Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 6

Es war an einem Mittwoch Nachmittag im Monat August. Die erwachsenen Mädchen der Pension saßen im Speisezimmer beisammen, stopfend, flickend oder mit anderen Arbeiten dieser Art beschäftigt. Es war sehr heiß und gewitterschwül, und durch die geöffneten Fenster drang kein erfrischender Luftzug.

Ilse hielt ihren Strickstrumpf in der Hand und quälte sich, Masche auf Masche abzuheben. Es machte ihr Mühe mit den heißen, feuchten Fingern. Die Nadeln saßen so fest in den Maschen, daß sie kaum zu schieben waren. Sie glühte wie eine Rose bei ihrer sauren Arbeit, und der graue Strumpf, der eigentlich weiß sein sollte, wurde öfters aus der Hand gelegt. Nun fielen auch noch einige Maschen herunter, und Fräulein Güssow, die anwesend war, forderte Ilse auf, einmal zu versuchen, ob sie dieselben nicht allein wieder aufnehmen könne.

»Ich kann das nicht,« sagte Ilse, »die Nadeln kleben so, ich mag sie nicht mehr anfassen.«

»Wasche dir die Hände,« riet Fräulein Güssow, »dann wird es besser gehen.«

»Das hilft nicht,« erwiderte Ilse unmutig und legte das Strickzeug vor sich hin.

Die Mädchen lachten, und Grete, die ihr gegenübersaß, nahm es vorwitzig in die Hand, um den Fehler zu verbessern.

Ilse nahm es ihr fort. »Laß liegen,« sagte sie, »es ist mein Strumpf!«

Ehe noch Fräulein Güssow sie wegen ihres unpassenden Wesens zurechtweisen konnte, trat Fräulein Raimar in das Zimmer. Sie ging von einer Schülerin zur andern und prüfte deren Arbeiten, sie that dies zuweilen, um sich an den Fortschritten zu erfreuen, oder auch zu tadeln, wenn es nötig war.

»Nun, wie steht es mit dir, Ilse?« fragte sie. »Hast du deinen Strumpf bald fertig? Zeige ihn einmal her.«

Ilse that, als habe sie die Aufforderung nicht verstanden, sie schämte sich ihrer schmutzigen Arbeit.

»Ich will dein Strickzeug sehen, Ilse, hast du mich nicht verstanden?«

Etwas streng und hart klangen die Worte der Vorsteherin, und nun war es Trotz, weshalb sie den Gehorsam versagte.

Aufgebracht über diesen Widerstand nahm Fräulein Raimar ihr den Strumpf unsanft aus der Hand.

»Ich bin gewöhnt, daß meine Schülerinnen mir gehorchen und du wagst es, dich zu widersetzen? – Seht einmal Kinder,« fuhr sie fort und hielt mit spitzen Fingern das Strickzeug in die Höhe, »was sagt ihr zu dieser Arbeit? Sieht sie wohl aus, als ob sie einem erwachsenen Mädchen angehöre? Schäme dich! Niemals wieder will ich ein so unsauberes Strickzeug sehen.«

Aller Augen waren auf dasselbe gerichtet, und einige Pensionärinnen glaubten sich durch die Frage der Vorsteherin berechtigt, ein Wort mitzureden. Die vorlaute Grete meinte, daß ihre kleine fünfjährige Schwester daheim weit besser und sauberer stricke, ihr Strumpf sähe wie Schnee gegen Ilses aus, sie dürfe aber auch niemals mit schmutzigen Händen stricken.

Die ästhetische Flora verglich das façonlose Ding mit einem Kaffeebeutel, ein Vergleich, der Annemie so in das Lachen brachte, daß sie sich gar nicht wieder beruhigen konnte.

Was in diesem Augenblicke in Ilses Innerem vorging, ist schwer zu beschreiben. Sie sah sich verlacht und verspottet von allen Seiten und durfte sich nicht dagegen verteidigen. Ihr heißes Blut, ihre unbändige Natur bäumten sich mit aller Macht auf gegen die, wie sie glaubte, ihr öffentlich angethane Schmach. Sie geriet in eine so blinde Wut, wie sie bis jetzt noch niemals empfunden hatte, sie ballte die Hände und biß hinein, ihre Augen füllten sich mit heißen, trotzigen Thränen.

Fräulein Raimar hatte bereits das Zimmer verlassen, doch die Thür desselben hinter sich offen gelassen, sie hielt sich noch auf dem Korridor auf. Welchen Aufruhr sie in Ilse heraufbeschworen, ahnte sie nicht, sie würde ihn auch schwerlich begriffen haben, glaubte sie doch fest, durch eine öffentliche Beschämung Ilses Widerstand ein für allemal geheilt zu haben. Wie wenig verstand sie ein leidenschaftliches Gemüt! Gerade das Gegenteil hatte sie hervorgerufen. Ilses wilder Trotz stand in lichterlohen Flammen.

»Neckt sie nicht!« gebot Fräulein Güssow, die Ilse besser verstand. »Ich will nicht, daß ihr sie auslacht!«

Und Nellie, die einzige, welche mitleidig dem ganzen Auftritt zugesehen, nahm gutmütig den verachteten Strumpf in die Hand, um ihn wieder in Ordnung zu bringen.

»Laß!« rief Ilse und ihr ganzer Grimm entlud sich auf Nellies unschuldiges Haupt, »laß! Was kümmern dich meine Sachen?«

»Gieb doch her,« bat diese sanft, »ich mach’ dich alles wieder gut.«

Aber Ilse hörte nicht darauf und riß es Nellie aus der Hand, und ehe noch diese sie zurückhalten konnte, warf sie im höchsten Zorne das unglückselige Strickzeug gegen die Wand. Die Nadeln schlugen klirrend aneinander und das Knäuel kollerte weit fort, zur offnen Thür hinaus, bis zu den Füßen der Vorsteherin.

Vielleicht hätte dieselbe kein Arg an diesem kleinen Zufall gefunden, wenn nicht zu gleicher Zeit laute Ausrufe wie »Ah!« und »o!« ihr Ohr getroffen und ihr verkündet hätten, daß etwas Unerhörtes passiert sein müsse.

»Was giebt es?« fragte sie hastig eintretend. Sie erhielt keine Antwort; aber ihr Blick fiel auf das Strickzeug am Fußboden und sie erriet das Ganze.

»Warfst du es absichtlich hierher?« richtete sie an Ilse die Frage, und ihre Stimme bebte vor Aufregung, in ihren stets so ruhig blickenden Augen blitzte es unheimlich auf. – »Antworte – ich will es wissen!«

»Ja,« sagte Ilse.

»Komm hierher und nimm es wieder auf!«

Die Heftigkeit der Vorsteherin machte Ilse nur verstockter, sie rührte sich nicht.

»Hast du verstanden, was ich dir befahl? Glaubst du mir trotzen zu können? Ich verlange, daß du mir gehorchst!«

»Nein,« entgegnete Ilse zum Entsetzen der anwesenden Pensionärinnen, »ich thue es nicht!«

Fräulein Güssow sah die Widerspenstige traurig und bekümmert an. Nicht Zorn, nur Mitleid empfand sie mit derselben. »Wenn ich dich ändern könnte! Wenn es mir gelänge, dich auf einen andern Weg zu bringen, armes, verblendetes Kind!« dachte sie und beschloß, nichts unversucht zu lassen, um Ilse von ihrem bösen Fehler zu heilen.

Solange sie Vorsteherin des Pensionats war, hatte Fräulein Raimar niemals Aehnliches erlebt. Trotz ihrer stets so maßvollen Ruhe war sie für den Augenblick fassungslos und ungewiß, was mit Ilse geschehen solle.

»Geh auf dein Zimmer,« befahl sie kurz, »und bleibe dort! Das andre wird sich finden.«

Ilse erhob sich und ging hinauf. Nachdem sie in ihrem Zimmer angelangt, brach der furchtbare Sturm, den sie mühsam zurückgehalten hatte, los. Sie warf sich auf einen Stuhl und weinte laut. Stürmisch rief sie nach ihrem Papa, daß er komme und sie holen möge – klagte die Mama an, die sie in diese fürchterliche Anstalt gebracht – kurz fühlte sich verzweifelt und verlassen, wie nie im Leben.

Allerhand Gedanken jagten durch ihren Kopf, der zum Zerspringen brannte, kindisch und unausführbar. Zuerst wollte sie davonlaufen, – wohin war ihr gleich, nur fort, damit sie die böse Vorsteherin, die stets einen Aerger auf sie gehabt, und die abscheulichen Mädchen, die sie verhöhnt hatten, von denen keine sie lieb hatte, nicht wieder sehe – niemals! Kein Mensch mochte sie leiden, nur der Papa. O, wenn sie gleich bei ihm wäre!

Der Gedanke, daß sie zurück müsse nach Moosdorf, behielt die Oberhand. Sie fing an, ihre Sachen aus der Kommode zu räumen und war eben im Begriff, das Mädchen zu beauftragen, ihr den Koffer vom Boden herabzuholen, als Nellie und gleich darauf Fräulein Güssow in das Zimmer traten.

Erstaunt blickte letztere auf die umherliegenden Sachen.

»Nun, Ilse, was soll denn das bedeuten?« fragte sie.

Anstatt zu antworten vergrub Ilse das Gesicht in beiden Händen und schluchzte laut.

Fräulein Güssow ließ sie einige Augenblicke gewähren, dann zog sie ihr leise die Hände vom Gesicht.

»Beruhige dich, Kind,« sprach sie in sanftem Tone, »dann will ich mit dir reden.«

»Ich kann nicht! Ich will fort!« stieß Ilse leidenschaftlich heraus.

»Du mußt dich beherrschen, Herz. Ich glaube gern, daß es dir schwer wird, dein trotziges Ich zu zähmen, aber du mußt es thun, es ist notwendig. Siehst du nicht ein, Ilse, wie unrecht, wie ungezogen du gehandelt hast?«

Diese schüttelte den Kopf. »Sie haben mich alle gereizt,« entgegnete sie abgebrochen schluchzend – »Fräulein Raimar hat mich so furchtbar blamiert – alle haben mich ausgelacht!«

Fräulein Güssow hatte das Gefühl, als sei es besser gewesen, wenn die Vorsteherin ihren berechtigten Tadel in einer andern Weise ausgesprochen hätte, – doch das war nun einmal geschehen und nicht zu ändern.

