Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Tante Toni und ihre Bande
(Alberta von Brochow)

7. Kapitel
Bambula, der Puppenfresser. Otto, weißt du nun, wie es tut?

Am andern Tag hatte Tante Toni heftige Kopfschmerzen. Als diese gegen Mittag etwas besser wurden, ging sie zu klein Toni hinauf, die mit einer Erkältung und etwas Fieber zu Bett lag. Sie setzte sich zu ihr hin und fragte: „Nun, wie ist es dir denn gestern gegangen, meine liebe kleine Freundin? Warst du recht vergnügt mit Mama und mit den Kleinen?“

„O ja“, nickte Tonichen; „Tante Luise ist auch gekommen mit dem kleinen Bubi; der ist gestern drei Jahre alt geworden, und da hat er ein ganz schwarzes Püppchen bekommen, ein Mohrenkind, und das hat er mitgebracht, und denke dir, Tante – ach, das war zu drollig ...!“ Und nun fing Toni an, so zu lachen, daß sie gar nicht mehr weitererzählen konnte.

„Erzähl' doch erst und lach' nachher, damit ich wenigstens mitlachen kann“, meinte Tante Toni.

„Also hör, Tante! Der Bubi ist mit seinem Bambula – so heißt sein schwarzes Püppchen – gekommen und hat ihn uns gezeigt, und Minnichen hat sich ein bißchen gefürchtet, aber nur anfangs, hernach nicht mehr, und dann hat Bubi sogar seinen Neger zum Püppchen von Minnichen ins Bett gelegt, und wie Minnichen gerad' ein bißchen am Fenster war, da hat der Bubi auf einmal geschrien: ‚Minnichen, tomm deswind sehn, dei Püppchen is weck – der Bambula hat's aufdefressen!‘ Und 's weiße Püppchen war wirklich fort. Wie aber jetzt Minnichen angefangen hat zu weinen, da hat der Bubi gesagt: ‚Nit weinen, Minnichen! 's Püppchen is widder da, Bambula hat's widder rausdebrockelt.‘ Und richtig, Tante, das Püppchen lag auf einmal wieder im Bettchen, und da hätt'st du mal sehen sollen, wie Minnichen ihr Püppchen genommen und geherzt und geküßt hat und wie sie dem Bambula böse Augen und strenge Gesichter gemacht hat – aber nur von fern, denn das arme Minnichen hat sich jetzt selbst wieder ein bißchen vor dem bösen Mohren gefürchtet.“

Jetzt wurde Tonis Erzählung durch einen Hustenanfall unterbrochen.

„O, wie du hustest, mein Herzchen! Ich hätte dich nicht so erzählen lassen sollen – du sollst wohl gar nicht viel sprechen?“

„Ach, Tante, das ist nicht so schlimm; ich hab' ja schon so oft Husten gehabt! Du mußt dir wirklich hernach von Minnichen selbst erzählen lassen, wie Bambula ihr Püppchen gefressen hat; da mußt du wirklich ganz schrecklich lachen, Tante. Geh' nur mal hinüber ins Kinderzimmer – aber dann kommst du wieder zu mir, gelt, Tantchen?“

„Gewiß, Kleines, ich komme gleich wieder.“

Als die Tante ins Kinderzimmer trat, saß Minnichen mit tiefbetrübter Miene neben ihrem Puppenbettchen, während Leo, die Stirne in ernste Falten gelegt, dabeistand; er hatte eine große Brille – ohne Gläser – auf seinem Näschen sitzen und hielt eine leere Milchflasche unter dem Arm. Er räusperte sich, genau wie der gute alte Hausarzt es zu tun pflegte, und dann sagte er mit der tiefsten Stimme, die er hervorbringen konnte:

„Wir werden das kranke Kind impfen müssen; es gibt kein anderes Mittel, um's wieder gesund zu machen – aber erst muß es Medizin nehmen.“

Dann schüttelte er die Milchflasche kräftig, und ein Puppenlöffelchen unterhaltend, zählte er langsam und bedächtig: „Eins – zwei – drei – mehr wie drei Tropfen darf man nicht geben, sonst stirbt das Kind; denn die Medizin ist Gift.“

Erst nachdem er das Löffelchen dem kranken Puppenkind hingehalten hatte, drehte er sich nach Tante Toni um, und ihr die Hand reichend, sagte er sehr ernsthaft: „Ach, guten Tag, Fräulein! Wie geht es Ihnen? Soll ich Ihren Puls fühlen?“

Tante Toni ging natürlich auf das Spiel der Kleinen ein und sagte:

„Ach, guten Tag, Herr Doktor! Ich danke Ihnen, mir geht es ganz gut; aber das Kind dort scheint recht krank zu sein. Wohl auf den Schrecken von gestern?“

„Ja, ja, es steht schlimm, recht schlimm!“ Dabei machte Leo die größten Anstrengungen, seine Stirne noch mehr zu runzeln, wobei jedoch seine große Brille ins Rutschen kam. Tante Toni hatte große Mühe, das Lachen zu verbeißen. Leo aber ließ sich nicht irremachen; er stellte seine Milch- oder vielmehr seine Medizinflasche auf die Erde und rückte seine Brille wieder zurecht. Jetzt kam auch Minnichen, und die Tante zum Puppenbettchen ziehend sagte es: „Arm Poppelsen, wehweh hat.“

Nun fiel aber Leo aus der Rolle, denn der kleine Lehrmeister bekam wieder die Oberhand, und er sagte eifrig:

„Minnichen, erzähl' mal der Tante, wer hat dein Püppchen krank gemacht?“

„Böser Bambula“, sagte die Kleine, ein Schnütchen machend.

