wollte. „Bitte, Tante Toni, laß mich beim armen Minnichen!“

„Aber es geschieht ja deinem Minnichen gar nichts Schlimmes, Kind! Das Impfen tut ja gar nicht weh, es ist kaum wie ein Mückenstich.“

„O bitte, bitte, laß mich doch hier!“

„Mich auch, bitte, liebe Tante!“

„Nun ja, wenn ihr versprecht, euch ganz still zu verhalten, dann dürft ihr hierbleiben.“

Minnichen hatte inzwischen verwundert und etwas ängstlich von einem zum andern gesehen; sie hatte wohl begriffen, daß man etwas mit ihr vorhabe, konnte sich aber nicht denken, was. Als nun aber die Türe aufging und die Mutter gefolgt vom Hausarzt eintrat, da hellte sich ihr Gesichtchen auf, und sie schrie: „Dag, Dokedok! Sung raus?“ Und ohne erst die Antwort abzuwarten, riß sie das Mäulchen auf und streckte ihr rosiges Züngelchen heraus, soweit sie nur konnte.

„Na, das ist aber mal ein braves Kind!“ rief der Doktor lachend. „Und solch ein schönes, rotes Zünglein hat's. Nein, krank sind wir nicht, Fräulein Minnichen, nicht wahr?“

„Doch, doch, Minnisen tank is – wehweh hier – wehweh da“, versicherte die Kleine ernsthaft, während sie an Ärmchen und Beinchen suchte, ob sie nicht irgendein rotes Fleckchen fände; als sie aber keines entdecken konnte, drückte sie die Hände aufs Brüstchen und klagte mit wehleidigem Gesichtchen: „Minnisen weh Bäuselsen.“

„Nun, da wollen wir mal das kranke Bäuchelchen untersuchen“, sagte der Doktor. Er machte der Tante ein Zeichen, und diese begann die Kleine auszukleiden, bis die dicken, nackten Ärmchen herauskamen.

„Hat Minnichen da auch Weh?“ fragte Tante Toni, aufs Ärmchen deutend.

„Ja, ja“, nickte das Kind eifrig. „Dokedok sund mach, Lästersen dauftun.“

„So, so, ein Pflästerchen möchtest du für dies nette, runde Speckärmchen haben? Na, komm, laß einmal sehen.“

Wie aber der Doktor das Ärmchen fassen wollte, zog Minnichen es rasch zurück und schrie lachend: „Kitzekitz!“

„Es meint, du wolltest's kitzeln“, erklärte Leo dem erstaunten Doktor. Dieser lachte, und diesmal mit festem Griff das Ärmchen fassend, sagte er:

„Nein, kitzeln, das tut der Onkel Doktor nicht. Aber nun paß einmal gut auf – drei nette Pünktchen mach' ich dir da oben hin, drei wirklich nette Pünktchen. Kannst du schon zählen? Also eins, zwei, drei ...!“

Minnichen hielt ganz still und schaute mit großer Aufmerksamkeit dem Doktor zu. Als er fertig war, hielt es ihm das andere Ärmchen auch hin und sagte: „Noch pickpick.“

„Nein, aber so was!“ rief der Doktor verwundert. „Das muß ich sagen, ich hab' doch schon viele Kinder geimpft, es haben auch viele davon recht schön stillgehalten; aber bisher hat doch noch keines verlangt, noch mehr geimpft zu werden!“

Leos Augen leuchteten vor freudigem Stolz, als der Doktor dies sagte, und er versicherte: „Ja, so eins wie mein Minnichen gibt's überhaupt nicht mehr. Und, Onkel Doktor, wenn du erst wüßtest, wie schlau es ist und was es schon alles kann! Denke dir, neulich ...“ Und während die Mutter und Tante Toni die Kleine wieder ankleideten, erzählte er dem Arzt die Heldentaten seines Schwesterchens. Dieser hörte eine Zeitlang freundlich zu, endlich klopfte er dem Bürschchen auf die Schulter und meinte schmunzelnd: „Na, ein Wunder ist es ja nicht bei einem so tüchtigen Lehrmeister. Übermorgen komme ich mal nachsehen, ob es diesmal anschlagen wird. Aber jetzt möchte ich mir das kleine, blasse Fräuleinchen hier ein bißchen näher besehen.“ Damit zog er Tonichen zu sich heran und begann dieselbe zu untersuchen, zu beklopfen und zu behorchen. Er machte dabei ein ernstes Gesicht und schüttelte ein paarmal mit dem Kopf, und erst als er bemerkte, wie Toni ihn mit ihren ernsten blauen Augen gar forschend ansah, versuchte er ein vergnügtes Gesicht zu machen und zu scherzen. Aber das Kind ließ sich nicht täuschen, und sowie es gewahrte, daß die Aufmerksamkeit seiner Mutter durch die kleinen Geschwister in Anspruch genommen war, neigte es sich rasch zum Arzt hin und fragte leise: „Werde ich bald sterben, Onkel Doktor?“

