Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Tante Toni und ihre Bande
(Alberta von Brochow)

8. Kapitel
Klein Tonis Wunsch geht in Erfüllung!

Draußen war das schönste Wetter. Die Sonne schien, Vogelstimmen riefen und lockten, und doch mochte Tante Toni nicht mit ihrer kleinen Bande in den lieben, alten Spessart hinaufwandern – sie saß an klein Tonis Bettchen. Immer schmaler und blasser wurde das liebe Kindergesichtchen, und die blauen Augen blickten immer sehnsüchtiger und erwartungsvoller.

„Tante, was hast du gestern abend dem Otto erzählt?“ fragte die Kleine jeden Morgen, wenn Tante Toni zu ihr kam, und sie konnte nicht müde werden zuzuhören, wenn diese ihr vom lieben Heiland erzählte, der die Menschen so lieb hat, daß er die Gestalt des Brotes annimmt, um immer in ihrer Mitte zu sein und sich aufs innigste mit ihnen vereinigen zu können. Am liebsten hörte sie aber die Geschichte vom göttlichen Kinderfreund, der es nicht dulden wollte, daß die Apostel die Kinder fortschickten, und der ausrief: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“

„Ach, Tante, wär' ich doch eines von den kleinen Judenkindern gewesen – vielleicht hätte der liebe Heiland mich auch auf seine Knie genommen und hätte mich gesegnet!“ Und klein Tonis Augen erglänzten, als sie sich so lebhaft vorstellte, wie schön, wie herrlich es sein müßte, auf des Heilands Schoß zu sitzen und das Köpfchen an seine Brust zu lehnen.

Mit großer Geduld ertrug klein Toni es, so lange still im Bettchen liegen zu müssen. Der Husten und das Fieber quälten sie sehr, aber sie klagte nicht, sie seufzte nur manchmal, wenn das Rufen und Lachen ihrer Geschwister vom Garten zu ihr heraufklang.

Einmal aber hatte sie doch wieder einen ihrer früheren Zornanfälle – das war, als Lilly sie besuchen kam und sagte: „Du hast's gut, du kannst hier bequem in deinem Bett liegen und tun, was du willst, während wir andern in die Schule müssen.“

Tonichen hatte darauf erklärt: „Es ist viel schöner und lustiger, gesund zu sein und in die Schule zu gehen, als krank zu sein.“

Da hatte aber Lilly ein spöttisches Gesicht gemacht und lachend geantwortet: „Geh doch, Toni, mir machst du so leicht nichts vor! Wenn du so gern in die Schule gingest, wärst du sicher schon längst gesund – du stellst dich ein bißchen an.“

Toni hatte erst ganz verwundert dreingeschaut – sie konnte es ja gar nicht begreifen, daß man so etwas von ihr denken konnte –, dann war sie sehr böse geworden, und sie hatte geschrien:

„Nein, ich stelle mich nicht an – ich lüg' doch nicht!“ Und dann mußte sie sehr stark husten, und sie weinte dabei, so daß Lilly, die ja doch im Grunde die kleine Toni lieb hatte, ganz bestürzt sagte: „Komm, Tonichen, sei nicht mehr bös auf mich – ich glaub' dir's ja, daß du dich nicht anstellst, und ich sag's auch nie mehr.“

Die beiden Kinder hatten sich daraufhin wieder versöhnt, aber am Abend dieses Tages hustete klein Toni viel mehr und das Fieber war gestiegen – sie konnte keine Ruhe finden und weinte bittere Reuetränen, weil sie sich wieder von ihrem Zorn hatte hinreißen lassen. Als Tante Toni ihr „Gute Nacht“ sagen kam, klagte sie: „Ich kann gar nicht mehr so gut an den lieben Heiland denken – ich meine immer, er wäre nun unzufrieden mit mir und er würde mich jetzt nicht auf seinem Schoß haben wollen, wenn ich eins von den kleinen Judenkindern wäre.“

„O Tonichen, was denkst du denn vom lieben Heiland? Du hast ihn ja wohl gekränkt durch deinen Zorn – aber das hat er dir schon wieder verziehen; es hat dir ja gleich nachher so leid getan. Und jetzt bist du wieder sein kleiner Liebling. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie lieb dich der liebe Heiland hat. Er hat dich ja schon gekannt und dich geliebt damals, wie er für dich am Kreuz gestorben ist, und er hat eine ganz besondere Freude an dir, weil du ihm zuliebe so geduldig bist und dir so viel Mühe gibst, ein liebes, braves Kind zu sein.“

Solchen Worten hörte klein Toni gerne zu, und sie lag nun wieder still und getröstet in ihrem Bettchen. Sie klagte auch nicht, als sich am andern Tag ein quälendes Stechen in der Brust und in der Seite einstellte. Ihr armes Köpfchen war so weh und schwer, daß sie es kaum mehr vom Kissen erheben konnte.