„Hörst du, Tante, wie gut sie schon ‚Bambula‘ sagen kann? Sie hat es doch gestern zum erstenmal gehört, und es ist auch gar kein leichtes Wort.“

Nun, an ihren gestrigen Schrecken denkend, geriet Minnichen auch in Eifer, und sie erzählte: „Bös Bambula Poppelsen von Minnisen aufdefeßt – so ...“ Und die Kleine sperrte ihr Mündchen auf, so weit sie nur konnte, und auf Tante Toni sich stürzend, machte sie „Happ, happ!“ als wollte sie diese verschlingen. Dann erzählte sie weiter, ihre Worte mit sehr ausdrucksvollen Gebärden begleitend: „Und Minnisen hat weint, so: ‚Hiehiehie!‘ Dann hat Bambula bockelt, so: ‚Bröh – bröhx‘, und da war Poppelsen widder da. Aber Minnisen hat sehr sankt Bambula, so ...“ Und Minnichen riß die Äugelchen weit auf, machte ein bitterböses Gesicht und drohte mit dem Fingerchen.

„Huh“, machte Tante Toni zurückfahrend, „da war der Bambula aber sicher sehr bang, wie er dein strenges Gesicht gesehen hat?“

„Ja“, antwortete Leo für sein Schwesterchen, „wir haben ihm gesagt, er dürfe nicht mehr zu uns auf Besuch kommen sonst würde er einfach nausgeschmissen!“

„Nausmissen“, bekräftigte Minnichen mit energischem Kopfnicken.

Den Nachmittag dieses Tages brachte Tante Toni am Bettchen ihres Patenkindes zu.

„Tante, ich muß dir etwas sagen“, flüsterte klein Toni ernsthaft, ein wenig zögernd.

„Was denn, mein Liebling?“

„Ich bin wieder mal sehr zornig und sehr böse gewesen.“

„O Tonichen, wirklich? Das tut mir aber leid. Dir gewiß auch?“

„Ich weiß nicht recht, Tante. Es tut mir schon leid, daß ich so zornig war, weil das den lieben Gott beleidigt; aber ich bin noch immer bös, sehr bös auf Otto!“

„Ach, ist es das? Anna hat dir wohl erzählt?“

„Ja, Tante. Und wie du geweint und dich gesorgt hast, und daß der Otto nicht einmal gezankt worden ist. Und da hab' ich gewünscht, der liebe Gott möchte ihn selbst recht tüchtig strafen.“

„O nein, Tonichen, nein, das sollst du nicht! Wir wollen lieber beten für ihn, damit er sein Unrecht einsieht, dann wird es ihm sicher selbst sehr leid tun. O Tonichen, das war ein häßlicher Wunsch; einen solchen darf meine kleine Freundin nie mehr haben!“

„Aber Tante, er war doch so bös gegen dich, der Otto, und du bist so lieb und gut! Nein, ich mag ihn gar nicht mehr, den bösen, garstigen Buben!“

„Du kränkst mich, Tonichen, wenn du so sprichst!“

„O Tante, ich will dich nicht kränken, und es ist ja, weil ich dich so sehr lieb hab' ...“ Und schluchzend schlang klein Tonichen ihre Ärmchen um den Hals der Tante.

„Ich weiß es ja, mein Liebling, ich weiß es ja“, suchte die Tante das weinende Kind zu beruhigen. „Und weil du die Tante Toni so lieb hast und ihr eine ganz besondere Freude machen willst, wirst du diesen Abend beim Abendgebet ein Vaterunser für unsern lieben, armen Otto beten. Willst du?“

Tonichen nickte unter Tränen lächelnd.

„Und nun liege recht still und ruhig, sonst mußt du wieder so stark husten. Ich erzähle dir auch. Was möchtest du gerne hören?“

„O bitte, Tante, erzähle mir noch einmal die Geschichte von dem kleinen Johannes, den niemand lieb hatte und der in der Weihnachtsnacht gestorben ist, gerade nachdem er den lieben Heiland empfangen hatte.“

Und Tante Toni erzählte, während klein Toni begierig lauschte.

„O wie schön!“ seufzte sie am Schluß der Erzählung. „Ich möchte auch sterben wie der kleine Johannes, gleich nach meiner ersten heiligen Kommunion.“

Später kam auch Tonis Mutter und setzte sich an ihr Bettchen; da strahlte ihr Gesichtchen vor Freude, und sie sagte: „Jetzt bin ich so froh, so froh, weil ihr alle beide bei mir seid; bleibt nur recht lange hier!“

„Ja, recht lange“, wiederholte die Mutter leise, und sie blickte voll Liebe und Besorgnis in das blasse Gesicht ihres Töchterchens, und so oft dieses hustete, ging es wie ein Stich durchs Herz der Mutter; klein Toni merkte das, und sie gab sich von nun an alle Mühe, ihren Husten zurückzuhalten.

Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als auf einmal Paul hereinkam und rief: „Tante Toni, komm doch schnell einmal herunter! Der Otto ist da und fragt nach dir, und er sieht ganz verstört aus, aber er will mir nicht sagen, was er hat.“

Sofort eilte Tante Toni hinunter, und als sie ins Zimmer trat, da stürzte Otto wie verzweifelt auf sie zu und schrie: „Tante, Tante, hilf mir, ich bitte dich, hilf mir! Ich weiß nicht mehr, was ich anfangen soll!“

„Um Gottes willen, Otto, was ist denn geschehen? Ist deinem Vater etwas zugestoßen? So sprich doch!“

Nun brach Otto in krampfhaftes Schluchzen aus, dazwischen stammelte und stieß er einige Sätze und Wörter hervor, wovon die Tante aber nur verstand, sein Vater müsse ins Gefängnis, und er, Otto, sei schuld daran.