»Du irrst,« entgegnete sie, »nicht Fräulein Raimar, sondern du selbst hast dich lächerlich gemacht. Denke einmal zurück, wie du dich benommen hast. – Uebrigens,« fuhr sie fort, »du darfst nicht so trostlos sein und dir nicht allzuschwere Gedanken darüber machen. Wenn du morgen verständig bist, ist alles vergessen. Die Mädchen haben dich alle lieb.«

»Nein, nein,« rief Ilse, »mich hat niemand lieb! Ich weiß es wohl! – Ich bin dumm und ungeschickt und ich will fort – zu meinem Papa!«

»Wenn du so sprechen willst, Ilse, dann verlasse ich dich. Du weißt, wie sehr ich dich lieb habe, dergleichen kindische Reden aber will ich nicht von dir anhören. Soll ich gehen? – willst du vernünftig sein?« –

Ilse schwieg und die junge Lehrerin wandte sich der Thür zu. Als sie im Begriffe war dieselbe zu öffnen, eilte Ilse auf sie zu.

»Bitte, bleiben Sie,« bat sie und hielt sie an der Hand fest.

»Von Herzen gern, wenn du mich ruhig anhören willst.«

Sie setzte sich auf einen Stuhl am Fenster und nahm Ilse in den Arm.

»Wie heiß du bist, du böser Trotzkopf,« sagte sie und streichelte ihr liebevoll die erhitzten Wangen. »Nellie, gieb Ilse ein Glas Wasser.«

Die Angeredete hatte stumm und still am andern Fenster gelehnt und der Freundin lautes Schluchzen mit heimlichen Thränen begleitet, jetzt sprang sie hinzu und reichte das Gewünschte.

»Trink einer kühle Schluck, er wird dir ruhig machen,« redete sie herzlich zu. »Du mußt nie wieder sagen, daß wir dir nicht liebten, du böse, böse Ilse! – Nicht mehr weinen darfst du, komm, ich mache deine Gesicht kalt.«

Und sie tauchte einen Schwamm in das Wasser und kühlte damit Ilses brennende Augen und Wangen.

»Nun, mein Kind,« fragte Fräulein Güssow, als Ilse sich etwas beruhigt hatte, »was gedenkst du zu thun?«

»Ich muß heute noch abreisen,« entgegnete sie, »hier bleiben kann ich nicht.«

»Also noch immer möchtest du mit deinem Kopfe die Wand einstoßen. Der Gedanke, daß du nachgeben mußt, daß es an dir ist, um Verzeihung zu bitten, kommt dir gar nicht in den Sinn! Du hast Fräulein Raimar bitter gekränkt, denkst du nicht daran, sie wieder zu versöhnen? Sprich!«

»Nein,« rief Ilse und warf den Kopf zurück, »Fräulein Raimar hat mich beleidigt und furchtbar gekränkt! Ich bitte sie nicht um Verzeihung! Noch niemals habe ich jemand um Verzeihung gebeten – und ich thue es auch jetzt nicht! Nein!«

Das war wieder ein trotziger, böser Ausfall von ihr, dennoch verlor Fräulein Güssow nicht die Geduld, sie blieb ruhig und sanft.

»Du batest niemals um Verzeihung, Ilse? Das wundert mich; aber du hast deinem Papa ein gutes Wort gegeben, wenn du unartig warst und er dir zürnte.«

»Meinem Papa!« wiederholte Ilse und sah höchst erstaunt die junge Lehrerin an. »Niemals hat er mir gezürnt, er war immer, immer gut, ich konnte machen, was ich wollte.«

»So,« sprach Fräulein Güssow und meinte jetzt den Schlüssel zu Ilses Eigensinn in des Vaters zu großer Nachgiebigkeit gefunden zu haben. »Und die Mama, war auch sie stets damit zufrieden, was du thatest, – kränktest du sie niemals? Sage einmal aufrichtig.«

Ilse blickte nachdenklich vor sich hin. Sie konnte nicht leugnen, sie hatte dieselbe oftmals durch ihren Widerstand gekränkt.

»Ich glaube, daß ich es that,« sagte sie zögernd.

»Und dann sagtest du: vergieb mir, liebe Mama, nicht wahr?«

Ilse schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie, »niemals habe ich das gethan. Mama hat es auch gar nicht von mir verlangt, sie weiß, daß ich einmal nicht bitten kann.«

»Ein Kind muß bitten können! Und ein Mädchen vor allem. O Ilse! Auch du mußt es lernen, noch ist es nicht zu spät!« sprach Fräulein Güssow sehr erregt. »O Ilse, wenn doch meine Worte es vermöchten, dich so recht aus deiner Verblendung aufzurütteln! Lerne nachgeben, mein Kind, lerne vor allem dich beherrschen! Thust du es nicht, so nimmt das Leben dich in seine harte Schule und bereitet dir viel Herzeleid und Kummer. Glaube mir, Trotz und Widerstand sind böses Unkraut in einem Mädchenherzen, und oftmals überwuchern sie die besten, heiligsten Gefühle! Geh’ hinunter, Kind, bitte Fräulein Raimar um Vergebung. Ueberwindest du heute deinen harten Sinn, so hast du gewonnen für alle Zeit!«

Sie hatte warm und eindringlich gesprochen, und in ihren braunen Augen standen Thränen. Ilse war auch seltsam ergriffen von ihren Worten, aber Abbitte thun, – das konnte sie trotzdem nicht.

»Ich kann es nicht,« sagte sie zögernd, aber bestimmt.

»Du willst nicht, aber du mußt,« entgegnete Fräulein Güssow im höchsten Grade erregt. »Gott! giebt es denn kein Mittel, daß ich dich von deinem Starrsinn heilen kann!« –

»Komm, setze dich zu mir,« fuhr sie ruhiger fort, »ich will dir eine wahre Geschichte von einem trotzigen, widerspenstigen Mädchenherzen erzählen, das sein Lebensglück einer kindischen Laune opferte, und wenn du dann noch sagen wirst: ›Ich kann nicht,‹ dann gehe hin und folge deinem harten Kopfe, – ich werde nie wieder den Versuch machen, ihn zu beugen ...«

Noch niemals hatte jemand in einem so überzeugenden Tone zu Ilse gesprochen, derselbe verfehlte seine Wirkung nicht. Willig und gehorsam setzte sie sich der jungen Lehrerin gegenüber und sah erwartungsvoll und gespannt auf sie. Der häßliche, trotzige Ausdruck schwand aus ihrem Gesichte und wer sie jetzt sah, würde nicht geglaubt haben, daß diese Ilse und die andre, die sich vor kaum einer Stunde so wild und unbändig betragen, ein und dieselbe sei.

Fräulein Güssow hatte den Kopf auf das Fensterbrett gestützt und blickte gedankenvoll hinaus in den Garten. Ihr blasses Gesicht hatte sich leicht gerötet und um den Mund lag ein schmerzlicher Zug. Es schien fast, als ob ein heftiger Kampf in ihr arbeite, als ob es ihr schwer werde, mit dem ersten Worte zu beginnen. Plötzlich erhob sie sich.

»Es ist hier so drückend und schwül,« sagte sie und öffnete die Fensterflügel.

Ein erquickender Luftzug strömte ihr entgegen, ein Gewitter war im Anzuge. Sausend fuhr der Wind durch die Wipfel der Bäume, in der Ferne grollte der Donner.

»Wie das wohl thut,« fuhr sie mit einem tiefen Atemzuge fort, »die Hitze lag mir schwer wie Blei auf der Brust. – Wie alt bist du, Ilse?« unterbrach sie sich plötzlich wie in halber Zerstreuung.

»Im nächsten Monat werde ich sechzehn Jahre.«

»Sechzehn Jahre!« wiederholte die Lehrerin, »dann bist du alt und auch verständig genug, denke ich, die traurige Geschichte meiner Jugendfreundin zu begreifen. Hör’ zu.

»Es war einmal ein junges, fröhliches Menschenkind, das mit seinen sechzehn Jahren die Welt zu erstürmen meinte. Vater und Mutter waren ihm früh gestorben und so kam es, daß die kleine Waise zu der Großmutter gegeben wurde, die sie erzog und von Grund auf verzog. Lucie, so wollen wir das Mädchen nennen, hatte nie gelernt zu gehorchen oder sich zu fügen, sie erkannte nur einen Willen an, und das war der eigene. Das war sehr schlimm für sie, denn bei manchen guten Eigenschaften des Herzens besaß Lucie einen häßlichen Fehler, den Trotz.

»Anstatt denselben durch unerbittliche Strenge schon in der Kindheit zu zügeln, pflegte ihn die Großmama durch allzugroße Nachsicht.

»›Warum soll ich dem Kinde nicht seinen Willen thun?‹ fragte sie, wenn man sie zuweilen auf ihre Schwäche aufmerksam machte, ›ist es nicht schlimm genug, daß es keine Eltern hat? Ich kann es nun einmal nicht traurig sehen.‹«

»War Lucie hübsch?« fragte Nellie, die sich hinter Ilses Stuhl gestellt und den Arm um deren Schulter gelegt hatte.

»Ich glaube wohl,« entgegnete die Angeredete und errötete leicht, »wenigstens hat man es dem erwachsenen Mädchen oftmals gesagt. Doch das ist Nebensache – hört mich weiter an.

»Die Großmutter besaß ein herrliches Landhaus, dessen Park sich an einen bewaldeten Bergesabhang lehnte. Man durfte nur eine kleine Pforte, die sich am Ausgange des Grundstückes befand, durchschreiten und befand sich im schönsten Walde, den ihr euch denken könnt.

»Selten kamen Spaziergänger aus dem nahen Städtchen dorthin, desto öfter benutzte Lucie die kleine Ausgangspforte, durchstreifte den Wald bis an die Spitze des Berges, oder was sie noch häufiger that, sie lagerte sich an irgend einem versteckten Platze. So im weichen, schwellenden Moose zu liegen, ein gutes Buch zu lesen und darüber die Welt zu vergessen, – das war die höchste Wonne ihres Lebens.

»Eines Tages hatte sie wieder ihren Lieblingsplatz am Fuße einer Eiche aufgesucht. Die Luft war heiß und schwül und doppelt wohlthuend empfand sie die Waldeskühle. Sie streckte die schlaffen Glieder im Moose aus und blickte hinauf in das grüne Blätterdach. Nicht lange, dann öffnete sie das mitgebrachte Buch und las. So vertieft war sie bald in den Inhalt desselben, daß sie der Gegenwart ganz entrückt war. –

»Eine männliche Stimme schreckte sie plötzlich auf. Aergerlich über die Störung blickte sie auf und sah in das lächelnde Antlitz eines jungen Mannes, der mit Pinsel und Palette in der Hand vor ihr stand.

»›Ein wunderbares Bild!‹ rief er aus. ›Wahrlich, ich hätte Lust, dasselbe zu malen! Bleiben Sie in der Stellung,‹ bat er, als Lucie sich schnell erheben wollte, ›nur wenige Augenblicke! Aber so böse dürfen Sie nicht aussehen, – nein, ich bitte, wieder derselbe Zug von Spannung um den Mund, – dasselbe erwartungsvolle Lächeln – bitte!‹

»›Was fällt Ihnen ein?‹ rief Lucie aufgebracht und erhob sich mit einem Sprunge. Dabei fiel ihr das Buch aus der Hand.