„Es ist eine Lungenentzündung hinzugetreten“, sagte der Hausarzt, und er brachte noch einen zweiten Doktor mit – aber der hieß alles gut, was der gute alte Hausarzt gesagt und angeordnet hatte; helfen konnte er auch nicht, und er sagte zu den tiefbetrübten Eltern:

„Es ist ein sehr ernster Fall; aber solange noch Leben da ist, ist auch noch Hoffnung.“

Klein Toni aber schaute ihre Tante und Patin bittend an:

„Was wünschest du, Liebling?“ fragte diese, sich über ihr Bettchen neigend.

Mit leiser, schwacher Stimme flüsterte das Kind: „Tante, denkst du noch an dein Versprechen?“

Die Tante nickte.

„Geh zum Herrn Pfarrer – bitte, Tante – ich möchte beichten – und er soll mir den lieben Heiland bringen.“

Tante Toni zögerte einen Augenblick, aber klein Tonis Augen baten so flehend, sie konnte nicht widerstehen – sie begab sich sofort ins Pfarrhaus. Sie sprach lange mit dem Herrn Pfarrer, und dieser versprach ihr, die kleine Kranke gegen Abend zu besuchen.

Es war wohl die Freude, die verursachte, daß Tonichen sich am Abend viel leichter und besser fühlte. Ihre Augen leuchteten auf, als der Herr Pfarrer an ihr Bettchen trat.

„So, so“, sagte dieser freundlich, „das ist also die Kleine, die kommunizieren möchte. Wie alt bist du denn, mein Kind?“

„Ich bin sieben Jahre, Herr Pfarrer; ich habe also das Alter der Vernunft.“

Der Pfarrer lächelte: „So, meinst du? Nun sag' mir doch einmal, warum du schon so früh zur heiligen Kommunion gehen möchtest!“

Toni faltete ihre Händchen über der Brust und sagte in innigem Ton: „Weil ich mich so sehr danach sehne, den lieben Heiland zu empfangen. Ich habe mir ja sogar gewünscht, recht bald zu sterben, damit ich nicht noch drei Jahre auf ihn zu warten brauche.“

„Du weißt und glaubst also, daß man in der heiligen Kommunion den lieben Heiland selbst empfängt?“

„Aber natürlich!“ sagte klein Toni, ganz erstaunt, daß der Herr Pfarrer überhaupt so etwas fragen konnte.

„Kannst du denn den lieben Heiland sehen?“

„Ich kann nur die heilige Hostie sehen, aber ich weiß, daß es doch der wirkliche liebe Heiland ist, so wie er jetzt im Himmel wohnt und wie er früher auf die Welt gekommen ist, um uns zu erlösen.“

Der Pfarrer stellte noch einige Fragen an Toni, welche dieselben alle richtig und verständig beantwortete. Dann hörte er ihre Beichte an, und als er fortging, da hatte er Tränen in den Augen.

„Morgen früh bringt er mir den lieben Heiland“, flüsterte Toni selig lächelnd vor sich hin, und sie lag die ganze Zeit wie in stiller, glückseliger Erwartung. Von ihrem Bettchen aus sah sie zu, wie Mutter und Tante Toni einen kleinen Altar im Zimmer zurechtmachten. Etwas später, als Vater und Mutter an ihrem Bett saßen, sagte sie: „Nicht wahr, der liebe Gott hat mir ja nun alles verziehen, und ihr verzeiht mir auch, Papa und Mama und Tante Toni und alle Geschwister, daß ich oft so ungehorsam und so zornig war? – Es tut mir ja so leid, und ich hab' euch alle so lieb!“

Die Eltern konnten ihre Tränen kaum zurückhalten.

Dann wurde es Nacht, und klein Toni schlief so sanft und so ruhig, wie sie lange nicht mehr geschlafen hatte. Sie hustete nicht und fühlte auch keine Schmerzen mehr. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Augen und fragte, ob es nun bald hell würde.

„Ich freue mich so“, flüsterte sie, und als es endlich hell geworden war, begannen die Mutter und Tante Toni die kleine Kranke für die heilige Handlung herzurichten. Vorsichtig und behutsam zogen sie ihr ein feines, gesticktes Nachtkleidchen an; auch ein kleines Myrtenkränzchen bekam klein Toni, wie ein wirkliches Kommunionkind. Die Mutter gab ihr einen schönen weißen Rosenkranz, und dann betete sie mit ihrem Töchterchen, bis unten im Hause ein Glöckchen ertönte. Nun zündete Tante Toni die Kerzen an und öffnete weit die Türe. Der Herr Pfarrer trat herein, gefolgt vom Vater, von den Geschwistern und den Dienstboten, und alle knieten nieder, als der Priester segnend die heilige Hostie erhob.