„Das kann ja gar nicht sein!“ rief die Tante aus. „Komm, nun setz' dich her zu mir und versuche ruhiger zu werden, dann erzählst du mir ganz genau, was vorgefallen ist.“

Aber es dauerte noch einige Zeit, ehe Otto ordentlich sprechen konnte, und er schluchzte noch häufig auf, während er erzählte: „Ich saß vorhin an meinem Studierpult in Vaters Zimmer, und Papa stand vor seinem Schreibtisch, wo er Papiere durchsah; er hatte sie aus dem eisernen Schrank genommen, der in der Ecke steht und wo er alle wichtigen Papiere und das Geld drin aufhebt; du kennst ihn ja, Tante.“

„Ja, gewiß – es waren also jedenfalls sehr wichtige Papiere, die er vor sich hatte.“

Otto nickte und fuhr fort: „Auf einmal kam Lina herein und sagte, Papa möge doch schnell einmal hinunterkommen, der Herr Dorr sei da und der habe es sehr eilig. Papa wollte die Papiere erst wieder in den Geldschrank legen, der war aber schon zugeschlossen, und so legte er nur einen Beschwerstein darauf und sagte zu mir, er käme sofort zurück, er hätte nur einen Augenblick mit Herrn Dorr zu sprechen, und ich solle inzwischen auf die Papiere achten, denn sie seien sehr, sehr wichtig, ich solle mich aber nicht unterstehen, sie anzurühren. Dann ging Papa hinaus, und er ließ die Türe offenstehen.“ Nun fing Otto wieder an zu weinen.

„Und jetzt hast du die Papiere doch angerührt, Otto?“

„Zuerst nicht, Tante! Ich wollte ja dem Papa gehorchen; wie er aber dann so lange ausblieb, da mußte ich immer wieder nach den Papieren hinsehen, und ich hätte doch so gerne gewußt, was es für Papiere wären, und – da nahm ich den Stein ab. O hätt' ich es nicht getan! – Im selben Augenblick hörte ich im Garten draußen einen lauten Schrei, ich lief schnell ans Fenster, um zu sehen, was es gäbe, und ich muß wohl in der Eile vergessen haben, den Stein wieder auf die Papiere zu legen. Ich riß das Fenster auf, um hinauszusehen, aber im selben Augenblicke entstand Zugluft, und alle Papiere flogen im Zimmer herum und mehrere sogar zum Fenster hinaus. Ich stürzte sofort hinunter, um sie wieder zusammenzusuchen. Die alte Babett, die gerade unten war, hatte schon einige aufgehoben, und sie half mir suchen, bis wir keins mehr fanden. Als ich wieder hinaufkam, da war Papa inzwischen zurückgekommen, und er hatte die Papiere, die im Zimmer herumgeflogen waren, schon aufgelesen. Ach, Tante, ich möchte, er hätte mich recht gezankt, ja ich möchte, er hätte mich sogar geschlagen, ich hab's verdient; aber er hat gar nichts gesagt, er hat mich nur einmal angeschaut – o Tante, ich kann dir nicht sagen, wie! Dann hat er gleich die Papiere nachgesehen, und es hat eins gefehlt! Tante, denke dir, gerade das allerwichtigste – das, welches er morgen beim Gerichte unbedingt braucht! Und dann haben wir im Hause und im Garten alles, alles durchsucht, aber wir haben nichts gefunden. Ach, Tante, und dann hat sich der Papa an seinen Schreibtisch gesetzt und ist, mit den Händen vor dem Gesicht, lange sitzen geblieben, ohne sich zu rühren, bis ich's nicht mehr aushalten konnte und ihn gebeten habe, er möge mir doch verzeihen! Da hat er mich wieder angesehen, noch weher wie vorhin, und hat gesagt: ‚Ich hab' dir schon verziehen, aber an diesem Papier hing mehr als mein Leben – an ihm hing meine Ehre.‘ Und nun sitzt er immer noch am selben Platz, ganz still und, Tante, du kannst dir nicht denken, wie er aussieht, ganz anders wie sonst, viel älter! O komm doch mit zu ihm! Ich hab' ihm gesagt, ich ginge dich holen, da hat er genickt. Komm, Tante, hilf uns!“

„Ja, Otto, schnell zurück zu deinem Vater!“ Die Tante nahm sich kaum die Zeit, ihren Hut aufzusetzen, und als sie wenige Minuten später in das Zimmer ihres Bruders kam, fand sie diesen genau so, wie Otto gesagt hatte. Er nickte seiner Schwester zu, und als diese, ihn fest umschlingend, sagte: „Mut, Robert, ich werde nochmal suchen, ich muß es finden“, da schüttelte er den Kopf und sagte: „Such' nur, aber es wird umsonst sein, ich habe überall nachgesehen.“

Sie begann sofort zu suchen, jedes Eckchen genau zu durchforschen, aber umsonst, das Papier blieb verschwunden. Otto brach aufs neue in Tränen aus. „O, was hab' ich getan, was hab' ich getan!“ jammerte er und wollte sich auf die Erde niederwerfen, aber Tante Toni faßte ihn bei der Hand und zog ihn aus dem Zimmer, denn sie sah, daß ihrem Bruder etwas Ruhe und Stille nottat. An der Treppe stießen sie auf Lilly, die ganz blaß und verstört aussah; sie sah ihren Bruder scheu und ängstlich an, und sich an die Tante hindrängend fragte sie leise: „Hat Otto etwas sehr Schlimmes getan?“ Die Tante antwortete eilig: „Er war sehr ungehorsam, aber du siehst ja, wie leid es ihm tut, und deshalb wird auch gewiß alles gut werden. Sei du nur ruhig und bete zu deinem und deines Bruders Schutzengel.“ Dann folgte sie Otto, der schon in sein Schlafzimmer gegangen war.