»Er kam ihr zuvor, als sie sich schnell darnach bücken wollte; doch ehe er es ihr überreichte, las er das Titelblatt.

»›Werthers Leiden‹, bemerkte er und lachte lustig. ›Dacht’ ich es doch! Natürlich verbotene Lektüre, die in der Waldeinsamkeit verschlungen wird! Oder hat der Herr Papa vielleicht Ihnen diese gefährliche Geschichte erlaubt?‹

»Lucie entriß ihm das Buch, aber sie wurde über und über rot.

»›Ich verbitte mir Ihre Bemerkungen!‹ entgegnete sie zornig. ›Wer hat Ihnen erlaubt, mich zu beobachten?‹

»›Ich nahm mir selbst die Freiheit,‹ sagte er sich verbeugend, ›und bitte dafür um Verzeihung. Ein Zufall brachte mich in Ihre Nähe, dort jene Buchengruppe war ich im Begriffe zu malen, – da erblickte ich Sie, und können Sie mir verdenken, daß ich dem Zauber nicht widerstehen konnte, Sie zu betrachten?‹

»Sie gab keine Antwort, ja sie grüßte nicht einmal, als sie eilig davon ging. Sie empfand Unwillen und Aerger über den Aufdringlichen und doch – gefiel er ihr.« –

»War er ein schön Mann?« fragte Nellie.

»Ja, er war schön und klug und gut. Von den letzteren Eigenschaften konnte Lucie sich bald überzeugen, denn der Maler machte unter irgend einem Vorwande einen Besuch in der Großmutter Hause.

»Wie bald er der Liebling derselben, wie er nach und nach täglicher Gast bei ihr wurde und wie er endlich der trotzigen Lucie Herz gewann, das kann ich euch nicht erzählen, nur so viel, daß sie eines Tages seine Braut war.

»Es war ihm nicht leicht geworden, ihr Jawort zu erringen, denn wenn er heute glaubte, daß sie ihn gern möge, war er morgen vom Gegenteil überzeugt. Wenn er im Begriffe war, sie zu fragen: hast du mich lieb? reizte sie ihn gerade durch Trotz und Widerstand, und das Wort erstarb ihm auf den Lippen.

»Endlich trug er den Sieg davon. An ihrem achtzehnten Geburtstage war es, als sie mit ihm vor die Großmama trat und jubelnd ausrief:

»›Ich bin Braut!‹

»Nun, glaubt ihr, Lucie ist eine andre geworden? Das Glück und die Liebe haben sie nachsichtiger gestimmt, nicht wahr, ihr glaubt, das könne nicht anders sein? – Wie seid ihr im Irrtum! Das Gegenteil war der Fall. Ihr Widerstand trat gegen den Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, oftmals heftiger hervor, als je vorher.

»Welche Mühe gab er sich, sie von diesem Fehler zu heilen, wie eindringlich und liebevoll stellte er ihr die Folgen desselben vor; sie hörte ihn an und versprach sich zu bessern, – aber ihr Wort hielt sie nicht, – – leider! – Hätte sie es gethan, wie viel Kummer und Herzeleid hätte sie sich erspart!«

Einen Augenblick hielt die junge Lehrerin inne, ein scharfer Beobachter hätte ihr ansehen können, wie schwer es ihr wurde, die Geschichte weiter zu erzählen, – die jungen Mädchen indessen merkten nichts davon. Sie glaubten, die Heftigkeit des Gewitters habe die Pause hervorgerufen.

»O bitte, fahren Sie fort,« bat Nellie, deren Augen vor Entzücken glänzten; niemals bis jetzt hatte das Fräulein ähnliches erzählt, »bitte, weiter! O, ich bin zu gierig, weiter zu wissen!«

Ilse saß still und sinnend da. Was sie da hörte, berührte eine verwandte Saite in ihr, oftmals hatte sie das Gefühl, als ob das junge Mädchen nicht Lucie, sondern Ilse geheißen habe. –

»Lucies Brautzeit neigte sich zu Ende,« fuhr Fräulein Güssow fort, »in vier Wochen sollte die Hochzeit sein. An dem Morgen eines herrlichen Maitages saß das Brautpaar auf der Veranda vor dem Hause und träumte sich in die Zukunft hinein. Es wurde eine Reise nach der Schweiz und Italien geplant, – den ganzen Sommer wollten sie umherschweifen, und wo es ihnen am schönsten gefiel, dort wollten sie für den Winter ihr Nest bauen.

»Der Himmel wölbte sich hoch und blau über ihnen, die Frühlingssonne lachte sie freundlich an, – ringsum blühte, duftete und zwitscherte es, kein Mißton störte das wunderbare Lenzesleben.

»Lucie machte Pläne und malte sich aus, wie sie leben und wie sie sich einrichten wollten. Sie hing am Aeußeren und hatte eine lebhafte Phantasie, da war es denn am Ende ganz natürlich, daß ihre Wünsche und Hoffnungen bis an den Himmel reichten.

»Er hatte ihrem Geplauder lächelnd gelauscht, ohne sie zu unterbrechen. Da gab ihm ein unglücklicher Zufall die Frage ein: ›Wie würdest du es ertragen, Lucie, wenn wir uns ganz einfach einrichten müßten, wenn wir nicht reisen könnten – wenn wir wenig Mittel hätten, – mit einem Worte, wenn die Not an uns herantreten würde?‹

»›Die Not?‹ fragte sie erstaunt und sah ihn beinahe entsetzt an. ›Das wäre furchtbar!‹

»›Du giebst mir keine Antwort auf meine Frage, liebes Herz. Ich meine, ob deine Liebe zu mir so stark sein würde, daß du ohne Klage auch ein armseliges Los mit mir teilen würdest?‹ –

»Es verdroß sie, daß Curt, so hieß der Maler, durch unnütze Fragen einen Mißklang in ihre frohe Stimmung brachte.

»›Laß doch den Unsinn!‹ wehrte sie ab, ›wir werden nie in solche Lage kommen. Ich bin reich und deine Bilder werden hoch bezahlt.‹

»›Man kann nicht wissen, was in den Sternen für uns geschrieben steht,‹ entgegnete er ernst. ›Du könntest zum Beispiel dein Vermögen verlieren, – und ich – nun wenn ich krank würde und nicht malen könnte?‹

»›Warum quälst du mich mit allerhand dummen Möglichkeiten, Curt,‹ sagte sie ungeduldig. ›Ich antworte dir nicht auf solche Fragen.‹ Und sie wandte sich halb von ihm ab.

»›Du sprichst jetzt gegen deine bessere Ueberzeugung, du kleine Widerspenstige,‹ sagte er halb ernst, halb scherzhaft. ›Ich weiß, du wirst mir ganz bestimmt meine Gewissensfrage beantworten, ich weiß auch, meine Lucie würde den Mut haben, ein sorgenvolles Leben mit mir zu teilen, wie sie meine Gefährtin in Glück und Wohlstand werden wollte. Nicht wahr? Du siehst ein, Liebling, daß ich von meiner zukünftigen Frau das verlangen kann?‹

»›Das sehe ich nicht ein!‹ rief Lucie sehr entrüstet und entzog ihm ihre Hand, die er liebevoll ergriffen hatte. ›Armselige Verhältnisse würden mich unglücklich machen – ja, unglücklich machen!‹ wiederholte sie, als er sie zweifelnd ansah, ›lieber würde ich gar nicht heiraten!‹

»Er wurde blaß bei ihren Worten, aber noch wollte er nicht an den Ernst derselben glauben. ›Hast du mich lieb, Lucie?‹ fragte er sie.

»›Ja, aber in einer Hütte bei Salz und Brot mag ich nicht mit dir wohnen!‹

»›Kein ›Aber‹, Lucie. Hast du mich lieb? Sage ja und nimm zurück, was du gesagt hast.‹

»›Nein!‹ rief sie entschieden und sprang von ihrem Platze auf. ›Nichts nehme ich zurück! Was ich gesagt habe, ist meine wahre Meinung!‹

»›Lucie!‹ rief er erregt, ›besinne dich! Es ist nicht wahr, du denkst nicht wie du sprichst! Dein Widerspruch gab dir die Worte ein ....! Nimm sie zurück, Herz!‹ und flehend blickte er ihr in das Auge.

»›Du irrst,‹ entgegnete sie mit scheinbarer Kälte, ›nicht aus Widerspruch, sondern mit voller Ueberzeugung sagte ich dir meine Ansicht.‹

»›Nein, nein! Ich kann’s, ich will’s nicht glauben! – Komm her, sieh’ mich an. Deine Augen sollen mir die Antwort geben, ich weiß, daß sie nicht lügen können. – Du liebst mich? Ja? Nicht wahr, du hast mich lieb?‹ wiederholte er noch einmal dringend – ›und du nimmst zurück, was du gesagt?‹

»Unglücklicherweise hatte die Großmama auf der entgegengesetzten Seite der Veranda gesessen und war so eine stumme Zeugin dieser Scene geworden. Aengstlich erhob sie sich und trat dem jungen Paare näher.

»›Sie dürfen Lucie nicht so übel nehmen, was sie sagt, lieber Curt,‹ sprach sie beruhigend, ›es kommt ihr nicht vom Herzen, glauben Sie mir.‹

»Die alte Frau hatte es gut gemeint, aber sie stiftete Unheil an. Hätte sie sich nicht in den Streit gemischt, vielleicht war es besser. Ihre gütigen Worte stachelten Lucies Trotz noch mehr an.

»›Es kommt mir wohl aus dem Herzen!‹ rief dieselbe aufgebracht, ›und ich wiederhole noch einmal: Lieber heirate ich gar nicht, als daß ich Not und Mangel leide!‹« –

»O, wie hart ist sie!« warf Nellie ein, als Fräulein Güssow wie erschöpft einen Augenblick innehielt.

»Sie war nicht hart, nur verblendet,« fuhr diese fort. »Niemals hatte sie gelernt, sich einem andern Willen zu beugen, niemals war sie im stande gewesen nachzugeben. Jetzt, wo das ernste Verlangen ihres Verlobten in aller Entschiedenheit an sie herantrat, ihren Widerstand zu zähmen, da bäumte derselbe sich dagegen auf und sie unterlag seiner Macht.

»›Ist das dein letztes Wort, – Lucie!‹ – Wie ein Schrecken kam es über seine Lippen. Sie blieb ungerührt, wandte sich von ihm und eilte aus dem Zimmer.

