Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 12

<p>Es war ein trübseliger Sonntag&comma; der dem Ballfeste folgte&period; Als die junge Schar&comma; noch ganz erfüllt von der Erinnerung an dasselbe&comma; beim Morgenkaffee saß&comma; trat Fräulein Güssow ein&period; Bei ihrem Anblick verstummte das fröhliche Geplauder&comma; ihr blasses und verweintes Gesicht verkündete nichts Gutes&period; Ilse und Nellie waren sofort an ihrer Seite&comma; sie hatten bis dahin seitwärts gestanden&semi; es war ihnen unmöglich&comma; an der Fröhlichkeit der andern teilzunehmen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ist es besser&quest;« fragte Ilse hoffend und bangend zugleich&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Traurig schüttelte die Angeredete den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Thränen&period; »Nein&comma;« sagte sie&comma; »es ist nicht besser&period; Die Krankheit hat sich gesteigert und ihr müßt euch auf das Schlimmste gefaßt machen&period; Ich teile euch dies mit&comma; Kinder&comma; damit ihr nicht allzusehr erschreckt&comma; wenn –« Sie konnte den Satz nicht vollenden&comma; Thränen erstickten ihre Stimme&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Eine augenblickliche Todesstille trat bei dieser Eröffnung ein&period; Als aber Ilse laut zu schluchzen anfing&comma; da erhob sich ein allgemeines Jammern und Wehklagen&period; Kein Auge blieb trocken bei dem Gedanken&comma; den herzigen Liebling für immer hergeben zu müssen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die junge Lehrerin entfernte sich und Ilse eilte ihr nach&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Lassen Sie mich zu ihr&comma;« bat sie dringend und erhob die Hände&period; »Bitte&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>Sie konnte ihr diesen Wunsch nicht erfüllen&period; »Du darfst sie nicht wiedersehn&comma; Ilse&comma;« sagte sie fest und entschieden&period; »Sie hat sich so verändert&comma; daß deine lebhafte Phantasie ihr trauriges Bild für lange Zeit nicht vergessen würde&period; Sie ist nur noch ein Schatten des schönen&comma; fröhlichen Kindes&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und sie küßte die trostlose Ilse und kehrte in das Krankenzimmer zurück&comma; das Fräulein Raimar seit Mitternacht nicht wieder verlassen hatte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als Ilse wieder in den Speisesaal eintrat&comma; stand Miß Lead fertig zum Kirchgang angekleidet mit dem Gesangbuch in der Hand da&period; Sie trieb zur Eile an&comma; da es hohe Zeit sei&comma; zur Kirche zu gehen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich kann Sie heute nicht begleiten&comma; Miß Lead&comma;« entgegnete Orla&comma; die ganz gegen ihre Gewohnheit sich vom Gefühle übermannen ließ und heftig weinte&semi; »ich kann es nicht&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich auch nicht&excl; – Ich auch nicht&excl;« erklärten die übrigen&period; Selbst Rosi&comma; die stets Sanfte und Gefügige&comma; bat um Verzeihung&comma; wenn sie ebenfalls zurückbleibe&period; »Ich bin so aufgeregt und könnte nicht andächtig auf die Predigt hören&comma;« fügte sie hinzu&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich begreife euch nicht&comma;« sprach die Engländerin höchst erstaunt von einer zur andern sehend&period; »Ist das Gotteshaus nicht der beste Ort für ein gequältes Herz&quest; Sagt nicht der Herr&colon; ›Kommt her zu mir alle&comma; die ihr mühselig und beladen seid&comma; ich will euch erquicken&excl;‹ Ich gehe und will für die Kranke beten&comma; vielleicht erhört mich der Herr&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Und sie