Otto hatte sich auf sein Bett geworfen und er schluchzte herzbrechend. Plötzlich richtete er sich auf und rief aus: „Tante, weißt du noch, gestern, wie du gesagt hast, ich wüßte noch nicht, wie es tut? Jetzt weiß ich's, o ja, jetzt weiß ich's! O Tante, es ist zu schrecklich, diese Angst! O wär' ich doch lieber gestorben! Ich kann's ja nicht mehr aushalten!“

Und wie verzweifelt wälzte er sich auf dem Boden. Tante Toni kniete neben ihm nieder, und sie versuchte ihn aufzurichten, während sie mit sanftem Vorwurf sagte: „Otto, so darfst du nicht reden; du fügst noch neues Unrecht zum andern. Komm, laß uns zusammen beten; das ist das einzige, was uns helfen und erleichtern kann.“

„Beten? Ach nein; beten, das kann ich nicht! Der liebe Gott will doch gewiß nichts mehr von mir wissen, ich bin viel zu bös! Jetzt weiß ich, wie bös ich immer war, wie ich den armen Rudi nicht leiden konnte und wie ich ihn so viel geärgert und zornig gemacht habe, und er ist auch sehr oft wegen mir gezankt und gestraft worden. Und auch gegen die andern, sogar gegen Lilly war ich oft recht garstig, und gestern gegen dich, Tante Toni; ich war ja so bös auf dich, weil der Rudi mitgehen durfte und weil du ihn gegen mich in Schutz nahmst, und ich wollte mich rächen, deshalb hab' ich dir so Angst gemacht; aber ich wußte nicht, nein, Tante, ich wußte wirklich nicht, wie das ist! O Tante Toni, und jetzt bist du doch wieder so gut zu mir!“

„Ja, Otto – ach, ich möchte dir so gerne aus deiner Not helfen! Aber hier kann jetzt nur noch der liebe Gott helfen – komm, laß uns beten. Er ist ja so gern bereit, dir zu verzeihen!“

„Nein, Tante Toni, der liebe Gott kann mir noch nicht verzeihen; er weiß, wie falsch ich war und wie ich dem Papa immer alles verkehrt erzählt habe und auch wieder gestern. O, gestern hab' ich ihm auch noch lang nicht alles gesagt, wie es war – und jetzt! Ich möcht' es ihm ja sagen, aber dann wird er noch trauriger sein, und doch – ich kann doch nicht recht beten, solang ich's ihm nicht gesagt habe! O Tante, sag' mir doch, was ich tun soll!“

Tante Toni überlegte ein Weilchen, dann sagte sie: „Ich hätte deinem Vater gern jeden weiteren Schmerz erspart, und doch glaube ich, daß du recht hast und deiner Regung folgen sollst. Es ist immer besser, den Weg der Wahrheit zu gehen, und dein offenes Geständnis ist deinem Vater ja ein Beweis, daß du dich ernstlich bessern willst, und wird sein bester Trost in allem Leide sein.“

„Soll ich denn jetzt gleich hinuntergehen?“

„Gewiß! Die Ausführung eines solchen Entschlusses soll man niemals verschieben.“

„Dann komm, Tante, geh' mit mir.“

„Nein, Kind, das mußt du mit deinem Vater allein ausmachen. Ich warte hier auf dich und bete unterdessen.“

Mit klopfendem Herzen ging Otto wieder hinunter zu seinem Vater. Er fand diesen noch immer in derselben Stellung an seinem Schreibtisch und so tief in Nachdenken versunken, daß er seines Sohnes Eintritt gar nicht bemerkte.

„Vater!“ sagte dieser leise bittend.

Herr Mehring blickte auf. Er machte erst eine ungeduldige Bewegung, aber den flehenden Ausdruck in Ottos Antlitz bemerkend, fragte er ernst, aber gütig: „Hast du mir noch etwas zu sagen, mein lieber Sohn?“

Und nun fing Otto an zu bekennen. Erst langsam und zögernd, dann aber ging es immer leichter, und er machte ein offenes und freimütiges Bekenntnis der gestrigen Begebnisse sowie überhaupt all seiner Schuld, so wie er sie in dieser schweren Stunde erkannt hatte. Der Vater hörte stillschweigend zu – manchmal kam es Otto vor, als ob er leise seufze, aber als er dann stockte und nicht mehr recht weiterkonnte, da blickte der Vater ihn ermunternd an und sagte: „Sprich nur weiter; habe Mut und sage alles.“

Und Otto sagte alles, und zum Schluß kniete er nieder, und den Kopf auf des Vaters Knie legend fügte er hinzu: „Vater, lieber Vater, du sollst sehen, ich werde nun anders werden – ich verspreche es dir und dem lieben Gott. O könnt' ich doch nur – könnt' ich alles wieder gutmachen! O mein lieber, guter Vater!“

Der Vater legte die Hand auf des Sohnes Haupt. „Ich danke dir, Kind, für dein offenes Bekenntnis. Es ist ja gewiß sehr schmerzlich für mich, zu erfahren, wie sehr ich mich in dir getäuscht habe – aber dein Mut und deine Offenheit bürgen mir für deine jetzigen guten Gesinnungen und auch für die Zukunft. Glaube mir, mein Sohn, ich will gern diese Prüfung tragen, ich will sie sogar segnen, wenn sie dazu dienen soll, aus dir einen guten, offenen und pflichttreuen Menschen zu machen. Und nun geh' zur Ruhe, mein liebes Kind – lege dich schlafen.“

„O Papa, wie könnt' ich denn schlafen!“

„Warum solltest du denn nicht schlafen können, jetzt mit deinem erleichterten Gewissen – und besonders wenn du es aus Gehorsam versuchst? Gute Nacht, mein lieber Sohn – Gott segne dich!“ Und der Vater küßte den Sohn auf die Stirne.

Dann ging Otto hinauf, und nun konnte er mit Tante Toni beten, so recht von Herzen und mit Vertrauen.