»Besorgt folgte ihr die Großmama, aber sie klopfte vergeblich an der verschlossenen Thüre, dieselbe wurde nicht geöffnet. –

»Lucie befand sich in keiner beneidenswerten Stimmung. Es kochte und tobte in ihr und verworrene Gedanken durchzuckten ihr Hirn. War es recht, wie sie gehandelt hatte? ›Ja,‹ antwortete sie sich darauf, ›ich bin im Rechte. Warum schreckt er mich mit den Gespenstern Sorge und Not, warum peinigt er mich damit? Ich will in eine glückliche Zukunft sehen und er will mir das Herz schwer machen mit Unmöglichkeiten. Und welch eine wichtige Sache er daraus macht? – Ich soll zurücknehmen, was ich gesagt habe! Solch ein Verlangen! Abbitte soll ich thun – Abbitte! Und er hat mich doch erst herausgefordert. Er ist an allem schuld.‹

»Aus einem Winkel ihres Herzens meldete sich auch eine Stimme, die ihr zurief: ›Gieb nach! Reich’ ihm die Hand, oder du hast ihn verloren!‹ Sie wurde nicht beachtet, und als eine Stunde vergangen war, hatte sie sich so völlig in den Gedanken an ihre Schuldlosigkeit eingelebt, daß sie erwartete, Curt müsse kommen und sie um Verzeihung bitten.

»Er kam auch und begehrte Einlaß. ›Oeffne mir, Lucie,‹ rief er stürmisch, ›es hängt unser Glück davon ab! Ich muß dich sprechen! – Ich will dich sprechen!‹

»Das klang wie ein Befehl, sie schwieg und gab keine Antwort. Wohl klopfte ein guter Engel an ihr Herz und rief ihr warnend zu: ›Erhöre ihn und es wird alles gut‹ – sie war taub gegen seine Stimme. Ein böser Geist hielt sie für den Augenblick gefangen und trauernd floh ihr guter Engel von dannen.

»›Ich will nicht mit dir reden!‹ rief sie zurück, ›ich wüßte auch nicht, was du mir noch sagen könntest!‹

»›So treibst du mich fort von dir, Lucie!‹ – rief er außer sich. ›Bedenke was du thust! Ich gehe und nicht eher kehre ich zu dir zurück, bis du mich zurückrufst: Lebe wohl!‹ – –

»Es waren die letzten Worte, die sie von ihm gehört hat.

»Nach einer in Aufregung durchwachten Nacht brach der nächste Tag an. Der trotzige Aufruhr in Lucies Innern hatte sich gelegt und einer unzufriedenen Stimmung Raum gemacht. Nachzugeben fühlte sie sich auch heute nicht geneigt, aber sie wollte ihn heute anhören, wenn er kam, – und daß er kommen werde, darauf hoffte sie fest.

»Aber sie hoffte vergebens. Die Großmama überhäufte ihre Enkelin mit bitteren Vorwürfen und forderte sie unter Thränen auf, sie möge nachgeben.

»›Wird es dir denn so schwer,‹ sagte sie, ›dem Manne, dem du in vier Wochen die Hand für das Leben geben willst, ein bittendes Wort zu sagen? Ueberwinde dich, Lucie, nimm deine bösen Worte zurück, oder es giebt ein Unglück.‹

»›Ich kann nicht, Großmama. Ich müßte ja abbitten, so verlangt er, und du weißt, ich that es nie! Er kehrt auch ohne meinen Ruf zurück, du wirst es sehen.‹

»Aber auch der nächste Tag verging und er blieb aus. Lucie befand sich in einer fieberhaften Aufregung und schrak zusammen, sobald sich die Thür öffnete. – Am dritten Tage, – es war gegen Abend, sie hatte wieder vergeblich ihn erwartet, da brachte Curts Diener ihr einen Brief. Sie eilte auf ihr Zimmer, um ihn allein und ungestört zu lesen – es war doch endlich – endlich ein Zeichen von ihm!

»Hastig öffnet sie und in zwei Teile gebrochen fiel ihr Curts Verlobungsring entgegen. Wenige Zeilen nur schrieb er dazu. – Ich will versuchen euch dieselben zu wiederholen,« unterbrach sich Fräulein Güssow, »Lucie hat sie mir oftmals zu lesen gegeben.

 

»Du hast mich nicht zurückgerufen, – – so sehnsüchtig ich auch darauf gehofft habe. Liebtest Du mich, wie ich Dich, wäre es Dir nicht schwer geworden, ein versöhnendes Wort zu sagen. Lebe wohl denn, ich muß von Dir scheiden, Lucie, weil ich Dir nicht versprechen kann, Dir stets Wohlstand und Glück zu bieten. – – Mit welchem Rechte könnte ich vom Schicksal verlangen, daß mein Leben nur von der Sonne beschienen werde? Leb’ wohl, – ich habe Dich sehr geliebt.« –

 

»Wie gebrochen sank sie zur Erde nieder und hätte vor Schmerz vergehen mögen. Das hatte sie nicht gedacht, – so weit hatte sie es nicht treiben wollen. – Nun war es zu spät, alle Reue, alle Selbstanklage, brachten ihr den Geliebten nicht zurück.

»Die Großmama fand Lucie in einem verzweiflungsvollen Zustande, und heimlich, ohne ihr Wissen, schickte sie einen Boten in Curts Wohnung. Er kehrte zurück mit der Meldung: der Herr sei seit zwei Stunden abgereist. – Sie hatte ihn auf ewig verloren!« –

»O, die arm’ Lucie! Der schlechter Mensch, warum konnt’ er ihr verlassen!« rief Nellie unter Weinen. »Er hat ihr gar nix lieb gehabt.«

»Er hat sie sehr geliebt,« entgegnete die Lehrerin und sah hinaus auf den strömenden Regen; »aber er war ein ganzer Mann, der Lucies trotzigen Widerstand nicht länger ertragen konnte.«

»Und wo ist Lucie geblieben?«

»Lucie?« wiederholte Fräulein Güssow zögernd, – »ein trauriges Geschick hat sie getroffen. Ein Jahr nach dem Geschehenen verlor die Großmutter fast ihr ganzes Vermögen. Die Villa mußte verkauft werden und Lucie, das verwöhnte und verzogene Mädchen, war gezwungen, für die Zukunft ihr eignes Brot zu verdienen.«

Ilse sah entsetzt die Lehrerin an. »Ja, ihr Brot zu verdienen,« betonte dieselbe. »Das erschreckt dich, nicht wahr? Aber es wurde ihr nicht so schwer, als sie einstmals geglaubt. Seit jenem Tage, da sie das Schwerste erfahren, war eine Aenderung in ihrem Wesen vorgegangen. Still und ernst ging sie einher und ihr übermütiges Lachen war verschwunden. – Sie bereitete sich vor, Gouvernante zu werden, und als sie ihr Examen bestanden hatte, ging sie, nachdem sie die Großmama durch den Tod verloren, nach London. Sie wirkt dort als Lehrerin in einem Institute.«

»Und der Maler? Hat die arm’ Lucie nie gehört davon?«

»Seine Werke hat sie oft in den Galerien bewundert – er selbst blieb verschollen.«

»Oh wie ein furchtbar trauriges Geschicht’ ist das!« rief Nellie. »Es thut mich sehr weh.«

Und Ilse? Sie saß da, die Hände gefaltet, mit gesenktem Blick. Sie war bis in das Innerste getroffen. Wie Lucie hätte auch sie gehandelt, auch sie würde es bis zum Aeußersten getrieben, auch sie würde ihr Lebensglück im trotzigen Uebermute geopfert haben. – Noch schwankte sie einen Augenblick, wie im Kampf mit sich selber, dann aber erhob sie sich schnell und ergriff Fräulein Güssows Hand.

»Ich will um Verzeihung bitten,« sagte sie in leisem Tone, es war, als ob sie sich scheue, ihre eigenen Worte zu hören.

Ueber der Lehrerin Gesicht glitt ein Freudenschimmer. Sie nahm die Reuige in den Arm und küßte sie zärtlich.

»Geh’ – geh’,« sagte sie gerührt, »und wenn je ein böser Geist wieder über dich kommen will, denk’ an Lucies traurige Geschichte.«

Zögernd und beklommen stieg Ilse die Treppe hinunter. Vor der Vorsteherin Zimmer blieb sie stehen. Sie konnte sich nicht entschließen, die Thür zu öffnen. Zweimal hatte sie schon die Hand nach dem Drücker ausgestreckt und wieder zurückgezogen. Es war so furchtbar schwer, die erste Abbitte zu thun. Ob sie umkehre?

Einen Augenblick war sie es willens, ja, schon machte sie eine leichte Wendung zurück, da hörte sie Fräulein Güssow die Treppe herabkommen.

Sollte dieselbe sie unverrichteter Sache hier finden? Sie hätte sich vor ihr schämen müssen. Mit einem tiefen Atemzuge öffnete sie die Thür.

Die Vorsteherin saß an ihrem Schreibtische; als sie Ilse eintreten sah, erhob sie sich.

Ilses Herz klopfte zum Zerspringen. Als sie das strenge, zürnende Auge Fräulein Raimars auf sich gerichtet sah, entsank ihr der Mut. Sie versuchte zu sprechen, aber es war ihr unmöglich, ein Wort hervorzubringen, die Kehle erschien ihr wie zugeschnürt. Es war eine Folterqual, die sie ausstand, und wenn jetzt der Boden unter ihren Füßen sich plötzlich geöffnet und sie hätte verschwinden lassen, sie würde es für eine Wohlthat des Himmels angesehen haben. Aber diese Wohlthat blieb aus, und Ilse stand noch immer wortlos vor der Vorsteherin.

Schon regte sich wieder der alte Trotz, der ihr eingab, es ruhig darauf ankommen zu lassen und sich nicht zu beugen – da war es, als ob Lucie sie traurig anblicke, als ob sie ihr mahnend zurief: »Nicht zurück! Geh’ mutig vorwärts!«

»Nun Ilse?« unterbrach Fräulein Raimar das minutenlange Schweigen. »Was ist dein Begehr?«

Ilse machte eine vergebliche Anstrengung zu sprechen und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Abgebrochen und unverständlich kam es von ihren Lippen: »Ver–zeih–ung!«

Fräulein Raimar war sehr aufgebracht über Ilses Betragen gewesen und sie hatte die Absicht gehabt, ihr eine derbe Lektion dafür zu geben, als sie indes dieselbe so zerknirscht und reuevoll vor sich stehen sah, wurde sie milder gestimmt.

