Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 5

Vierzehn Tage waren seit Ilses Aufnahme in der Pension vergangen. Manche bittre Thräne hatte sie in der kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, geweint, und oft, recht oft hatte sie die Feder angesetzt, um dem Vater zu schreiben, daß er sie zurückholen möge. Nur weil sie sich vor der Mutter scheute, that sie es nicht. Erst zweimal hatte sie die vielen und langen Briefe, die sie aus der Heimat erhalten, beantwortet, nur ganz kurz und mit der Entschuldigung, daß ihr die Zeit zu längeren Briefen fehle.

Endlich, eines Sonntag Nachmittags, den fast alle Pensionärinnen zum Briefschreiben benutzten, setzte auch sie sich dazu nieder. Große Lust hatte sie indessen nicht. Sie wußte gar nicht recht, was sie schreiben sollte; wie es ihr eigentlich um das Herz war, mochte sie ja doch nicht sagen.

Sie schlug die neue Schreibmappe auf, wählte nach langem Suchen einen rosa Bogen mit einer Schwalbe darauf, tauchte eine Feder in das Tintenfaß und – malte allerhand Schnörkeleien auf ein Stückchen Papier. Nachdem sie diese Unterhaltung ein Weilchen getrieben, begann sie endlich den Brief. Nach wenigen Zeilen hörte sie auf und legte das Geschriebene beiseite. Der Anfang gefiel ihr nicht. Es wurde ein neuer Schwalbenbogen geopfert und noch einer. Der vierte endlich hatte mehr Glück. Sie beschrieb denselben von Anfang bis zu Ende, ja, sie nahm noch einen fünften Bogen dazu. Sie war nun einmal in das Plaudern gekommen, immer wieder fiel ihr etwas ein, das sie dem Papa mitteilen mußte.

Als sie zu Ende war, durchlas sie noch einmal ihre lange Epistel und wir blicken ihr über die Schulter und lesen mit.

 

»Mein liebes Engelspapachen!

Es ist heute Sonntag. Das Wetter ist so schön und im Garten blühen die Rosen (da fällt mir eben ein, hat meine gelbe Rose, maréchal Niel, die der Gärtner im Frühjahre verpflanzte, schon Knospen angesetzt? bitte, vergiß nicht, mir Antwort zu geben) – und die Vögel singen so lustig – ach! und deine arme Ilse sitzt im Zimmer und kann sich nicht im Freien umhertummeln. Mein liebes Pa’chen, das ist recht traurig, nicht wahr? Ich komme mir oft vor wie unser Mopsel, wenn er genascht hatte und zur Strafe dafür eingesperrt wurde. Ich möchte auch manchmal, wie er es that, an der Thüre kratzen und rufen: macht auf! Ich will hinaus!

Es ist gar nicht hübsch, immer eingesperrt zu sein. Zu Haus konnte ich doch immer thun und treiben, was ich wollte, im Garten, auf dem Felde, in den Ställen, überall durfte ich sein und meine reizenden Hunde waren bei mir und liefen mir nach, wohin ich ging. Ach, das war zu himmlisch nett! Was macht Bob, Papachen, und Diana und Mopsel und die andern? O, wenn ich sie gleich hier hätte!

Es ist in der Pension alles so furchtbar streng, man muß jede Sache nach Vorschrift thun. Aufstehen, Frühstücken, Lernen, Essen, – immer zu bestimmten Stunden. Und das ist gräßlich! Ich bin oft noch so müde des Morgens, aber ich muß heraus, wenn es sechs geschlagen hat. Ach, und wie manchmal möchte ich in den Garten laufen und muß auf den abscheulichen Schulbänken sitzen! Die furchtbare Schule!

Ich lerne doch nichts, Herzenspa’chen, ich bin zu dumm. Nellie und die andern Mädchen wissen viel mehr, sie sind auch alle klüger als ich. Nellie zeichnet zu schön! Einen großen Hundekopf in Kreide hat sie jetzt fertig, als wenn er lebte, sieht er aus. Und Klavier spielt sie, daß sie Konzerte geben könnte – und ich kann gar nichts!

Wenn ich doch lieber zu Hause geblieben wäre, dann wüßte ich doch gar nicht, wie einfältig ich bin. Nellie tröstet mich oft und sagt: ›Es ist keiner Meister von der Himmel gefallen, fang’ nur an, du wirst schon lernen!‹ Aber ich habe angefangen und doch nichts gelernt. Ich weiß nur, daß ich sehr, sehr dumm bin.