Nach dem Gebete sagte Tante Toni:

„Nun leg' dich zu Bett, mein lieber Bub, und schlafe; du kannst nun ruhig alles dem lieben Gott überlassen.“

„O Tante, gehst du fort, gehst du wieder hinüber zu Wulffs?“

„Nein, nein, ich bleibe hier; ich will hinübertelefonieren, damit man drüben nicht auf mich wartet. Ich komme hernach noch einmal nach dir sehen.“

Als Tante Toni das Zimmer verlassen hatte, legte Otto sich gehorsam zu Bett, und er schloß die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Immer und immer wieder mußte er an das Papier denken, an das schreckliche Papier. „Ach, wüßt' ich doch nur, was das für ein Papier ist, von dem so viel abhängen kann!“ Wie hatte der Vater gesagt? „Mehr als mein Leben – meine Ehre!“ Und nun kam es wieder, das Schreckgespenst – das Gefängnis! – Sein lieber, edler Vater unschuldig im Gefängnis, durch seine, des eigenen Sohnes Schuld! – Nein, das war gar nicht auszudenken – das konnte er nicht ertragen. „Ach, hätt' ich doch gefolgt“, stöhnte er, „hätt' ich doch den Stein und die Papiere nicht angerührt – so wäre das alles nicht passiert!“ Und Otto weinte in sein Kissen hinein, und dann betete er wieder: „Ach, lieber Gott, hilf doch! Ich bitte dich, hilf – ich will ja auch ein ganz anderer Bub werden, ich versprech' es dir – o hilf uns doch, lieber, allmächtiger Gott!“

Nach diesem Gebet fühlte er sich ein wenig ruhiger, aber schlafen konnte er doch nicht, er mußte wieder an seinen lieben Vater denken – ob er nun wohl noch immer unten an seinem Schreibtisch saß, so still, so niedergebeugt? O was hatte er ihm doch angetan, diesem seinem guten Vater! Wenn er doch wenigstens etwas für ihn tun könnte, wenn er doch wüßte, ob der Vater noch immer so hoffnungslos ist! – Tante Toni, wo bleibst du so lang? Es ist Otto, als müsse er ersticken unter der Last, die ihm auf dem Herzen liegt – er kann's nicht mehr ertragen – er richtet sich auf in seinem Bett – ist er denn ganz allein? Kommt niemand ihm helfen, ihn trösten? O Tante, Tante Toni, komm' doch!

Hatte er es laut gerufen? Er wußte es selbst nicht – aber Tante Toni kam, und er streckte ihr wie um Hilfe flehend die Arme entgegen, er hing sich an ihren Hals und rief schluchzend:

„O mein Vater, mein lieber, armer Vater, was wird ihm geschehen? Ach, Tante, sag' mir doch, was kann man ihm denn antun? Wird er nun wirklich ins – ins Gefängnis kommen!“

Da war es heraus, das schreckliche Wort! Es schauderte Otto, während er es aussprach.

„Nein, nein“, beschwichtigte ihn Tante Toni, „davon ist keine Rede.“

„Wie! Kann er denn doch noch seine Unschuld beweisen?“ Otto jubelte beinah' auf, aber Tante Toni schüttelte traurig den Kopf.

„Du bist noch zu jung, Otto“, sagte sie; „ich kann dir die Sache nicht genau erklären. Es gibt unehrenhafte Handlungen, für die man nicht ins Gefängnis kommt, aber der sie begangen hat, steht deshalb doch entehrt, gebrandmarkt vor der ganzen Menschheit da. Deinem Vater wirft man vor, das Vertrauen anderer mißbraucht und zu seinem eigenen Vorteil ausgebeutet zu haben – und obwohl es keinen redlicheren, selbstloseren Menschen geben kann wie ihn, so haben sich doch Leute gefunden, die solchen Anschuldigungen Glauben schenken. Gerade in der letzten Zeit sind seine Gegner besonders kühn aufgetreten, weil derjenige, der für deinen Vater hätte zeugen können, gestorben ist. Sie wußten nicht, daß er ein Schriftstück hinterlassen hat, welches nicht nur alle Verdächtigungen zunichte macht, sondern auch ein helles Licht auf die lautere Gesinnung und edle Handlungsweise deines Vaters wirft. Dieses Schriftstück nun ist es, welches dein Vater, als er vor einigen Tagen so plötzlich verreiste, als wichtigstes Beweisstück herbeigeholt hat und das nun verschwunden ist. Dieses Schriftstück, morgen in der öffentlichen Gerichtsverhandlung vorgelesen, hätte ihn vor allen Menschen gerechtfertigt, hätte seinen Verleumdern eine große Niederlage bereitet – und nun ist es verschwunden, und es ist nicht zu ersetzen. Aber trotzdem wollen wir hoffen, daß die Verhandlung morgen zu deines Vaters Gunsten ausfällt. Die guten Menschen wenigstens werden an ihn glauben. Und nun, liebes Kind, lege dich hin und schlafe. Wir können nichts mehr tun, als die Sache dem lieben Gott überlassen.“

Tante Toni blieb noch an Ottos Bett sitzen, bis er eingeschlafen war. Erst als sie sich überzeugt hatte, daß er wirklich schlief, stand sie leise auf und ging hinunter. Auf der Treppe aber blieb sie lauschend stehen; war es ihr doch, als hätte sie leises Weinen gehört. Richtig, es kam aus Lillys Zimmer! Rasch kehrte die Tante zurück, und sie fand wirklich die arme kleine Lilly bitterlich schluchzend in ihrem Bettchen.

„Aber was hast du denn, Lillchen? Was fehlt dir?“

Die Kleine konnte kaum antworten vor Schluchzen: „Der Papa ist nicht – an mein Bett gekommen – um mir ‚Gute Nacht‘ zu sagen – und es hat niemand mit mir gebetet – und ich hab' gehört, wie der Otto hier neben geweint hat – und ich war ganz allein – und ich bin so traurig – und ...“ Und Lilly brach von neuem in bitterliches Weinen aus.