»Für diesmal,« sagte sie, »will ich dir vergeben, ich sehe, daß du dich selbst mit Vorwürfen strafst, und daß du zur vollen Erkenntnis deines Ungehorsams gekommen bist. Bessre dich! Beträgst du dich ein zweites Mal in ähnlicher Weise, würde ich die strengsten Maßregeln ergreifen, das heißt: ich würde dich zu deinen Eltern zurückschicken! – Ich hoffe, du vergißt dich niemals wieder, versprich mir das!«

Beinah hätte sie sich sofort gegen dieses Versprechen aufgelehnt und geantwortet: »Schicken lasse ich mich nicht! Dann gehe ich lieber gleich zu meinen Eltern,« – da war es wieder Lucies warnendes Beispiel, das diese böse Antwort von ihren Lippen scheuchte.

Zögernd und noch immer schluchzend ergriff sie des Fräuleins Hand. »Nie – wieder!« stammelte sie.

Und Fräulein Raimar war von der Wahrheit ihres Versprechens überzeugt und hatte beinah Mitleid mit der Reumütigen. »Nun geh’ und beruhige dich,« sagte sie in mildem Tone, »und sehe ich, daß du dich besserst, wird der heutige Tag von mir vergessen sein. –«

Als Ilse die Treppe zu ihrem Zimmer wieder hinaufstieg, fühlte sie sich leicht wie nie im Leben, es war ihr so frei und froh in der Brust, niemals hatte sie eine ähnliche Empfindung gekannt. Es war das Bewußtsein, sich selbst überwunden zu haben. –

Der Juli und August waren vorüber und man befand sich in den ersten Tagen des September. Ilse hatte sich mehr und mehr in das Pensionsleben eingelebt und fühlte sich längst keine Fremde mehr. An vieles, das ihr anfangs unmöglich erschien, hatte sie sich gewöhnt, ja gewöhnen müssen. Wie hätte sie auch vermocht, sich gegen das einmal Bestehende aufzulehnen! Das frühe Aufstehen, das regelmäßige Arbeiten, die Ordnung und Pünktlichkeit, die streng innegehalten wurden, – schwer genug hatte sie sich in all diese Dinge gefunden, und wer weiß, ob sie es überhaupt je gethan hätte, wenn Nellie nicht wie ein guter Geist ihr stets zur Seite gestanden hätte. Mit ihrer fröhlichen Laune half sie der Freundin über manche Schwierigkeit hinweg und oft verstand sie es, durch ein Wort, ja durch einen Blick dieselbe zu zügeln, wenn sich die alte Heftigkeit melden wollte.

Eine heftige Szene hatte sie übrigens nicht wieder herbeigeführt. Fräulein Güssows Erzählung war auf fruchtbaren Boden gefallen und hatte ihren trotzigen Sinn etwas nachgiebiger gemacht.

Ueber ihre Fortschritte und Fähigkeiten herrschte unter ihren Lehrern und Lehrerinnen eine sehr verschiedene Ansicht, wie dieses in der letzten Konferenz recht deutlich zu Tage trat. Der Rechenlehrer und der Lehrer der Naturgeschichte behaupteten, daß Ilse ohne jede Begabung sei, daß sie weder Gedächtnis, noch Lust am Lernen besitze. Andre waren vom Gegenteile überzeugt. Fräulein Güssow, die in der Litteratur und Doktor Althoff, der Deutsch, Geschichte und in der französischen Litteratur unterrichtete, waren in jeder Beziehung mit Ilses Kenntnissen und ihren Fortschritten zufrieden. Professor Schneider lobte ganz besonders ihren Fleiß und ihre Ausdauer, die sie bei ihm entwickle, und erklärte mit aller Entschiedenheit, wenn Ilse so fortfahre, würde sie es mit ihrem Talente weit bringen, sie habe in den acht Wochen, in denen sie seine Schülerin sei, so große Fortschritte im Zeichnen gemacht, wie nie eine andre zuvor.

Ueber dieses Lob geriet Monsieur Michael in Entzücken. Ja er vergaß sich in seiner lebhaften Freude so weit, daß er ausrief; »Bravo, Monsieur Schneider! So spreche auch ich, sie ist eine hochbegabte, eine entzückende, junge Mademoiselle.«

Fräulein Raimar lächelte über diese Ekstase und erkundigte sich nach Ilses Betragen.

Da kam denn leider manches bedenkliche Kopfschütteln an den Tag. Besonders wurde von einigen sehr gerügt, daß sie bei dem geringsten Tadel eine trotzige Miene mache, daß sie sogar mehrmals gewagt habe, zu widersprechen.

»Leider, leider ist dem so,« bestätigte die Vorsteherin, »und ich habe nicht den Mut, zu glauben, daß wir sie ändern können. Ich fürchte sogar, daß ihr zügelloser Sinn uns eines Tages eine ähnliche Szene, wie die bereits erlebte, machen wird, und was geschieht dann?«

»Dann geben wir sie den Eltern zurück,« fiel Miß Lead lebhaft ein. »Ich glaube, daß es dahin kommen wird. Ilse ist nicht nur verzogen, sie ist – wie soll ich sagen – sehr bäurisch, sehr brutal, sie paßt nicht in unsre Pension.«

Doktor Althoff warf der Engländerin einen etwas ironisch lächelnden Blick zu, als wollte er sagen: Du freilich mit deinen übertriebenen, strengen Formen hast kein Verständnis für das junge, frische Wesen mit seinem natürlichen Sinn – »Ich glaube, Sie irren, meine Damen,« wandte er ein, »in unsrer kleinen Ilse steckt ein tüchtiger Kern. Lassen Sie nur erst die etwas rauhe Schale sich von demselben abgestoßen haben und Sie werden sehen, in welch ein liebenswürdiges, natürliches, echt weibliches Wesen sich die bäurische, ›brutale Ilse‹,« er betonte die letzten Worte etwas stark, »verwandeln wird. Von der Natur ist sie dazu beanlagt, glauben Sie mir. Man muß nur nicht von der kurzen Zeit, die sie bei uns verweilt, gar zu viel verlangen.«

Miß Lead zuckte die Achseln und machte eine abweisende Miene. Fräulein Güssow dagegen sah Doktor Althoff dankbar an.

»Das sage ich mit Ihnen, Herr Doktor!« stimmte sie bei. »Wir müssen Geduld haben mit unsrem wilden Vogel, der bis jetzt nur die Freiheit kannte. Fehler, die durch jahrelange, allzunachsichtige Erziehung in dem Kinde groß gezogen wurden, können unmöglich in wenigen Wochen vollständig abgestreift sein. Mir scheint, daß wir schon viel erreicht haben, wenn wir daran denken, wie wenig Arbeitstrieb Ilse mit in die Pension brachte und wie sie jetzt gewissenhaft und sogar in manchen Fächern ihre Aufgaben sehr trefflich anfertigt.«

Fräulein Güssows Behauptung war vollständig berechtigt. Ilse war weit strebsamer geworden, das gute Beispiel der übrigen Mädchen spornte sie mächtig an.

Anfangs war es ihr gleichgültig gewesen, ob man sie in die erste oder zweite Klasse brachte, als sie indes die Bemerkung machte, daß alle ihre Mitschülerinnen jünger waren, als sie, da erwachte der Ehrgeiz und zugleich ein Eifer in ihr, der sie antrieb, das Versäumte nachzuholen, zu lernen und zu arbeiten, damit sie bald in die erste Klasse komme.

Ihre Aufsätze besserten sich mit jedem Mal, auch nahm sie sich sehr zusammen, keine orthographischen Schnitzer mehr zu machen. Sie hatte allen Respekt vor Doktor Althoff, der stets mit einem leichten Spott dergleichen Fehler zu rügen wußte.

Ihr letzter Aufsatz war der beste in der Klasse gewesen. »Ein Spaziergang durch den Wald« hieß das gegebene Thema und sie hatte ihre Aufgabe in anmutiger und lebendiger Weise gelöst. Sie wurde dafür gelobt, und Doktor Althoff las ihren Aufsatz der Klasse vor, was stets als eine besondere Auszeichnung galt. Mitten im Lesen unterbrach er sich lachend.

»Da ist Ihnen ein ganz abscheulicher Irrtum passiert, Ilse,« sagte er, »denn ich kann mir kaum denken, daß Sie wirklich dachten, was Sie hier niederschreiben.«

Und er trat zu ihr und zeigte ihr die verhängnisvolle Stelle, die also lautete:

»Ich war eine gans, tüchtige Strecke allein gegangen.« – Sie errötete, nahm schnell eine Feder und machte aus dem s ein z.

»Ein andres Mal sehen Sie sich besser vor, solche Verwechselungen können höchst komisch wirken. Auch mit den Kommas, Punkten u. s. w., rate ich Ihnen weniger verschwenderisch umzugehen, oder haben Sie die Absicht, es wie jene junge Dame zu machen, die, sobald sie eine Seite zu Ende geschrieben hatte, ganz willkürlich die Zeichen hineinsetzte. Etwa zehn Kommas, sieben Ausrufungszeichen, fünf Fragezeichen und neun Punkte, wie sie gerade Lust hatte, manchmal mehr, manchmal weniger. Das gab dann zuweilen einen tollen Sinn, Sie können es sich denken.«

Die Mädchen lachten und Ilse mit. Ohne jede Empfindlichkeit nahm sie eine Rüge von diesem Lehrer auf, der es verstand, stets die richtige Art und Weise zu treffen. Mit liebenswürdigem Humor, in welchen er einen ernsten Tadel oftmals kleidete, richtete er weit mehr aus, wie mancher andre, der in der Aufregung sich zu zornigen Worten hinreißen ließ.

Aber wie schwärmten auch seine Schülerinnen für ihn! In jeder Mädchenschule giebt es gewiß einen Lehrer, der zum allgemeinen Liebling erkoren wird, in dem Institute des Fräulein Raimar hatte Doktor Althoff das Los getroffen.

»Er ist furchtbar reizend!« beteuerte Melanie und schlug den Blick schwärmerisch gen Himmel. »Das bezaubernde Lächeln um seinen Mund, das blitzende, geistvolle Auge, das schmale, vornehme Gesicht, das dunkle, lockige Haar! Wirklich furchtbar nett!« Die neugierige Grete hatte sogar entdeckt, daß Schwester Melanie in einem Medaillon, welches sie an der Uhr befestigt trug, ein Stückchen Papier mit seinem Namen geborgen hatte. Es war eine Unterschrift von seiner Hand, die sie unter einem früheren Aufsatze fortgeschnitten hatte.

Flora Hopfstange besang den Gegenstand ihrer Verehrung in den überschwenglichsten Gedichten, auch war er der Held ihrer sämtlichen Novellen und Romane. Wie zufällig verlor sie zuweilen eines ihrer schwärmerischen Gedichte, natürlich nur in der Litteraturstunde, indessen vergeblich. Doktor Althoff hatte noch niemals eine ihrer kostbaren Dichterblüten gefunden.