Klein Tonis Augen strahlten in einem ganz eigenen Glanze, als der Priester ihr das hochwürdigste Gut reichte, und ihre Wangen röteten sich; dann lag sie still, ganz still mit gefalteten Händchen, ihr Gesichtchen war wieder ganz blaß geworden, und ihre Augen waren geschlossen, so daß der kleine Leo, der hinten neben Gretchen kniete, diese leise fragte: „Ist die Toni jetzt schon ein Engel?“ Statt aller Antwort brach Gretchen in leises Weinen aus.

Der Priester segnete nochmals die kleine Kranke und entfernte sich, während der Vater und die übrigen Anwesenden ihm das Geleite gaben.

Nur die Mutter und Tante Toni blieben zurück, und als Frau Wulff sich etwas später über ihr Töchterchen neigte und leise fragte: „Wie fühlst du dich, mein Kind?“ da antwortete klein Toni lächelnd: „Wohl, o so wohl!“ und als sie dabei einen Augenblick die Augen öffnete, da hatten diese einen Ausdruck, als ob sie schon über alles Irdische hinaus in eine andere Welt blickten. Aber sie schlossen sich gleich wieder, und Toni fiel in einen sanften Schlummer; jedoch selbst im Schlaf hielt sie die Händchen auf die Brust gepreßt, als wollte sie den lieben Heiland da drin festhalten, damit er ja nicht von ihr ginge. –

Als die Zwillinge und Anna um zwölf Uhr aus der Schule kamen, da fanden sie alle Fensterläden geschlossen, die Haustüre war nur angelehnt, so daß sie gar nicht zu schellen brauchten. Auf der Treppe stand Leo, der schien auf sie gewartet zu haben.

„Hast du die Türe aufgemacht?“ fragte Kurt in strengem Ton. „Du weißt doch, daß dir das verboten ist, und ...“

Aber Leo legte den Finger auf den Mund und sagte leise: „Pst! Jetzt ist unsere Toni wirklich ein Engelchen geworden.“

„Wie, ist sie tot?“ riefen die drei Kinder bestürzt aus.

„Ja, ganz tot gestorben“, bestätigte Leo und nickte mit dem Kopf. „Aber sie ist noch nicht im Himmel, denn sie liegt noch da drin und schläft ganz fest.“

Eben kam Gretchen mit rotgeweinten Augen aus dem Zimmer, und sie nahm Leo mit sich, während Paul, Kurt und Anna leise, auf den Fußspitzen auftretend, Tante Toni folgten, die gerade an der Türe erschien und ihnen winkte.

„Wie schön, o wie schön ist unser Tonichen!“ flüsterte Anna, auf ihr Schwesterchen blickend, welches wirklich wie ein schlafendes Engelchen dalag – so weiß, so still, so friedlich. Und leise weinend beugte sich eines nach dem andern über das tote Schwesterlein, um ihm noch einmal das kalte Händchen zu küssen.

Vater und Mutter knieten da, von Schmerz gebeugt, aber als die andern Kinder sich wie tröstend oder Trost suchend an sie schmiegten, da erhob die Mutter das Haupt, und sie sagte: „Lasset uns dem lieben Gott danken, daß er unserer lieben kleinen Toni einen so schönen, sanften Tod verliehen hat. Sie läßt euch alle noch herzlich grüßen, jedes hat sie noch beim Namen genannt, und zuletzt ist sie mit dem heiligsten Namen Jesus auf den Lippen sanft eingeschlafen.“

Hier brach der Mutter die Stimme, und eine Zeitlang hörte man im Zimmer nichts mehr als unterdrücktes Schluchzen und leises Beten.

Im Laufe des Nachmittags kamen auch Helmers mit ihren Kindern und Onkel Robert mit den seinen, um die kleine Toni noch einmal zu sehen. Die Kinder weinten zwar sehr, aber sie blieben doch ruhig und dachten daran, wie glücklich Tonichen nun wohl schon im Himmel wäre. Nur Lilly stand eine Zeitlang wie erstarrt und schaute mit großen Augen auf die kleine, regungslose Gestalt. Auf einmal trat sie dicht an das Bett, und sich über die Tote beugend bat sie: „Tonichen, du hast mir ja nicht ‚Adieu‘ gesagt – mach nochmal deine Äugelchen auf, bitte, schau mich nochmal an und sag' mir, daß du mir nicht mehr bös bist wegen neulich – du weißt schon, Tonichen! Hörst du mich nicht? – Tonichen!“