Tante Toni nahm das Kind auf den Schoß, tröstete es, wiegte es in den Armen wie ein ganz Kleines, und als Lilly etwas ruhiger geworden war, fragte sie: „Wollen wir nun das Abendgebet zusammen beten?“

Lilly nickte, und sich an die Tante anschmiegend, faltete sie die Händchen. Nach dem Gebet ließ sie sich auch gehorsam wieder ins Bettchen legen, aber als Tante Toni sich neben sie setzte mit dem Versprechen, bei ihr zu bleiben, bis sie schliefe, da schüttelte Lilly traurig das Köpfchen: „Wenn der Papa nicht erst zu mir kommt, dann kann ich doch nicht schlafen.“

Da ging Tante Toni hinunter, und sie sagte: „Lilly kann nicht schlafen, weil Papa ihr nicht ‚Gute Nacht‘ gesagt hat. Klein Lilly hat ihren Vater so lieb.“

Da hob der gebeugte Mann das Haupt, und es ging wie ein heller Schein über sein Gesicht – aber gleich zuckte es darin wieder wie tiefes Weh, und er sagte:

„Arme kleine Lilly, arme Kinderchen – es ist ja für sie, daß ich meinen Namen rein und unbefleckt erhalten möchte.“

Dann ging er hinauf und nahm Tante Tonis Platz an Lillys Bettchen ein. Obwohl er sein Töchterchen anlächelte, sah dieses doch, daß er Kummer hatte. Es küßte des Vaters Hand und streichelte sie zärtlich.

„Sei nicht traurig, Papa – ich hab' dich ja so lieb, so lieb! – Ich will auch ein recht braves Kind werden – ich hab' es der Tante Toni schon versprochen. Die Tante Toni hab' ich auch sehr lieb....“

„Das sollst du auch, mein Kindchen; und nun mußt du schlafen. Gute Nacht, mein Töchterchen!“

„Gute Nacht, lieber Papa – lieber – guter – Papa!“ Und leise, leise fielen Lillys müdgeweinte Äuglein zu; sie schluchzte noch einmal auf, wie Kinder oft nach heftigem Weinen tun, und dann schlief sie sanft und fest ein.

Bald darauf war alles im Hause still, nur Herr Mehring und seine Schwester waren noch auf, sie saßen beisammen im Arbeitszimmer. Herr Mehring saß am Schreibtisch und schrieb Notizen auf; Tante Toni saß etwas abseits, sie hielt die Hände auf den Knien gefaltet, und sie lauschte dem Wind, der an den Fensterläden rüttelte. Als Herr Mehring von seiner Arbeit aufschaute, begegnete er dem sorgenvollen, fragenden Blick seiner Schwester. Er sagte mit einem schmerzlichen Seufzer: „Wenn ich wenigstens noch etwas Zeit vor mir hätte – dann könnte ich vielleicht noch einige Zeugnisse herbeischaffen – aber bis morgen ist es unmöglich. O Toni, ich sehe der Verhandlung mit schweren Besorgnissen entgegen. Ich war meiner Sache so sicher – und nun ...“ Der schwergeprüfte Mann ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Tante Tonis Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihren sonst so tatkräftigen, mutigen Bruder jetzt so niedergebeugt sah. „Verzage doch nicht, Robert“, sagte sie, „der liebe Gott läßt dich nicht im Stich.“

Herr Mehring lächelte wehmütig.

„Aber der liebe Gott wird wohl kaum ein Wunder für mich tun.“

„Und warum nicht, du Kleingläubiger?“ rief Tante Toni eifrig aus. „Was ist denn ein Wunder für ihn, den Allmächtigen! Aber Gott kann auch helfen ohne Wunder. Er ist ja allweise, und wir sind arme, kurzsichtige Menschenkinder, wir sorgen und quälen uns ab, statt ganz auf ihn zu vertrauen!“

„Du hast recht, Toni, liebe Schwester, Gott kann alles zum Guten wenden, und ist es sein Wille, daß ich morgen vor den Menschen gedemütigt und in den Staub gezogen werde, so geschehe sein heiliger Wille; er wird mir's tragen helfen.“

Dann herrschte wieder Stille und Schweigen im Zimmer. Draußen aber war der Wind zum Sturm geworden. Der wütete im Garten, schüttelte und beugte die Bäume und peitschte den Regen gegen die Fenster, daß es prasselte.

„Welch ein Wetter!“ sagte Tante Toni halblaut, als eben ein besonders heftiger Windstoß einherfuhr, als ob er alles mit sich fortreißen wollte. Plötzlich fuhr sie zusammen, und auch Herr Mehring sprang von seinem Stuhl auf. Laut und schrill tönte es durchs Haus – die Türglocke.

„Was mag das sein? Wer mag so spät noch kommen?“

„Die Mädchen schlafen schon, ich werde selbst nachsehen“, sagte Herr Mehring; aber Tante Toni ging mit ihrem Bruder hinunter.

„Wer ist da?“ fragte dieser, ehe er die Haustüre öffnete.

„Ich bin's, Herr, ich, der Christian“, tönte es von draußen.

„Wie, Christian, Sie kommen noch so spät und bei diesem Wetter?“ rief Herr Mehring, die Tür öffnend. „Was gibt es denn?“

„Huh, ja, das is e Wetter!“ sagte Christian eintretend und sich die Füße abputzend, während ihm das Wasser von Hut und Mantel niederrann. „Und ich muß recht um Entschuldigung bitten, daß ich Ihne noch so spät stör, Herr Mehring, aber sehn Se, die alt Babett hat mer ja kei Ruh gelassen, sie hat sich's halt in ihrn eigensinnige Kopp neingesetzt gehabt, Sie müßte das Papier da, wo se in ihrm Korb gefunde hat, wie se diesen Abend heimkomme is, noch heut zurückkriege, und wenn emal die Babett sich was in ihrn alte Kopp gesetzt hat ... Aber um Gottes wille, Herr Mehring, was is Ihne dann? Was hab' ich denn jetzt angestellt!“

Herr Mehring hatte nämlich dem Alten, während dieser sprach, das Papier aus der Hand genommen, und kaum hatte er einen Blick hineingeworfen, da hatte er einen Schrei ausgestoßen und war zurückgetaumelt.