Selbst Orla teilte diese allgemeine Schwäche, trotzdem sie dieselbe stets verspottete. Längst aber hatte sie sich verraten und das ging so zu. Doktor Althoff trug eine Nelke in der Hand, als er die Klasse betrat und ließ dieselbe auf dem Katheder liegen. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als fast sämtliche Schülerinnen, wie die Stoßvögel auf die rote Blume zustürzten, um sie für sich zu gewinnen. Orla eroberte sie glücklich. Hoch hielt sie ihre Siegestrophäe in die Luft und eilte damit auf ihr Zimmer. Vom Juwelier ließ sie sich dann ein goldenes Medaillon anfertigen mit einer russischen Inschrift darauf. Grete hatte das bald genug herausgewittert, aber leider stand sie vor einem unlösbaren Rätsel, denn Orla würde ihr nimmermehr vertraut haben, daß die beiden Worte ins Deutsche übertragen hießen: »Vom Angebeteten.« – In diese kostbare, goldene Hülle legte sie die Nelke und trug sie immer.

Nellie machte es am ärgsten. Eines Abends, als sie mit Ilse allein auf ihrem Zimmer war, nahm sie ein Federmesser und ritzte damit den Anfangsbuchstaben seines Vornamens in ihren Oberarm. Mit spartanischem Mute ertrug sie lächelnd diese schmerzhafte Operation.

»Aber Nellie, wie albern bist du!« rief Ilse. »Warum machst du denn den Unsinn? Wenn Herr Doktor Althoff all’ eure Dummheiten erfährt, müßt ihr euch doch schämen.«

»Schweig!« gebot Nellie scherzhaft, »du bist noch ein klein’ grüner Schnabel. Du verstehst nix von heimliche Anbetung. Komm erst in der Jahre und lerne ihr begreifen. Dein Herz lauft noch in der Kinderschuhe.«

Ilse wollte sich totlachen. Ihr gesunder, urwüchsiger Sinn verstand und begriff dergleichen krankhafte Dinge nicht. »Ach Nellie!« rief sie fröhlich, »du sprichst so weise, wie eine alte Großmama, und bist doch nur zwei Jahr älter als ich.«

Nellie war aber keineswegs wie eine Großmama, oft sogar konnte sie recht kindlich denken und handeln, wenn es darauf ankam, irgend etwas für ihren Schnabel zu gewinnen.

Eines Sonntags, es war gegen Abend, stand sie am offnen Fenster in ihrem Zimmer und blickte sehnsüchtig auf den Apfelbaum, dessen Früchte goldgelb und rotwangig, höchst verlockend zwischen dem dunklen Laube hindurch lachten.

»Die schöne Aepfel!« rief sie aus, »o, hatte ich doch gleich einer davon! Er ist reif, Ilse, ich weiß, ich kenne dieser Baum genau. Ich habe jetzt so groß’ Lust, Apfel zu speisen, und darf ihn doch nur ansehen! Sehen – und nicht essen – es ist hart!«

Ilse, die nach Nellies Muster und Angabe einen grauen Wäschbeutel mit roten Arabesken benähte, legte die Arbeit beiseite und trat zu der Freundin.

»Ja, die sind reif,« sagte sie und betrachtete mit Kennermiene die Aepfel, »wir haben dieselbe Sorte daheim, das sind Augustäpfel. Wenn ich doch gleich in Moosdorf wäre, dann stieg’ ich in den Baum und holte welche herunter, aber hier – – ach!«

Nellie horchte auf und blickte Ilse an, die mit wehmütigem Verlangen hinauf in den Baum sah. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

»Du bist in der Baum gestiegen?« fragte sie. »O, Ilse, ich habe ein’ furchtbar nette Idee! – Du steigst in der Baum und holst uns von der Apfel!«

Die letzten Worte sprach sie flüsternd, damit ja kein unberechtigtes Ohr etwas erlauschte.

Ilses braune Augen leuchteten auf. »Wie gern würde ich das thun! Aber ich darf ja nicht! Denk’ nur, Nellie, wenn Fräulein Raimar oder irgend jemand anderes mich sehen würde!«

»Laß mir nur machen,« meinte Nellie und machte ein höchst listiges Gesicht. »Heut’ abend, wenn Fräulein Raimar und alles andre auf seines Ohr liegt, dann erheben wir uns wieder von unsrem Lager und die mutige Ilse wird wie eine Katz’ leise aus die Fenster steigen und in der Baum klettern. Der lieber Mond steckt sein’ Latern’ dazu an und leuchtet sie, daß sie die besten und großesten Apfel finden kann. Und ich geb’ acht, daß nix kommt, – ich werde eine gute Spion sein.«

Ilse strahlte vor Wonne. Der Gedanke war auch zu verlockend, als daß sie noch länger Bedenken tragen sollte.

»Das ist zu himmlisch!« rief sie so laut, daß Nellie ihr die Finger auf den Mund legte. »Ich ziehe meine Blouse und den blauen Rock dazu an und steige hinauf in das grüne Blätterdach. Es ist himmlisch, Nellie!«

Und sie ergriff die Freundin am Arme und tanzte mit ihr durch das Zimmer.

»O, du bist einer Engel! du kluge Ilse! Wenn wir nur erst Nacht hätten!«

Ilse stand schon wieder am Fenster und warf prüfende Blicke in den Baum. »Siehst du, auf diesen Zweig steige ich zuerst,« sagte sie ganz erregt, »und dann auf den dort, – es hängen drei herrliche Aepfel daran, – die pflücke ich zuerst und werfe sie dir zu, – dann geht es höher hinauf bis an Melanies und Orlas Stubenfenster, – sie lassen es immer offen stehen des Nachts – dann stecke ich den Kopf hinein und rufe: Gute Nacht!«

»Ilse!« rief Nellie entsetzt, »du darfst der Unsinn nicht thun! Gieb dein’ Hand darauf!«

»Es war nur Scherz,« entgegnete Ilse. »Sei ohne Sorge, Nellie, ich werde ganz artig und still sein, niemand soll von unsrem entzückenden Abenteuer erfahren!« –

Die Zeit verging den beiden Mädchen wie mit Schneckenpost. Ilse, die sich wenig verstellen konnte, war während des Abendessens ganz besonders lustig und aufgeregt.

»Du siehst so unternehmend und fröhlich aus,« bemerkte Fräulein Güssow, »hast du eine gute Nachricht aus der Heimat erhalten?«

Ilse wurde rot und fühlte sich wie ertappt. Ein Glück für sie, daß die Lehrerin ganz arglos die Bemerkung machte und gar nicht weiter auf sie achtete, vielleicht wäre ihr doch die verräterische Röte aufgefallen.

Endlich, endlich, war alles still im Hause. Die Runde durch sämtliche Schlafgemächer war gemacht, und Fräulein Güssow war bereits in ihr Zimmer zurückgekehrt.

Nellie saß in ihrem Bett und lauschte. Sie hatte unten die Thür sich schließen hören, wartete noch eine kleine Weile, dann erhob sie sich und glitt wie ein Geist durch das Zimmer und lehnte sich weit zum Fenster hinaus.

»Was machst du?« fragte Ilse.

»Ich will sehen, ob Fräulein Güssow noch Licht in sein’ Schlafstube hat –« flüsterte sie. »Noch ist hell unten, – immer noch – –«

»Soll ich aufstehen?« fragte Ilse.

»Nein, du sollst dir ganz ruhig halten und nicht so laut sprechen. Sie hat noch immer hell. Wie langweilig! Was sie nur anfangt! Warum geht sie nicht in ihr Bett und macht die Auge zu.«

Sie beugte sich weit zum Fenster hinaus und sah unverwandt auf die seitwärts liegenden, noch immer erleuchteten Fenster. Im Flüstertone rief sie Ilse ihre Bemerkungen zu. Plötzlich fuhr sie schnell mit dem Kopfe zurück und legte den Finger auf den Mund.

»Sei ganz still, Ilse, rühr’ dir nicht,« sagte sie dann, sich auf den Zehen zu derselben heranschleichend, »sie hat eben der Kopf zum Fenster ausgesteckt und sieht in der Mond. Beinah’ hat sie mir erblickt.«

Nach einem kleinen Weilchen hörte sie das Fenster schließen und als Nellie vorsichtig hinunter blickte, war das Licht gelöscht.

»Jetzt ist die große Augenblick gekommen,« wandte sie sich in pathetischem Tone an Ilse und streckte die Hand aus, »erheben Sie sich, mein Fräulein, und gehen Sie an das großes Werk!«

Ilse war so aufgeregt durch den Gedanken an das nächtliche Abenteuer, daß sie gar nicht bemerkte, wie urkomisch Nellie aussah, als sie in ihrem langen Nachtgewande, den Arm weit ausgestreckt, so vor ihr stand.

Eilig erhob sie sich und begann sich anzukleiden. Das war bald geschehen, da das Blousenkleid, und was sie sonst noch nötig hatte, schon bereit lag.

Gegen die Stiefel erhob Nellie Einsprache. »Sie sind zu unschicklich, zu plump, du machst eine so laute Schritt, daß alles aufwacht.«

Ilse hörte nicht darauf. Sie hatte dieselben bereits angezogen und schlich auf den Zehen zum Fenster hin.

»Gieb mir das Körbchen,« bat sie. Nellie hing ihr ein solches um den Hals, damit sie den Arm frei behalte.

»So, nun bist du reisefertig, mach’ deine Sach’ brav, mein Kind,« sagte sie und küßte Ilse auf die Wange.

Die hörte nichts. Mit leichtem Sprunge schwang sie sich auf das Fensterbrett und von dort stieg sie in den Baum.

Aengstlich blickte ihr Nellie nach. Aber sie hatte nicht Ursache, besorgt zu sein. Ilse kletterte leicht und gewandt wie ein Eichkätzchen trotz ihrer schweren Stiefel. Als sie die drei bewußten Aepfel erreichen konnte, brach sie dieselben und warf sie Nellie zu.

»Da hast du eine Probe!« rief sie übermütig in halblautem Tone, »damit dir die Zeit nicht lang werde, bis ich wiederkomme!«

Die Früchte kollerten bis an das Ende des Zimmers zu Nellies Entsetzen.

»O, was thust du!« flüsterte sie und erhob drohend die Finger. »Die Köchin schläft unter dieser Zimmer, soll sie von der Spektakel aufwachen?«

»Bärbchen schläft fest, ich höre sie draußen schnarchen,« gab Ilse zurück. – »Wir können ganz ohne Sorge sein – alles schläft – alles ist still und dunkel. – Nun lebe wohl, Nellie, jetzt trete ich meine Reise an. Ach, es ist köstlich hier!«

Plötzlich bekam es Nellie mit der Angst. »Ich zittre für dir,« sprach sie mit bebenden Lippen, – »komm wieder her, – es könnte ein Unglück sein.«

Ilse lachte in sich hinein und stieg keck höher und höher. Sie war so recht in ihrem Elemente und frei wie der Vogel in der Luft regte sie ihre Schwingen.