Am fürchterlichsten sind die Mittwoch Nachmittage. Da sitzen wir alle von drei bis fünf in dem Speisesaale. Die Fenster nach dem Garten sind weit offen und ich blicke sehnsüchtig hinaus. Es zuckt mir förmlich in Händen und Füßen, daß ich aufspringen möchte, um in den Garten zu eilen – ich darf es nicht, ganz still muß ich dasitzen und muß meine Sachen ausbessern, – Strümpfe stopfen und was ich sonst noch zerrissen habe, wieder flicken. Denke Dir das einmal, mein kleines Papachen! Deine arme Ilse muß solche fürchterliche Arbeiten thun! – Und Fräulein Güssow sagt, das wär’ notwendig, Mädchen müssen alles lernen. Sie war ganz erstaunt, daß ich nicht stricken konnte. Man kauft doch jetzt die Strümpfe, das ist ja viel netter, warum muß ich mich unnütz quälen? Es wird mir so schwer, die Maschen abzustricken, und ich mache es auch sehr schlecht.

Melanie Schwarz, sie ist sehr hübsch, ziert sich aber und stößt mit der Zunge an, und dann sagt sie immer zu allem: ›Furchtbar nett, furchtbar reizend, oder furchtbar scheußlich‹ – sie meinte neulich: ›Du strickst aber furchtbar scheußlich, Ilse.‹ Du siehst, Pa’chen, ich kann nichts!

In den Arbeitsstunden wird einmal französisch, einmal englisch die Unterhaltung geführt. Französisch kann ich mich allenfalls verständlich machen, aber englisch geht es sehr schlecht, so schlecht, daß ich mich schäme, den Mund aufzuthun. Nellie ist gut, sie hilft mir nach und will oft mit mir sprechen, wenn wir allein sind.

Du fragst mich, lieber Papa, ob ich schon Freundinnen habe, – ja – Nellie und noch sechs andre Mädchen sind meine Freundinnen, Nellie aber habe ich am liebsten. Wie sie alle heißen, will ich Dir das nächstemal schreiben, auch Dir erzählen, wie sie aussehen, heute kann ich mich nicht dabei aufhalten, sonst nimmt mein Brief kein Ende. Eine Schriftstellerin ist auch dabei, das muß ich Dir noch mitteilen.

Wenn wir spazieren gehen, nämlich jeden Mittag von zwölf bis eins und jeden Nachmittag von fünf bis sieben, gehe ich fast immer mit Nellie in einer Reihe. Wir müssen nämlich wie die Soldaten zwei und zwei nebeneinander marschieren. Eine Lehrerin geht voran, eine hinterher mit einer kleinen Pensionärin an der Hand. Nicht rechts, nicht links dürfen wir gehen, immer in Reih’ und Glied bleiben. Ach! und ich habe so oft Lust, einmal recht toll davonzulaufen, auf die Berge hinauf – immer weiter! – aber dann würde ich nicht wieder in mein Gefängnis zurückkehren – –

In die Kirche gehen wir einen Sonntag um den andern, dort gefällt es mir aber gar nicht. Ich sitze zwischen so viel fremden Leuten, und der Prediger, ein ganz alter Mann, spricht so undeutlich, daß ich Mühe habe, ihn zu verstehen. In Moosdorf ist es viel, viel hübscher! Da sitzen wir eben in unsrem Kirchstuhle und wenn ich hinunter sehe, kenne ich alle Menschen. Und wenn unser Herr Kantor die Orgel spielt und die Bauernjungen so laut und kräftig anfangen zu singen – und mein lieber Herr Prediger besteigt die Kanzel und predigt so schön zu Herzen, dann ist es mir so feierlich, so ganz anders als hier! – ach, und manchmal, wenn die Sonnenstrahlen durch das bunte Kirchenfenster fallen und so schöne Farben auf den Fußboden malen, dann ist es so herrlich, so herrlich, wie nirgendwo auf der ganzen Welt!«

Hier mußte Ilse mitten im Lesen innehalten und eine Pause machen. Der Gedanke an die Heimat und die Sehnsucht dahin überwältigten sie dermaßen, daß sie weinen mußte. Erst als ihre Thränen wieder getrocknet waren, las sie zu Ende. 