„Was ist dir, Robert, was ist?“ rief Tante Toni erschrocken aus. Herr Mehring legte den Arm um sie, und den Kopf an ihre Schulter lehnend, sagte er mit von Tränen erstickter Stimme: „O Toni, der liebe Gott hat geholfen, ohne ein Wunder zu brauchen – es ist das Schriftstück!“

„Gott sei Dank, Gott sei Dank!“ rief Tante Toni lachend und weinend zugleich. „Siehst du, ich wußt' es ja, daß der liebe Gott uns nicht im Stich lassen würde!“

„Die alt Babett hat am End doch recht gehabt“, dachte der Christian, und er kratzte sich hinter dem Ohr, was er gewöhnlich tat, wenn er verlegen oder nachdenklich war. Aber man ließ ihm nicht viel Zeit zum Nachdenken; Herr Mehring und seine Schwester nötigten ihn ins Zimmer, und während Tante Toni ihm ein Glas Wein einschenkte, sagte Herr Mehring:

„Aber nun, Christian, sagen Sie mir doch, wie Sie, oder vielmehr wie Babett zu diesem Papier kommt!“

„Ja sehn Se, Herr, des war halt so: Die Babett is ja diesen Nachmittag hier gewese, um den Lappekorb abzuhole, wie se's halt immer zweimal im Monat tut. Wie se nun mit ihrm Korb fortgehn wollt, da is se da im Garte, grad vorm Haus ausgerutscht und wär beinah hingefalle, und sie hat in ihrm Schrecke laut geschriee – da is obe e Fenster aufgerisse worde und es sind allerhand Papiere rausgefloge, und gleich drauf is der Herr Otto gelaufe komme, um die Papiere wieder aufzulese, und wie em die Babett dabei geholfe hat, da hat er gesagt, sie sollt nur recht achtgebe, denn es wärn gar wichtige Papiere. Aber die Babett hat gar nit gemerkt, daß eins von dene Papiere in ihrn Korb gefalle is, und des hat se erst gefunde, wie se vorm Schlafegehn ihrn Korb ausgeleert hat, und da hat se mich gerufe; ich hab aber schon mit eim Aug geschlafe, und wie ich halt nit gleich raus gewollt hab, da hat se angefange und hat auf mei Tür gekloppt mit ihre zwei Fäust, und die sin noch recht kräftig für so e alte Frau, denn sie hat Ihne en Spekeltakel aufgeführt, wie wann se die ganz Stadt hätt aufwecke wolle. Und wie ich ihr dann zugeredt hab und gesagt, des tät sich doch nit schicke, daß ich jetzt wege so eme lumpige Papier die Leut noch aus em Schlaf störe sollt, da hat se immer wieder gesagt, des wär e wichtig Papier, der Herr Otto wär ganz blaß gewese, wie er runtergelaufe wär, und des Papier müßt diesen Abend noch zu Ihne gebracht werde, und wenn ich nit gehn wollt, dann tät sie halt selber gehn. No so bin ich halt komme, und wenn Se erlaube, Herr Mehring, so trink ich jetzt auf Ihr Wohl und aufs Wohl vom Fräule Toniche.“

Er leerte sein Glas, stellte es auf den Tisch und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. Er machte große Augen, als Herr Mehring ihm so herzlich dankte und ihm erklärte, welch großen Dienst er ihm durch Überbringung des Schriftstückes geleistet hatte.

„Na, da freu' ich mich aber!“ rief er beim Abschiednehmen, „und morge, da werd' ich auch dabei sein, um die Gesichter von dene miserable Lügner zu sehn. Na, aber so was! Wenn ich noch dran denk, was Sie für e lieber, wilder Bub warn, früher, wie ich noch Gärtner bei Ihne Ihre Eltern war, Herr Robert, und wie Sie mal von der Frau Mama eine übergezoge kriegt habe, weil Se mer in mei frischgepflanzte Beete gesprunge sin!“ Und im Fortgehen murmelte er vor sich hin: „Ja, ja, wenn mer halt noch emal jung sein könnt!“

Als Otto am andern Morgen aufwachte, fiel sein erster Blick auf Tante Toni, die schon an seinem Bette saß. Er war erst ganz erstaunt und rieb sich die Augen, aber gleich legte es sich wieder wie eine Zentnerlast auf sein Herz. Wie hatte er nur so gut schlafen können nach dem, was gestern passiert war?

„O Tante!“ rief er aus, „Tante, es ist ja heute – heute ...!“

Aber die Tante lächelte und sagte mit bewegter Stimme: „Otto, knie dich gleich nieder und danke dem lieben Gott aus ganzem Herzen.“

„Das Papier, Tante, das Papier – ist gefunden?“

Die Tante nickte. „Erst beten, Otto, dann erzähl' ich dir.“

Ein warmes, aufrichtiges Dankgebet stieg aus des Knaben Herzen zum Himmel hinauf, dann aber lauschte Otto gespannt dem Bericht der Tante.

„Die gute Babett!“ rief er am Schluß der Erzählung aus. „Heute noch gehen wir zu ihr, gelt, Tante! Ich will sie jetzt gerne um Verzeihung bitten wegen neulich – du weißt ja, Tante –, und die Lilly nehmen wir auch mit. O Tante, es schaudert mich, wenn ich daran denke, wie leicht Babett das Papier hätte verlieren oder als wertlos zerreißen können; oder wenn sie es gar nicht bemerkt hätte, dann wäre es mit all ihren andern Lappen zusammen in den Sack des Lumpensammlers gekommen!“

„Das hätte allerdings sehr leicht geschehen können; aber der liebe Gott hat unser Gebet erhört, und er hat es nicht zugelassen.“

„Ach, Tante, wenn ich doch nur heute nicht in die Schule gehen müßte! Ich werde doch nicht achtgeben können, ich muß ja doch immer an Papa denken. Nicht wahr, jetzt muß es doch gut für ihn ausgehen?“

„Gewiß, Kind, du kannst ganz ruhig sein, und du mußt dir alle Mühe geben, heute in der Schule ganz besonders aufmerksam zu sein. Du mußt sofort beginnen, die guten Vorsätze, die du gestern gefaßt hast, auszuführen; nur nicht gleich anfangen zu verschieben, denn dann wird nichts daraus.“

Das war ein denkwürdiger Tag; Otto vergaß ihn nie mehr in seinem Leben. Als er von der Schule heimkam, fand er Haus und Garten voller Menschen. Sein Vater stand oben auf dem Balkon, umgeben von seinen Schwägern und einigen Freunden, und er richtete von dort aus einige warme Dankesworte an alle, die gekommen waren, um ihn zu beglückwünschen und ihm ihre Teilnahme zu bezeigen.