Bald hatte sie die Spitze erreicht. Der Mond schien voll und klar und zeigte ihr jeden Schritt, den sie zu machen hatte. Als sie in gleicher Höhe mit dem Schlafgemache Orlas und der Schwestern war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick in das Fenster zu thun. Vorsichtig und behende balancierte sie auf dem Ast, der sie trug und dessen grüne Spitzen beinahe das eine Fenster berührten, und sah hinein.

Ruhig, nichts ahnend lagen die Schläferinnen da, hell vom Mondlicht beschienen.

Einen Augenblick regte sich der Uebermut in ihr. Ob sie den Mädchen einen Schabernak spielte? »Nur einmal gegen die Fensterscheibe klopfen,« dachte sie, und schon streckte sie den Finger aus dazu, – da bewegte sich Orla im Schlafe. Unwillkürlich fuhr Ilse zurück und ihre tolle Idee blieb unausgeführt.

Es hingen so viel schöne Aepfel rechts und links und überall, mit kleiner Mühe hätte sie in wenigen Augenblicken ihr Körbchen damit füllen können, aber dazu hatte sie keine Lust, immer höher hinauf strebte ihr Verlangen, sie hatte nun einmal die Freiheit gekostet, so schnell wollte sie dieselbe nicht wieder aufgeben. Die Krone des Baumes war ihr Ziel, wohl eine beschwerliche Fahrt, aber sie schreckte nicht davor zurück.

Wie ein Bube erklomm sie die manchmal schwer zu erreichenden Zweige, – ein einziger Fehltritt und sie lag unten mit zerbrochenen Gliedern, – dieser Gedanke kam ihr nicht in den Sinn, sie hatte daheim ganz andre tollkühne Kletterpartien ausgeführt und jede Furcht vor Gefahr verlernt.

Mutig ging es vorwärts. Die lauschende Nellie vernahm dann und wann ein Knacken der Aeste, oder das Herabfallen eines Apfels. Einmal schrak sie heftig zusammen, ein Vogel flog auf. Ilse mochte ihn in seiner Nachtruhe gestört haben. – Es wurde ihr recht ängstlich auf ihrem Lauscherposten, eine Ewigkeit dünkte es ihr, daß Ilse sie verlassen hatte.

»Ilse!« rief sie leise. Keine Antwort erfolgte. Wie war es auch möglich, daß ihr Ruf zu derselben emporgetragen wurde, die oben in der Krone stand und die erfrischende Nachtluft mit vollen Zügen einsog.

Wie fühlte sie sich glückselig, wie frei, wie heimatlich wurde es ihr zu Mute! Keine Fesseln drückten sie mehr, Schulzwang, Pension, Vorsteherin – alles entschwand ihr wie in nebelweite Ferne – der Garten da unten gehörte dem Papa, der Baum, auf dem sie war, stand vor seinem Fenster, es war der alte Nußbaum, in dessen grünem Laubwerk sie so manchmal neckend Versteck gespielt hatte mit dem Papa, wenn er sie überall suchte, von dessen oberster Spitze sie dann plötzlich mit einem schlichen »Juchhe!« ihm antwortete.

»Juchhe!« Ganz in Erinnerung versunken, brach es plötzlich laut und kräftig aus ihrer Kehle hervor, daß es weithin durch den Garten schallte.

Im selben Augenblicke erwachte sie aus ihrem Traume und ganz erschrocken fuhr sie mit der Hand nach dem Mund. Was hatte sie gethan! Aber die Reue kam jetzt zu spät, vor allem mußte sie an den schnellsten Rückzug denken, denn wie sie vermutete, so war es, ihr unvorsichtiger Ruf war im Hause vernommen worden.

Melanie war davon erwacht und richtete sich entsetzt in ihrem Bette auf.

»Grete!« rief sie mit bebenden Lippen, »hast du gehört?«

»Ja,« tönte es gedämpft zurück. »Melanie, ich fürchte mich tot!« Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und erwartete mit zitternder Angst ihr Schicksal.

Auch Orla war erwacht. »Was war das?« fragte sie, »wo kam der laute Schrei her? Mir war es, als ob er dicht vor meinem Bette ausgestoßen wurde.«

»Allmächtiger Gott!« schrie Melanie auf, »siehst du nichts? O, ich habe etwas furchtbar Schreckliches gesehen! Eben dort! – dicht am Fenster flog es vorüber! Ein Gespenst war es, mit fliegenden Haaren und großen, glühenden Augen! Hu, wie es mich ansah, als ob es mich verschlingen wollte! O, Orla – ein Gespenst – ein Gespenst!«

Sie klapperte mit den Zähnen vor Furcht und Schrecken, und Orla, die nichts gesehen hatte, sondern nur ein lautes Brechen und Knacken im Baume vernommen, sprang mutig aus ihrem Bette, schlug ihre Steppdecke über die Schultern und sah zum Fenster hinaus.

Grade hatte Ilse ihre tolle Fahrt beendet. In rasender Hast und Angst hatte sie dieselbe von der Höhe des Baumes bis zu ihrem Zimmerfenster gemacht, und Nellie, sie erwartend, streckte ihr beide Arme, soweit sie konnte, hilfreich entgegen. Sie war leichenblaß und außer sich über Ilses Tollkühnheit.

»Was hast du gemacht?« flüsterte sie, »du hast uns verraten! – hast du gehört? Ueber uns sind sie aufgeweckt! – Orla spricht ... Wir sind verloren!«

Eilig nahm sie der am ganzen Körper zitternden Ilse, deren Hände blutig geritzt waren, das Körbchen ab, warf die wenigen Aepfel, die nicht herausgefallen waren, in ihr Bett, das Körbchen hinter den Schrank, und legte sich nieder, alles in der größten Hast.

Ilse hatte ein gleiches gethan. Ohne sich zu entkleiden, mit Stiefel und Blousenkleid, sprang sie in ihr Bett und deckte sich bis an das Kinn zu. Sie schloß die Augen und erwartete in Todesangst das furchtbare Strafgericht, das ihrer wartete. –

Bei dem trügerischen Lichte des Mondes konnte Orla nicht erkennen, was eigentlich vorging. Sie sah wohl eine Gestalt – sah ein Paar weiße Arme, die ihr fabelhaft lang erschienen, aber nur einen flüchtigen Moment, dann war die ganze Erscheinung lautlos und still wie im Nebel verschwunden.

Sie lauschte noch einige Augenblicke atemlos, aber der Spuk war vorbei – nichts rührte sich. Trotz ihres Mutes wurde es ihr unheimlich zu Mute. Sie zog den Kopf zurück.

»Nun?« fragte Melanie, »sahst du etwas?«

»Ja,« entgegnete Orla, »deutlich habe ich eine Gestalt gesehen, und ich könnte darauf schwören, daß sie von zwei langen, weißen Armen in Nellies Zimmer gezogen wurde.«

»Liebe, liebe Orla!« bat Melanie kläglich und mit gerungenen Händen, »wecke die Leute! Wenn das Gespenst noch einmal erscheint, sterbe ich vor Angst!«

Orla ergriff die Klingelschnur, die sich dicht neben ihrem Bette befand, und läutete. In jedem Zimmer war eine solche angebracht, für den Fall, daß ein plötzliches Unwohlsein eine Pensionärin des Nachts befiel. Sämtliche Schnüre führten zu einer Hauptglocke, die unten, dicht neben Fräulein Raimars Schlafzimmer angebracht war.

Laut und schrill, wie eine Sturmglocke, tönte ihr Klang, der noch niemals die Ruhe gestört, durch die Stille der Nacht. Nellie und Ilse erzitterten, als ob sie ihr Sterbeglöcklein hörten.

Wie mit einem Zauberschlage wurde es lebendig im Hause. Die Fenster, die eben noch dunkel und wie träumend in den Garten geblickt hatten, erhellten sich. Thüren wurden geöffnet, Stimmen laut.

Die Vorsteherin, im tiefen Negligee, ein Licht in der Hand, trat zuerst aus ihrem Zimmer. Fast gleichzeitig erschien Fräulein Güssow. Als beide den Korridor passierten, schoß Miß Lead aus ihrer Zimmerthür, ängstlich fragend blickte sie die Damen an.

Sie war nicht gerade eine Heldin, die gute Miß, der Glockenschall war ihr in alle Glieder gefahren. Zitternd war sie aus dem Bette gesprungen und hatte nach ihren Kleidungsstücken gesucht. Im Dunkeln tappte sie vergeblich darnach. Sie hatte Licht anzünden wollen, aber die Schachtel mit Streichhölzern war ihr in der Aufregung entfallen. In nervöser Hast ergriff sie einen schottischen Plaid und drapierte sich denselben wie einen Mantel um ihre Gestalt. Ihr spärliches Haar, das sie jeden Abend eine gute Viertelstunde kämmte und bürstete, hing gelöst auf ihre Schulter herab.

Sie machte einen höchst komischen Eindruck in diesem abenteuerlichen Kostüme und die Vorsteherin gab ihr den ernstlichen Rat, sie möge sich wieder niederlegen, aber Miß Lead wehrte dieses Ansinnen lebhaft ab.

»Nein, nein!« Und sie hing sich an Fräulein Güssows Arm so fest, als ob sie bei ihr Schutz und Beistand suche.

Auch mehrere Pensionärinnen waren von dem ungewohnten Lärm erwacht und aufgestanden. Angstvoll stürzten sie aus ihren Zimmern und folgten den Lehrerinnen dicht auf dem Fuße, Flora hatte sogar einen Rockzipfel der Vorsteherin erfaßt.

Orla hörte Stimmen auf der Treppe und öffnete die Thür.

»Ist dir oder den Schwestern etwas passiert?« fragte Fräulein Raimar schnell in das Zimmer tretend.

Statt Orla antwortete Melanie: »Etwas furchtbar Schreckliches haben wir erlebt!« rief sie. »Ein Gespenst, ein furchtbares Gespenst haben wir gesehen!«

»Du hast geträumt,« sagte die Vorsteherin, »es giebt keine Gespenster!«

»Ich sah es mit offenen Augen, Fräulein!« entgegnete Melanie mit voller Ueberzeugung. »Erst erwachten wir alle drei von einem furchtbar lauten Schrei, nicht wahr, Orla! gleich darauf sauste das Gespenst hier ganz dicht am Fenster vorbei.«

»Es war vielleicht ein Spitzbube, der sich Aepfel holen wollte,« beruhigte die Vorsteherin. »Hast du auch etwas gesehen, Orla?«

»Ja,« sagte sie. »Ich sah zum Fenster hinaus und da schien es mir, als ob etwas in Nellies Zimmer verschwand –«

Die Pensionärinnen, sogar Miß Lead, drängten sich im dichten Knäuel ängstlich um Fräulein Raimar. Gespenster – Spitzbuben! das war ja um sich tot zu fürchten. So schauerliche Dinge hatte man noch niemals in der Pension erlebt. Flora zitterte zwar vor Furcht und Erregung, trotzdem fand sie dieses Erlebnis höchst romantisch. Sie nahm sich vor, in ihrem nächsten Romane dasselbe zu verwerten.