ging&comma; und die englischen Pensionärinnen schlossen sich ihr an&period; Sie teilten in ihrem strenggläubigen Herzen die Ansicht der Lehrerin&period; Nur Nellie blieb zurück&period; Nicht weil sie weniger gläubig war – o nein&excl; Sie hatte ein kindlich frommes Gemüt&comma; aber sie hatte auch ein tiefempfindendes&comma; warmes Herz&semi; es wäre ihr unmöglich gewesen&comma; das Haus&comma; das ihr eine liebe Heimat geworden war&comma; in einem Augenblicke zu verlassen&comma; wo der Todesengel seinen Einzug halten konnte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Ich will auch beten&comma;« sagte sie leise wie für sich&period; Und sie trat in den Hintergrund des Zimmers&comma; kniete nieder&comma; legte die gefalteten Hände auf einen Stuhl und beugte den Kopf darüber&period; In dieser andächtigen Stellung verbrachte sie lange Zeit und betete heiß und innig zu Gott&comma; daß er Lilli am Leben erhalten möge&period; –<&sol;p>&NewLine;<p>Aber es stand anders in den Sternen geschrieben&period; Gegen Abend öffnete die Vorsteherin plötzlich weit die Fensterflügel im Krankenzimmer – Lilli war tot&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Sanft hatte der Todesengel sie auf die Stirn geküßt und sie hinweggetragen in sein dunkles Schattenreich&period; Wie ein sorglos schlummerndes Kind lag sie da&comma; der krampfhaft entstellende Zug war geschwunden und ein friedliches Lächeln lag über den leise geöffneten Lippen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die beiden Lehrerinnen standen stumm und mit gefalteten Händen am Bette der kleinen Verstorbenen und konnten den Blick nicht von ihr trennen&period; Die Abendsonne verklärte mit rosigem Schimmer das zarte Gesicht und in dem knospenden Apfelbaume vor dem Fenster sang ein Star sein melodisches Abendlied – draußen erwachendes Frühlingsleben – hier die junge Menschenknospe – gebrochen&comma; ehe sie sich zur Blüte entfalten konnte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»So früh und in der Fremde mußtest du sterben&comma; armes Kind&excl;« unterbrach Fräulein Güssow die feierliche Stille&period;<&sol;p>&NewLine;<p>»Sie fühlte sich glücklich und heimisch bei uns&comma;« entgegnete Fräulein Raimar tief ergriffen&period; »Die eigentliche Heimat war ihr fremd geworden&period; – Sie hat nicht einmal nach der Mutter verlangt&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Wie sanft sie schlummert&comma; als ob sie leben und atmen müßte&period; O&comma; sie ist glücklich&excl;« Und in einem plötzlich überwallenden Gefühle beugte sich die junge Lehrerin laut weinend über Lilli und küßte ihr die kalte Stirn&period; »Schlaf wohl&comma; schlaf wohl&comma; teures Kind&excl; Gott hatte dich lieb&comma; darum nahm er dich zu sich&excl;«<&sol;p>&NewLine;<p>»Fassen Sie sich&comma; liebe Freundin&comma;« ermahnte Fräulein Raimar&comma; indem sie die Hand auf der Erregten Schulter legte&comma; »uns bleibt jetzt die schwere Aufgabe&comma; die Kinder mit dem traurigen Ausgang bekannt zu machen&period; So ruhig als möglich müssen wir ihnen diese Mitteilung machen&comma; damit die ohnehin erregten Gemüter nicht ganz außer Fassung kommen&period;«<&sol;p>&NewLine;<p>Aber sie kamen doch außer Fassung&comma; besonders Ilse&comma; deren lebhafte Natur sich dem Schmerze zügellos hingab&period; Sie glaubte vergehen zu müssen&period; Noch nie hatte sie sich so unglücklich gefühlt&comma; als in der ersten Nacht nach Lillis Tode&comma; selbst damals nicht&comma; als sie den Wagen fortfahren sah&comma; der den geliebten Vater entführte&comma; und sie fremd und verlassen an der Pforte dieses Hauses stand&period;<&sol;p>

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