Aber Tonichen antwortete nicht. Lilly war ganz fassungslos – jetzt erst fing sie an zu ahnen, was es eigentlich heißt: tot sein – sie hatte es sich bisher noch nicht recht vorstellen können. Beim Tode ihrer Mutter war sie noch zu klein gewesen. Aber nun empfand sie etwas wie Entsetzen, und sie schrie plötzlich auf: „Toni – Toni, sei doch nicht tot! Du sollst nicht tot sein – ich hab' dich ja lieb, Tonichen, viel lieber als du weißt, und ich will dich nie mehr ärgern! Komm, Toni – komm', wach' auf!“ Und Lilly umschlang Toni und küßte sie; aber sie fuhr zurück – wie kalt war Tonis Wange, todeskalt! – Es durchschauerte Lilly, und mit einem Schrei fiel sie in ihres Vaters Arme. Der trug sie hinaus, und unter seinem und Tante Tonis beruhigendem Zuspruch schwand allmählich der entsetzte Ausdruck aus ihrem Gesichtchen. Begierig lauschte sie den Worten der Tante, die ihr erzählte, wie klein Toni sie grüßen lasse: „Kurz vor ihrem Tode hat sie noch von dir gesprochen, Lilly, und sie hat gesagt, sie wolle dein Mütterlein im Himmel von dir und von Otto grüßen. Was da drinnen so kalt und starr liegt, das ist ja gar nicht mehr unsere Toni, es ist nur ihre Hülle – ihre liebe kleine Seele ist schon oben im Himmel beim lieben Gott unaussprechlich glücklich und selig.“

„Aber nie, nie mehr kommt sie mit mir spielen, nie mehr kann ich mit ihr sprechen!“ klagte Lilly.

„Aber doch, Lilly; du willst doch gewiß auch einmal in den Himmel kommen!“

„Ja schon, Tante Toni, aber ich bin so bös, ich hab' schon so oft gelogen, und ich wollt' neulich dem Otto auch gar nicht versprechen, nie mehr zu lügen – und am End' komm' ich gar nicht in den Himmel!“

„O, da sei du nur ganz ruhig! Das liebe Tonichen wird schon für dich beten und bitten, daß du bald ein ganz braves und gutes Kind wirst. Du mußt nur auch ernstlich wollen, und du wirst sehen, daß es gar nicht so schwer ist. Denk' nur an Otto, wie der sich schon geändert hat!“

„Ja, ich möchte ja auch gern brav werden. Ach, wenn du doch immer bei mir bliebest, Tante Toni, dann könnt' ich's vielleicht. Aber nun ist Toni fort, und wenn du dann auch wieder fortgehst ...“ Und bitterlich schluchzend schmiegte Lilly sich in Tante Tonis Arm.

„Ich geh' ja noch nicht fort, ich bleibe ja noch bis nach Ottos erster heiligen Kommunion“, tröstete die Tante, „und wenn du jetzt schön brav bist und nicht mehr weinst, dann komm' ich diesen Abend noch zu dir hinüber, und ich wasche dich und lege dich ins Bett, wie ich's früher getan habe, als du noch klein warst – willst du?“

„Ja, Tante, ja!“ Und Lilly trocknete ihre Tränen. „Aber bitte, laß mich noch einmal hinein, laß mich Tonichen noch einmal sehen!“

„Lieber nicht“, meinte der Vater besorgt, „es regt dich nur wieder auf. Sei folgsam und komm' nun heim.“

Lilly sah ihren Vater so innig flehend an, daß er schwankend wurde und wohl nachgegeben hätte; aber Tante Toni sagte: „Wenn man einen guten Vorsatz gefaßt hat, dann muß man auch gleich mit der Ausführung beginnen, und wer ein braves Kind werden will, muß vor allem aufs erste Wort gehorchen.“

Jetzt ließ Lilly sich ohne Widerrede von ihrem Vater heimführen.

Am folgenden Tag durfte sie aber noch einmal zurückkommen; Tante Toni holte sie selbst ab und führte sie in den Saal unten, der in eine Kapelle umgewandelt war. Dort lag die kleine Tote aufgebahrt zwischen grünen Pflanzen und brennenden Kerzen – ein Kreuz lag auf ihrer Brust, und ihr Rosenkranz war um die gefalteten Händchen geschlungen. Der ganze Anblick war so schön, so friedlich und doch so feierlich, daß Lilly gar nicht mehr weinte. Sie kniete still da und betete:

„Liebes Tonichen, hilf mir doch mein Versprechen halten, und grüße mir tausendmal meine liebe Mama im Himmel!“

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