Dieser fuhr erschrocken zurück. Dann zog er klein Toni auf sein Knie, und sanft ihr Köpfchen streichelnd fragte er: „Wie kommst du denn auf diesen Gedanken, du Kleines? Fühlst du dich nicht wohl? Tut dir etwas weh – sag' mir's doch!“

Toni schüttelte das Köpfchen: „Nein, weh tut mir eigentlich nichts. Ich bin nur immer so müd'.“

„Ach geh' doch, vom Müdesein stirbt man doch nicht!“ sagte der Doktor lächelnd, und aufmunternd fügte er hinzu: „Komm, Kindchen, schau nicht so ernst drein, das paßt ja gar nicht für dein Alter. Du sollst vergnügt sein und springen und lachen, so wie dein kleines Schwesterchen da. Hör doch nur, wie es kräht, und schau, wie es zappelt, daß man es kaum halten kann.“

Dann stand der Doktor auf, und die Mutter ging wieder mit ihm hinunter. Als Tante Toni etwas später nachfolgte, da war der Doktor schon fort, aber Tante Toni merkte, daß ihre Schwester geweint hatte.

„Was gibt es denn, fehlt Tonichen etwas?“ fragte sie besorgt. „Hat der Doktor etwas gefunden?“

„Nein, er hat nichts gefunden; Lunge, Herz, alles ist gesund, und doch ist unser guter alter Doktor nicht ohne ernste Besorgnisse; denn das Kind entwickelt sich nicht, im Gegenteil, es nimmt sichtlich ab.“

In diesem Augenblick kam Lilly ins Zimmer gestürmt. „Tante Maria, darf ich heute bei dir zu Mittag essen?“ rief sie. „Otto ist zu Tante Luise gegangen; denn Papa ist fort, und unser Fräulein hat so arges Kopfweh.“

„Gewiß darfst du hier essen, Lilly. Wo ist Papa denn hin? Er hat gestern gar nicht davon gesprochen, daß er heute verreisen müsse.“

„Er hat's gestern ja selbst noch nicht gewußt, und er kommt diesen Abend auch schon zurück.“

„Willst du denn einstweilen in den Garten gehen? Du wirst wahrscheinlich Anna dort finden.“

Lilly ging zur Türe, dort blieb sie aber zögernd stehen; sie blickte unschlüssig auf ihre beiden Tanten; man sah ihr an, sie hätte gerne noch etwas gesagt, sie getraute sich aber nicht recht.

Tante Toni sah ihre Nichte aufmerksam an; auch Frau Wulff bemerkte des Kindes Zögern. „Lilly, was hast du denn?“ fragte sie in freundlichem, aufmunterndem Ton.

Jetzt ließ aber Lilly den Kopf auf die Brust sinken, und sie fing an zu weinen. Da nahm Tante Maria sie auf den Schoß, sie strich ihr die Haare aus dem Gesichte, trocknete ihr die Tränen, und dann sagte sie: „So, mein liebes Kind, nun erzähl uns, was dich drückt.“

Aber Lilly weinte nur um so mehr – endlich stammelte sie: „Ach, der Papa – ich hab' solche Angst um den Papa!“

„Aber warum denn, Lilly? Er war doch schon öfter verreist, und du sagst ja selbst, daß er diesmal nur für einen Tag fort ist!“

„Ja, deshalb ist es auch nicht. Aber diesen Morgen ist ein Polizeidiener gekommen und hat dem Papa einen schrecklich großen Brief gebracht, und da war der Papa sehr aufgeregt, und er hat gesagt, er müsse gleich fort, um wichtige Papiere zu holen. Und Otto meint, dieser große Brief sei eine Vorladung vor Gericht, und er hat auch gehört, wie der Gärtner und der Milchmann zusammen geredet haben und wie sie gesagt haben, die bösen Leute wollten unsern Papa unschädlich machen; und, Tante, ‚unschädlich machen‘, das heißt doch, sie wollen ihn tot machen – der Otto hat es in seiner ‚Tigerjagd‘ gelesen; da steht es: wie der Tiger tot war, da freuten sich die Menschen, weil er nun endlich unschädlich gemacht war.“ Und Lilly brach von neuem in bittere Tränen aus.

Tante Maria aber streichelte ihr die Wangen, und sie wie ein kleines Kind in den Armen wiegend, sagte sie in beruhigendem Ton:

„Da sei du nur ganz ruhig, Lillchen, – das habt ihr beide nicht richtig verstanden; deinem lieben Vater kann und wird nichts geschehen. Alle guten und edeln Menschen haben Gegner – das ist nun einmal so auf der Welt –, und so gibt es auch böse Menschen, die deinen Vater verleumden; aber laß nur die Gerichtsverhandlung kommen, die brauchst du gar nicht zu fürchten; da werden alle Leute erfahren, was für ein guter Mensch dein Vater ist, und seine Verleumder werden bestraft werden.“

Lilly hatte aufmerksam zugehört. „Ja? glaubst du, Tante Maria? Und dem Papa wird nichts geschehen?“ Und das Kind atmete erleichtert auf. Dann sprang es hinaus in den Garten, um dort Anna und die Zwillinge aufzusuchen.

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