Fräulein Güssow hatte kaum vernommen, daß der Spuk in Nellies Zimmer verschwunden sein solle, als sie still die Treppe hinunterstieg und sich zu den beiden Mädchen begab. Sie öffnete die Thür und leuchtete in das Zimmer. Ihr Blick glitt prüfend durch dasselbe, es war nichts Verdächtiges zu sehen. Die Fenster waren geschlossen und Ilse schien fest zu schlafen.

Nellie hatte sich im Bett erhoben und that ganz erstaunt beim Anblick der Lehrerin.

»O, was giebt es?« fragte sie. »Warum ist der Glocke gezogen? Ich habe mir so erschreckt.«

»Es soll hier jemand in das Fenster bei euch gestiegen sein,« antwortete Fräulein Raimar, die mit den übrigen Fräulein Güssow gefolgt war.

Nellie stockte der Atem vor Angst. Was sollte sie beginnen? Die Wahrheit gestehen? Unmöglich! Es wäre zugleich Ilses und ihre Entlassung aus der Pension gewesen. Und lügen? Sie wäre nicht dazu im stande gewesen. Entsetzt blickte sie die Vorsteherin an und gab keine Antwort.

Dieselbe deutete Nellies stummes Entsetzen anders und sah es für eine Folge des plötzlichen Schreckens an.

»Nun, nun,« beruhigte sie, »du darfst dicht nicht weiter ängstigen. Orla und die Schwestern wollen durchaus einen lauten Schrei gehört haben und Orla behauptet fest, es sei ein Gespenst vor ihrem Fenster vorbeigeflogen und hier in eurem Zimmer verschwunden.«

»O, eine Gespenst! Wie furchtbar!« wiederholten Nellies zitternde Lippen und ihr blasses Gesicht – die Angst, die sich in ihren Zügen malte, erweckten Mitleid in Fräulein Raimars Herzen.

»Beruhige dich nur,« sagte sie, »die Mädchen werden geträumt haben. Das ganze Haus haben sie in Aufruhr gebracht. – Ich denke, wir legen uns wieder nieder,« wandte sie sich zu Fräulein Güssow, »es ist das beste Mittel, die aufgeregten Gemüter zur Ruhe zu bringen.«

Schon im Herausgehen begriffen, fiel ihr die schlafende Ilse ein. Sie trat an das Bett derselben und beugte sich leicht darüber. »Ist denn Ilse gar nicht erwacht von dem Spektakel?« fragte sie erstaunt.

Mit Todesangst verfolgte Nellie jede Bewegung der Vorsteherin. Wenn sie sich ein wenig zur Seite wandte, wenn ihr Blick das Fußende des Bettes streifte – dann waren sie verloren. Unter dem Deckbette – o Entsetzen! sah eine Spitze von Ilses fürchterlichem Stiefel vor.

»Sie hat immer ein so fester Schlaf,« brachte Nellie mühsam hervor und plötzlich – im Augenblicke der höchsten Not kehrte ihre Geistesgegenwart zurück.

»Bitte, bitte, Fräulein Güssow,« sagte sie und erhob flehend die Hände, »sehen Sie unter meines Bett, ob keine Gespenst daliegt.«

Sofort lenkte sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf Nellie und die Angeredete nahm wirklich das Licht und leuchtete unter das Bett. Fräulein Raimar schüttelte unwillig den Kopf.

»Sei nicht kindisch, Nellie,« verwies sie dieselbe, »du wirst in deinem Alter doch wahrlich nicht mehr an Spukgeschichten glauben!«

Und Miß Lead, die bis dahin mit den Pensionärinnen vor der äußeren Thür gestanden, trat zu ihrer Landsmännin und schalt sie wegen ihrer Furchtsamkeit.

Kaum hatte Nellie die sonderbar Gekleidete erblickt, als sie in ein lautes Gelächter ausbrach. »O, Miß Lead!« rief sie aus. »Sie haben die Aussicht wie eine Räuberhauptmann! Seien Sie nicht böse, aber ich muß lachen!« Und die übrigen Mädchen stimmten fröhlich ein in das Gelächter, sie hatten bis jetzt nicht auf die englische Lehrerin geachtet.

Miß Lead wurde hochrot vor Aerger, und die Vorsteherin gab Nellie einen ernsten Verweis über ihr unartiges Benehmen. Es wurde darüber die Gespenstergeschichte vergessen und Ilse nicht weiter beachtet. Oder doch?

Fräulein Güssow entfernte sich, mit dem Lichte in der Hand, sehr schnell aus der Thür – hatte sie vielleicht die unselige Stiefelspitze entdeckt?

»Wir wollen Ilses Ruhe nicht stören,« sagte sie, »warum soll die Aermste auch noch ermuntert werden?«

»Sie haben recht, wir wollen sie nicht stören. Aber sie hat einen wunderbar festen Schlaf. Nun geht zur Ruhe, Kinder. Melanies Gespenst war sicherlich nichts weiter, als eine Katze, die sich im Baume einen Vogel gefangen hat. Ihr könnt ganz ohne Sorge sein, zum zweitenmal wird es nicht wiederkehren.«

Damit hatte der nächtliche Spuk sein Ende erreicht. In kurzer Zeit lag alles wieder im tiefen Schlafe. Melanie hatte die Lampe brennen lassen, um keinen Preis würde sie im Dunklen geblieben sein.

Als Nellie sich vollkommen überzeugt hatte, daß alles wieder still im Hause war, da kehrte mit dem Gefühle der Sicherheit auch ihre frohe Laune wieder. Sie suchte die Aepfel unter der Bettdecke hervor und fing an, gemütlich zu essen, als ob nichts vorgefallen wäre.

»Was machst du denn?« fragte Ilse, als sie das knirschende Geräusch hörte. Sie hatte bis jetzt noch nicht gewagt, sich zu rühren, und lag wie im Schweiße gebadet da.

»Ich speise Aepfel,« entgegnete Nellie sorglos.

»Aber, Nellie, wie kannst du das nur!« rief Ilse ganz entrüstet. »Ich zittre noch an allen Gliedern, mein Herz schlägt wie ein Hammer – und du kannst essen! Wirf die Aepfel fort – sie gehören ja gar nicht uns. Ach, Nellie, ich ärgere mich über meinen dummen Streich!«

»O was!« sagte Nellie ruhig weiter essend, »man muß thun, als ob man zu Haus ist! Gräm’ dir nicht mit unnütze Gedanke, zieh’ dir lieber aus und pack’ deine Sache fort in deine Koffer. Du kannst ruhig schlafen, mein Darling, morgen weiß kein’ Seel’ von unser lustiges Abenteuer und du wirst sehr klug sein, liebe Ilschen, und schweigen.«

Ilse ging heute nicht auf Nellies scherzenden Ton ein; der Gedanke, die Vorsteherin hintergangen zu haben, drückte sie schwer. Schweigend entkleidete sie sich und verschloß ihre Sachen sorgfältig in den Koffer. Dann legte sie sich nieder.

Der Schlaf aber wollte nicht kommen. Nellies regelmäßige Atemzüge verrieten längst, daß dieselbe sanft und süß eingeschlummert war, als sie noch immer wachend im Bette lag. Der Gedanke, wie nahe sie daran gewesen war, entdeckt zu werden, schreckte sie immer von neuem auf. Sobald sie im Begriffe war, einzuschlafen, fuhr sie angstvoll in die Höhe. Endlich schlief sie ein, aber selbst im Traum quälten sie die schrecklichsten Bilder. Bald wurde sie verfolgt, bald fiel sie vom Baume und zuletzt hatte sie sich in einen Vogel verwandelt und eine große Eule wollte sie fressen. –

Früh am andern Morgen, als Fräulein Raimar ihren Spaziergang durch den Garten machte, blieb sie vor dem Apfelbaume stehen. Sie schüttelte den Kopf und rief den Gärtner.

»Es müssen Diebe in diesem Baume gewesen sein, Lange,« sagte sie, »sehen Sie nur das viele Laub und sogar einige abgebrochene Zweige darunter. Da liegen auch mehrere Aepfel, die sie verloren haben mögen. Machen Sie doch, solange das Obst noch nicht abgenommen ist, öfters des Nachts eine Runde durch den Garten.«

»Es ist mir ein Rätsel, wie sie hereingekommen sind,« bemerkte der Gärtner kopfschüttelnd, »die Gartenpforte war fest verschlossen. Sie müssen geradezu über die Mauer geklettert sein.«

»Wohl möglich,« stimmte Fräulein Raimar ihm bei, und im Weitergehen dachte sie, daß Melanie doch im Rechte gewesen sei. Freilich ein Gespenst hatte sie nicht gesehen, wohl aber einen Spitzbuben.

Oben, am offnen Fenster, standen die beiden Mädchen und hatten jedes Wort vernommen. Ilse war es heiß und kalt dabei geworden und sie hatte sich wie eine arme Sünderin ertappt und beschämt gefühlt. Nellie dagegen lachte so recht vergnügt in sich hinein und nahm alles wie einen köstlichen Scherz hin.

»Das ist eine spaßige Sach’,« sagte sie übermütig, »ich kann mir totlachen! Wenn sie wüßte, daß die böse Spitzbuben mit sie unter eine Dach wohnen. – Wie würde sie sich staunen!«

Ilse hielt ihr den Mund zu. »Du darfst nicht darüber lachen, Nellie,« gebot sie entschieden, »ich schäme mich so sehr! Spitzbuben hat uns Fräulein Raimar genannt, und das sind wir auch. Ich hatte gar nicht daran gedacht, und das war recht dumm von mir.«

»Wer wird so strenge richten, kleine Weisheit,« tröstete Nellie. »Was man in der Mund steckt, ist kein Diebstahl, merken Sie sich das! Fräulein Raimar bekommt auch so große Kostgeld, da bezahlen wir die paar lumpige Apfel alle mit. – Komm, gieb mir ein Kuß und sieh nicht so trübe aus, du klein Spitzbube!«

Mit Nellie war schwer streiten. Sie widerlegte so harmlos und sah so schelmisch dabei aus, daß Ilse, wenn sie auch nicht überzeugt wurde, sich wenigstens nicht mehr so hart anklagte. Aber auf einem bestand sie. Nellie mußte ihr die Hand darauf geben, daß niemals wieder ein ähnlicher Streich von ihnen ausgeführt werden solle. – –

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