 

»Grüße nur alle, du einziger Herzenspapa, auch die Mama; das Tagebuch, das sie mir mit eingepackt hat, kann ich nicht gebrauchen, ich habe keine Zeit, etwas hineinzuschreiben. Aber ich bedanke mich dafür. Nun leb’ wohl, mein lieber, süßer, furchtbar netter Papa. Ich küsse Dich hunderttausendmal. Bitte, gieb auch Bob einen Kuß und grüße Johann von

Deiner
Dich unbeschreiblich liebenden Tochter
Ilse.

N. S. Ich will gern Zeichenunterricht nehmen bei dem Herrn Professor Schneider, ich darf doch? Morgen fange ich an.

N. S. Beinah hätte ich vergessen, Dir zu schreiben, daß Du mir doch eine Kiste mit Kuchen und Wurst schickst. Nellie ist immer so hungrig, wenn wir des Abends im Bette liegen und ich auch.

N. S. Lieber Papa, ich kriege immer so viel Schelte, daß ich so ungeschickt esse, schreibe mir doch, ob das nicht sehr unrecht ist. Der Mama sage nichts hiervon. Deine Hand drauf! – Fräulein Güssow habe ich sehr lieb.« –

 

Gerade saßen Ilses Eltern mit dem Prediger zusammen auf der Veranda am Kaffeetische, als ihr langer Brief eintraf. Der Oberamtmann las ihn vor und wurde bei einigen Stellen so gerührt, daß er kaum weiter zu lesen vermochte.

»Ich möchte das arme Kind zurückhaben,« sagte er, nachdem er zu Ende gelesen, »es fühlt sich unglücklich, und ich sehe nicht ein, warum wir unsrer einzigen Tochter das Leben so verbittern sollen. Was meinst du, Annchen, und Sie, lieber Vollert, wär’ es nicht besser?«

Der Prediger durchlas noch einmal den Brief, faltete ihn wieder zusammen und machte ein höchst zufriedenes Gesicht.

»Ich bin nicht Ihrer Meinung,« entgegnete er, »ja ich würde das für eine Sünde halten. Ilse ist bereits auf dem Wege einzusehen, daß sie noch vieles lernen muß, sie vergleicht sich mit den Genossinnen und erkennt ihre Fehler, die Lücken in ihrem Wissen. Wir haben schon mehr erreicht in dieser kurzen Zeit, als ich mir gedacht habe.«

»Das Heimweh ist ja natürlich,« fiel Frau Anne ein, »bedenke nur, wie schwer es einem an die Freiheit gewöhnten Wesen werden muß, sich plötzlich in den Schulzwang zu fügen! Die Regelmäßigkeit des Instituts ist ihrer ungebändigten Natur zuwider; zu Ilses Glück, sie wird sich fügen lernen, ihre Wildheit abstreifen und ein liebes, herziges Mädchen sein.«

Der Oberamtmann war verstimmt, daß man ihn nicht verstand. Weder der Prediger noch Frau Anne überzeugten ihn mit ihren Vernunftgründen. Er urteilte eben nur mit seinem weichen Herzen, und das litt sehr bei dem Gedanken an sein heimwehkrankes Kind.

Ilses Wünsche wurden natürlich alle erfüllt und zwar umgehend: Es mußte Kuchen gebacken und die schönste Wurst, nebst einem Stück Schinken aus der Rauchkammer geholt werden. Der Oberamtmann packte selbst die kleine Kiste und legte noch allerhand Leckereien mit hinein.

»Not soll sie wenigstens nicht leiden,« sagte er zu seiner Frau, die ihm lächelnd zusah. »Junge Menschen, die noch wachsen, haben immer Hunger. Wenn der Magen knurrt, muß er sein Teil haben; der beruhigt sich nicht, wenn man zu ihm sagt: ›Warte nur bis es zwölf schlägt oder Morgen oder Abend ist, dann bekommst du etwas.‹«

Frau Anne hätte gern erwidert, daß es viel besser sei, den Magen an regelmäßige Mahlzeiten zu gewöhnen, als zu jeder Tageszeit zu essen, aber sie schwieg. Sie dachte mit Recht, daß mit der Zeit Ilse von selbst von dieser Untugend zurückkommen werde.

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