„Unser Mehring soll leben – hoch, hoch, hoch!“ so riefen alle Anwesenden, und am lautesten schrie der alte Christian. Der kam sich überhaupt gar wichtig vor; Herr Mehring hatte ihm vor allen Zuschauern die Hand geschüttelt, und er sah sich nun bald von Neugierigen umringt, die ihn über den Verlauf der Gerichtsverhandlung ausfragten; denn Christian hatte derselben von Anfang bis zum Schluß beigewohnt, und er ließ sich auch nicht lange bitten, es machte ihm selbst ja ein großes Vergnügen zu erzählen, wie alles so prächtig gegangen, wie die Verleumder in die Enge getrieben worden seien und was sie für verdutzte und wütende Gesichter gemacht, als das Schriftstück verlesen wurde, von dessen Vorhandensein sie gar keine Ahnung gehabt hatten und welches auf Herrn Mehrings Charakter und Handlungsweise ein so helles Licht warf.

Ottos Herz hüpfte ordentlich vor Freude. Er war so stolz auf seinen lieben, herrlichen Vater, und als ein alter Mann ihm auf die Schulter klopfte und ausrief: „Bub, Männer wie dein Vater sind ein Segen fürs Volk und fürs Vaterland; sieh zu, daß du ihm nacheiferst!“ da streckte Otto diesem die Hand hin und sagte: „Das will ich – hier meine Hand drauf!“

Am Abend, als alle Gäste fort waren, rief Herr Mehring seinen Sohn zu sich. Er sah ihn eine Zeitlang ernst und forschend an; endlich sagte er:

„Otto, ich möchte, daß du mir das Versprechen, welches du mir gestern in der Not und in der Angst gegeben hast, heute frei von diesen Gefühlen und wohlbedacht erneuerst. Ist es dir wirklich Ernst mit deinem Vorsatz?“

Otto sah seinem Vater freimütig in die Augen:

„Ja, Vater, es ist mir Ernst, und ich will tun, was mir möglich ist, um dir Freude zu machen.“

„Gott segne dich, mein Sohn, und er helfe dir; denn es ist nicht so leicht, wie du dir's jetzt denkst. Die Erinnerung an die eben überstandene schwere Prüfung wird sich mit der Zeit abschwächen, du wirst schwache Stunden haben und vielleicht manchmal in die alten Fehler zurückfallen. Laß dich dadurch nur ja nicht entmutigen, sondern bleibe beharrlich; es wird, es muß gehen mit Gottes Hilfe.“

Otto bemühte sich redlich, sein Versprechen zu halten. Er nahm es nun auch sehr ernst mit der Vorbereitung auf die erste heilige Kommunion, und Lilly konnte sich gar nicht genug wundern über diese Umwandlung ihres Bruders.

„Du bist ja auf einmal ganz anders geworden wie früher“, sagte sie, ihn mit großen, verwunderten Augen ansehend. „Du bist gar nicht mehr grob, du neckst und ärgerst mich nicht mehr, und du hast dem Rudi sogar deinen Drachen geschenkt.“

Nach einigem Nachdenken fügte sie hinzu: „Muß ich auch so brav werden nächstes Jahr, wenn ich zur ersten heiligen Kommunion gehe?“

„Natürlich, Lilly, noch viel bräver, und deshalb tätest du gut daran, wenn du jetzt gleich anfingest etwas bräver zu werden. Du solltest dir zum Beispiel vornehmen, nie mehr zu lügen.“

„O, ich lüge ja gar nicht!“

„So? Ist das vielleicht nicht lügen, wenn man eine Wasserflasche zerbricht und hernach behauptet, man hätte sie gar nicht angerührt, und wenn man über ein Gitter klettert und sich dabei das Kleid zerreißt und man sagt, die andern Kinder hätten beim Spielen so gezerrt, daß das Kleid kaput gegangen sei? O Lilly, es ist so abscheulich, wenn man lügt!“

„O du, als ob du nie gelogen hättest!“ Und Lilly machte ein finsteres, trotziges Gesicht.

Otto wurde ganz rot und wollte zornig auffahren, aber er bezwang sich, und er sagte einfach: „Ja, ich weiß es, Lilly, ich hab' früher auch gelogen; aber jetzt schäm' ich mich darüber, und ich werde es nie, nie mehr tun. Komm, Lilly, willst du lieb sein und mir eine Freude machen? Dann versprich mir, daß du von nun an nie mehr lügst.“

„O du, versprechen! – Das muß ich mir erst noch überlegen. Ich bin ja auch noch kleiner und jünger wie du!“ Damit sprang Lilly davon. Sie fand es ja wohl sehr angenehm und bequem, einen so braven Bruder zu haben, der stets bereit war nachzugeben, der ihr bei den Aufgaben half; aber sich von ihm schulmeistern oder ermahnen zu lassen, das gefiel ihr nicht.

Otto schüttelte enttäuscht den Kopf. „Sie versteht es noch nicht“, tröstete er sich; „sie hat eben noch nicht so etwas Schreckliches durchgemacht wie ich!“

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